Efeu - Die Kulturrundschau

Diesem jungen Mann ging es nicht um den Körper

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06.08.2020. Die Filmkritiker liegen der großartigen Barbara Sukowa in Filippo Meneghettis Lesben-Thriller "Wir beide" zu Füßen. Der Tagesspiegel entdeckt in den Fotografien von Maria Sewcz letzte Reste von Toleranz in Istanbul: Etwa ein nachlässig gebundenes Kopftuch. Die nachtkritik reist mit Rimini Protokoll lieber in die eigenen Ohrmuscheln. Nicht Sarah Kirsch, sondern Anna Seghers bezeichnete sie als SED-Funktionärin, erklärt Helga Schubert im Dlf-Kultur. Die taz erzählt, wie deutsche Bands versuchen, die Sympathie der Italiener zurückzugewinnen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.08.2020 finden Sie hier

Film



Filippo Meneghetti erzählt in seinem Debütspielfilm "Wir beide" von zwei Frauen, Mado und Nina, schon lange ein Paar, die mit über 70 in eine schwere Krise geraten, weil Mado nicht zugeben kann, dass sie mit einer Frau lebt. Irgendwann explodiert das in einem riesigen Streit, Mado erleidet einen Schlaganfall, erzählt im Tagesspiegel eine hingerissene Nadine Lange, der vor allem Barbara Sukowa als Nina imponiert: Zwar darf Mado "bald nach Hause zurück, doch Sprechen und Laufen kann sie nicht. Plötzlich ist Nina auf sich selbst und ihre spärlich eingerichtete Wohnung zurückgeworfen. Freunde hat sie offenbar keine. Ihr Lebensglück sitzt nur ein paar Meter entfernt, umsorgt von einer Pflegerin und einer Tochter, die Nina kaum einmal zu Mado lassen. Der Flur zwischen den Appartements wird zu einem kaum überbrückbaren Graben. Türen, die stets offenstanden, sind nun verschlossen. Das Klopfen, Hämmern und Klingen an Türen wird zu einem Leitmotiv des Films, der nach der ersten halben Stunde vor allem von der großartigen Barbara Sukowa getragen wird. Sie macht die Verzweiflung, die Ungeduld und die Leidenschaft ihrer Figur so anschaulich, dass man fast wie in einem Thriller mit ihr fiebert."

Das ganze "könnte auch die Grundlage für eine Komödie abgeben. Oder für eine Tragödie", erklärt ein nicht weniger begeisterter Andreas Platthaus in der FAZ. "Der junge Italiener Filippo Meneghetti macht in seinem Debüt als Regisseur jedoch etwas ganz anderes daraus - einen Psychothriller fürs Herz. Und fürs Hirn, denn schon die erste Szene fordert heraus: Zwei Mädchen spielen in einem baumgesäumten Parkweg Verstecken. Plötzlich ist das eine verschwunden, und das andere zweifelt an seinen Sinnen ebenso wie die Zuschauer, weil nicht geschehen sein kann, was man da sieht. Später wird sich dieses Ereignis als Angsttraum von Nina erweisen, doch die Unheimlichkeit des Beginns prägt fortan die ganze Dramaturgie von 'Wir beide'."

Im Interview mit der SZ erklärt Barbara Sukowa, warum sie sich sofort für das Drehbuch interessierte: "Die Situation zwischen diesen beiden Menschen fand ich psychologisch spannend. Dann hat mich gereizt, dass sich ein Mann, ein junger italienischer Regisseur, für zwei ältere Frauen interessiert, die lesbisch sind. Oft werden lesbische Beziehungen ja als Anmache für Männer inszeniert, weil viele von ihnen das aufreizend finden. Diesem jungen Mann ging es nicht um den Körper, sondern um die Liebe, die Intimität, den Kopf." (Hier die Kritik in der SZ von Annett Scheffel.)

