Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Maximum an Sonne

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05.08.2020. Die SZ fragt am Beispiel von Jon Rafman, welche Strafe im Kunstbetrieb auf aggressives Mackertum steht. In der taz erinnert sich der Verleger Benno Käsmayer, wie er in den Siebzigern literarische Konterbande nach Deutschland brachte. In der Berliner Zeitung erzählt Matthias Lilienthal, wie er erfolgreich die Münchner Kammerspiele versaute. Die FAZ erlebt mit Jon Stewart, wie das amerikanische Kino und ein demokratischer Wahlkampfmanager nach dem suchten, was das Land noch zusammenbringen könnte. Gegen Pandemien setzt Domus auf architektonische Antikörper.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.08.2020 finden Sie hier

Film



In dieser Woche läuft Jon Stewarts Politsatire "Irresistible" an, in dem ein demokratischer Wahlkampfmanager ins provinzielle Deerlaken reist, um dort einen Bürgermeisterkandidaten aufzubauen, der das Land einigt. In der FAZ erkennt Bert Rebhandl, dass das Kino mittlerweile genauso nach einer das Land einigenden Formel sucht wie Washingtons Politstrategen: "Allerdings sind in Deerlaken, das sich mit seinem 'Hofbrauhaus' und anderen Vergnügungen einen deutlich bajuwarischen Migrationshintergrund bewahrt hat, die Nuancen heutiger Identitätsdefinitionen unbekannt. Sie werden importiert, durch eine Elite, der nichts mehr selbstverständlich ist, sondern die alles auf komplexe Kürzel herunterbricht und die das größere Ganze nicht mehr in den Blick bekommt. 'Irresistible' wird so zu einem spannenden Symptombild aus einer Unterhaltungsindustrie, die nach einer gemeinsamen Basis mit einem Publikum sucht, das sie auch auf ihrem eigenen Feld längst verloren hat. Jon Stewart zielt auf eine Geschichte, die sowohl das Publikum von Fox News erreichen könnte, wie dabei auch die urbanen Schichten nicht verliert, die an die radikale Intelligenz gewöhnt sind, mit der gerade die Komödienformate in Amerika von Politik sprechen."

Weiteres: Auf ZeitOnline zeigt sich Felix Grassmann zuversichtlich, das schöne Hamburger Kino Abaton durch die Krise zu bringen. Stefan Trinks ist in der FAZ entsetzt, dass die polnische Regionalregierung von Niederschlesien dem Filmteam von Tom Cruise erlauben will, "eines der schönsten Brückenmonumente" des Landes zu sprengen, die 1906 errichtete Bobertalbrücke: "Mit ihrer ebenso spektakulären wie landschaftsbildprägenden "Fischbauch"-Konstruktion scheint sie wie ein stahlglänzender fliegender Fisch schwerelos über die Talsperre zu gleiten."

Besprochen werden Manele Labidis Komödie "Auf der Couch in Tunis" (Berliner Zeitung), das Roadmovie "Unhinged - Außer Kontrolle" mit Russell Crowe als übergewichtigem Brutalo (Standard) und eine Filmdokumentation über die amerikanische Primaballerina Wendy Whelan, die wie so viele Tänzer und Tänzerinnen mit Mitte vierzig ihren Beruf aufgeben musste (FAZ).
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Literatur

Jens Uthoff gratuliert in der taz dem von Benno Käsmayr und Franz Bermeitinger gegründeten Kleinverlag Maro zum Fünfzigsten und unterhält sich mit dem immer noch sehr aktiven Verleger Käsmayr: "In den Siebzigern gehört Maro neben Melzer, März und Kiepenheuer & Witsch zu den Verlagen, die den US-Underground in Deutschland fördern. Autorinnen und Autoren wie Anne Waldman, Al Masarik, Jack Kerouac, John Fante und La Loca veröffentlichen in den Folgejahren bei Maro. Dem Bukowski-Übersetzer Carl Weissner kommt dabei eine Mittlerrolle zu, erzählt Benno: 'Carl hat mir dieses Zeug immer gegeben, zum Beispiel Harold Norse oder Jack Micheline. Ein paar Sachen haben wir aber auch selbst entdeckt. Ich hatte amerikanische Underground- und Literaturzeitschriften abonniert. Das war früher ein bisschen schwierig, damals musste man noch Dollars in Scheinen in die USA schicken und bekam dann Wochen später die Hefte.'"

Besprochen werden Sandra Gugićs Roman "Zorn und Stille" (NZZ), Birk Meinhardts Band "Wie ich meine Zeitung verlor (tsp), Raul Zeliks "Wir Untoten des Kapitals" (tsp), Albrecht Dümlings Geschichte des Musikverlags Schott im "Dritten Reich" (tsp), ein von Hanneliese Palm und Christoph Steker zusammengestellte Band über "Künstler, Kunden, Vagabunden" (taz) und Markus Gabriels Band "Fiktionen" (SZ). Mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr.
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Kunst

Dem kanadischen Künstler Jon Rafman haben mehrere jungen Frauen Instagram unter dem Hashtag @surviving_the_art_world emotionalen Missbrauch und aggresives Verhalten vorgeworfen. Museen haben bereits Ausstellung abgesagt oder verschoben. In der SZ bezweifelt Till Briegleb, dass die Anschuldigungen der jungen Frauen, die über Tinder oder Facebook Kontakt zu dem Starkünstler aufgenommen haben, dies rechtfertigen: "Man trifft sich, betrinkt sich, und hat dann Sex, den die drei Frauen rückblickend als 'aggressiv' bezeichnen. Was sie dort sehr detailliert beschreiben, ist kein Kompliment für Jon Rafmans Liebhaberqualitäten und von mackerhafter Manier, die als verstörend bis übergriffig empfunden werden kann. Das Abstoßende und Degradierende dieser Sex-Dates wird niemand in Zweifel ziehen, der diese Erinnerungen liest. Aber diese Begegnungen waren trotzdem einvernehmlich, und sie fanden nach dem ersten Erlebnis noch einige weitere Male statt." Dass die Ausstellung verschoben wird, um eine Diskussion zu ermöglichen (was sich wegen Corona noch hinziehen kann), findet er aber dennoch korrekt.

Weiteres: Der Guardian meldet, dass die Tate Britain die Wandverzierung ihre Restaurants überdenken möchte. Noch ziert ein Wandgemälde von Rex Whistler das Nobellokal, auf dem in einer afrikanischen Landschaft ein Junge gejagt wird. Titel: "The Expedition in Pursuit of Rare Meats". Besprochen wird eine Ausstellung der Künstlerin Caro Stark in der Berliner Galerie Mutare (Tsp).

Besprochen werden drei Ausstellungen in Hannover - zum Preis des Kunstvereins Hannover im Kunstverein, Jean-Luc Mylaynes "Herbst im Paradies" und Katinka Bocks "Rauschen" in der Kestnergesellschaft (taz).
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Musik

Georg Rudiger unterhält sich für die nmz mit der Dirigentin Joana Mallwitz, die in Salzburg Mozarts "Cosi fan tutte" in der neuen Inszenierung von Christof Loy dirigieren wird. "Sie ist die erste Frau, die in der 100-jährigen Geschichte der Salzburger Festspiele eine neue Opernproduktion dirigiert. Das ist für viele ein Thema - für sie selbst aber nicht. 'Ich bin immer mal wieder überrascht, wo man überall die erste Frau sein kann. Das ist auch nichts, worauf man stolz ist. Für mein Geschlecht kann ich ja nichts', bemerkt sie trocken."

Weiteres: René Scheu unterhält sich für die NZZ mit dem Jazzer Klaus Doldinger.
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Bühne

Im Interview mit Ulrich Seidler verarbeitet Intendant Matthias Lilienthal in der Berliner Zeitung seine offenbar für alle Seiten etwas traumatisierende Zeit an den Münchner Kammerspielen, wo er Berliner Stil und Vorstellungen vom freien Theater einführen wollte. "Die Kammerspiele sind das Lieblingswohnzimmer des Schwabinger Bürgertums, geprägt durch Dieter-Dorn-Theater der 80er- und 90er-Jahre. Fast vergessen ist, dass Fritz Kortner - mit dem ich mich nicht vergleichen möchte - in den 60er-Jahren auf ähnliche Ablehnung bei Publikum, Presse und Politik stieß. Die Kammerspiele haben dadurch, dass sich in den 20er- und Ende der 40-Jahre viele dahin flüchteten, eine große intellektuelle Tradition. Außerdem ist es von den architektonischen Voraussetzungen her ein gutes Theater, um Dinge auszuprobieren. Allein dadurch, dass der große Saal nur 600 Sitze hat und sehr intim wirkt. Die Kammerspiele sind sozusagen ein Haus, das man nicht versauen kann. Aber auch das ist mir teilweise geglückt."

Weiteres: Auch in der NZZ muss Bernd Noack feststellen, dass der "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen nur vor grandioser Open-Air-Kulisse funktioniert. Bei Dauerregen im Saal offenbart Hofmannthals Stücks seine ganze "putzige Lächerlichkeit". In der taz meldet Joachim Lange, dass jetzt auch die Bayreuther Festspiele einige ihrer älteren Inszenierungen Online gestellt haben.
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Architektur

Bruno Tauts Siedlung "Onkel Toms Hütte" in Berlin-Zehlendorf. Foto: Fridolin Freudenfett /Wikipedia CC BY-SA 3.0

Nicht ohne Grund wirkte die architektonische Moderne zu Beginn des 20. Jahrunderts so aseptisch, schreibt der kalifornische Architekt Mark Mack auf domus, sie war die Antwort auf Spanische Grippe und Tuberkulose: "Das neue Bauen war ein Antikörper gegen die ornamentale, zusammengewürfelte und staubige Architektur, die den Stil der Vorkriegsjahre prägte. Die neue Architektur zielte auf ein Maximum an Sonne, Luft und Sauberkeit, sie führte zu einem antibakteriellen Stil, der Gesundheit und ein Leben draußen ermöglichen sollte. Dieser Aspekt wurde in der Architekturgeschichte oft heruntergespielt und schnell vergessen, die sich sehr auf die formale und technische Analyse des Bauens und seiner Protagonisten konzentrierte. In Zeiten einer weiteren Pandemie sollten wir uns an den Moment erinnern, an dem Gesundheit schwerer wog als Formalismus."
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