Weitere Artikel: In der Berliner Zeitung schildert Susanne Lenz die Nöte der Kinobetreiber: Zwar werden Corona-Regeln langsam gelockert, wie jetzt in Berlin, wo immerhin jeder zweite Sitz wieder besetzt werden darf. Aber die verschobenen Filmstarts sind ein Riesenproblem: Daniel Kothenschulte (FR) betrachtet Schätze der Disneykunst im Münchner Stadtmuseum. In der FAZ stellt Kerstin Holm die russische Internetserie "Chicas" (Tschiki) vor, die vom harten Leben der Prostitutierten in Kabardino-Balkarien erzählt und trotz wütender Tugendwächter in Russland enorm erfolgreich ist (wer Russisch kann, findet sie hier). Petra Reski unterhält sich für die Zeit mit Regisseur Marco Bellocchio über seinen Mafiafilm "Der Verräter".

Besprochen werden außerdem Kim Sung-sus Katastrophenthriller "Pandemie" von 2013 (taz), Jon Stewarts "Irresistible (Perlentaucher, FR, SZ), Anna Sofie Hartmanns suchendes Spielfilmdebüt "Giraffe" (taz, Perlentaucher), Autumn de Wildes Verfilmung von Jane Austens "Emma" auf DVD (taz), die Comedyserie "Ramy" auf Hulu (Tsp), Ásthildur Kjartansdóttirs Psychothriller "Tryggð" (Tsp, taz), die Perry-Mason-Serie auf HBO (NZZ), Justin Kurzels "True History of the Kelly Gang" auf DVD (Berliner Zeitung).
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Literatur

Angela Schader unterhält sich für die NZZ mit der syrischen Dichterin Lina Atfah, die derzeit im Exil in Deutschland lebt. Dass sie früh zu schreiben anfing, hatte auch mit dem Klima in Syrien zu tun, erzählt sie: "Seit meiner Kindheit wusste ich, dass etwas nicht stimmt. Ich fühlte den Druck der Angst, unter der wir alle lebten. Die Angst war riesig, aber wir waren so sehr daran gewöhnt, dass wir den Ursprung dieser erstickenden Schwere nicht mehr erkannten. Schon sehr früh schrieb ich über Freiheit und die Vision einer imaginären Heimat. Ich war etwa zwölf, als ich erstmals auf der Bühne stand, und immer hatten meine Texte die gleiche wütende Stimme."

Im Interview mit der FAZ bürstete Helga Schubert kürzlich Christa Wolf und Sarah Kirsch als "SED-Schriftstellerinnen und auch -Funktionärinnen" ab. Zu ihrem Vorwurf gegen Wolf steht sie, aber Kirsch war eine Verwechslung, erklärt sie im Interview mit Dlf Kultur: "Nicht von Sarah Kirsch habe sie als Funktionärin gesprochen, sondern von Anna Seghers. ... 'Für mich sind Sarah Kirsch und Christa Wolf völlig verschiedene Menschen, völlig verschiedene Schriftstellerinnen', erklärt Schubert. 'Und ich bin auch nur mit Sarah Kirsch befreundet gewesen.' Kirsch halte sie für eine große Dichterin, wenngleich für politisch naiv, denn immerhin sei auch Kirsch in die SED eingetreten. Schuberts Haltung gegenüber Christa Wolf bleibt hingegen unversöhnlich." Die FAZ hat die Verwechslung von Kirsch mit Seghers korrigiert.

Weitere Artikel: Sabine Rohlf liest für die Berliner Zeitung einige Gartenbücher, die sie an frühere Reisen erinnern. Dirk Peitz stellt auf Zeit online den Comiczeichner Adriane Tomine vor. Michael Moorstedt liest für die SZ gar nicht so üble Texte einer KI namens GPT-3 und fragt sich, was das jetzt bedeutet. In der FAZ stellt Jürgen Rauscher die kanadische Dichterin Rupi Kaur, die über Instagram berühmt wurde. Ebenfalls in der FAZ fragt sich Edo Reents besorgt, welche Auswirkungen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Suizid, das für ihn eine "Welt ohne Transzendenz" voraussetzt, auf die Literatur haben wird.

Besprochen werden Nina Bußmanns Roman "Dickicht" (taz), Sayaka Muratas Krimi "Das Seidenraupenzimmer" (FR), Andreas Schäfers Berlin-Roman "Das Gartenzimmer" (Berliner Zeitung), Rosemary Sutcliffs Historienepos "Die Laternenträger" (Tsp), Erhard Schütz' Band "Mediendiktatur Nationalsozialismus" (Tsp), Hans Joachim Schädlichs Roman "Die Villa" (Tsp), Roberto Bolaños Erzählband "Cowboygräber" (Tsp), Sue Prideauxs "Ich bin Dynamit. Das Leben des Friedrich Nietzsche" (dlf), Hirokazu Koreedas "So weit wir auch gehen"(SZ), Manuel Vilas' Roman "Die Reise nach Ordesa" (Zeit) und Nicolas Mathieus Roman "Rose Royal" (FAZ). Mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr.
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Musik

Geradezu atemlos kommt Kai Müller aus einem Konzert mit dem Drummer Makaya McCraven, mit dem er sich für den Tagesspiegel lange über seine Musik unterhalten hat. Aber erst mal das Konzert: "Man hört etwas, das der Beat für ein Hip-Hop-Stück werden könnte. Man hört die polyrhythmischen Bewegungen des Afropop. Man hört es zischeln und tapsen. Man hört eine Akkordverschiebung nach drei Minuten. Man hört Variationen kleiner Tonreihen, die mit der Zeit durch weitere kleine Fragmente ergänzt werden. Es könnte ewig so weitergehen. Kein großes Ding. Interessanter an der Welt Makaya McCravens ist, was man nicht hört in ihr: keine Melodie, keinen Song, keine Botschaft oder kathartische Struktur. Kann sich eine große Sache durch die Abwesenheit dessen auszeichnen, was man von ihr erwartet? Kann eine große Sache vor allem aus kleinen Dingen bestehen?"

Hier was zum Hören:



Irgendwie liegt Italien in der Luft. Unter dem Titel "Crucci Gang" covern derzeit deutsche Bands wie Von wegen Liesbeth und Elements of Crime unter der Leitung von Francesco Wilkin ihre eigenen Stücke auf Italienisch, erzählt Marielle Kreienborg in der taz. Wilking will damit zeigen, dass es nicht nur Deutsche gibt, die Italienern Atemmasken verweigern: "Viele der Gründe, die wir zu Sympathie- bzw. Antipathiebekundungen für Länder heranzögen, seien historisch bedingt, fährt er fort. So hätten sich etwa türkische Einwanderer in Berlin nur in bestimmten Bezirken anmelden dürfen oder seien die italienischen Gastarbeiter in den sechziger und siebziger Jahren zwar geduldet worden, aber nicht wirklich willkommen geheißen. 'Es gab Bars und Restaurants, an deren Eingangstür stand: 'Kein Zutritt für Italiener'. Das muss man mit denken, wenn man über 'Klein Istanbul' redet oder darüber, dass jeder immer nur unter seinesgleichen rumhängt', so Wilking, der in der Kleinstadt Lörrach selbst inmitten von Fabriken und Gastarbeitern aufwuchs."

Nichts gegen deutsche Musik auf Italienisch, aber der perfekte und ewige italienische Sommerhit kommt aus Italien: Bruno Martinos wunderbares Lied "Estate":



Weitere Artikel: Peter Uehling porträtiert für die Berliner Zeitung die in Berlin lebende griechische Komponistin Irina Amargianaki. Arne Löffel unterhält sich für die FR mit dem Duo Booka Shade über die elektronische Musikszene und ihr neues Album "Dear Future Self". Neil Young will Donald Trump jetzt gerichtlich verbieten lassen, seine Musik für Wahlkampfauftritte zu nutzen, berichtet Harry Nutt in der Berliner Zeitung.

Besprochen werden Dion di Muccis Album "Blues With Friends" (FR), Billie Eilishs Single "My Future" (SZ), ein Konzert des Pianisten Grigori Sokolow in Salzburg (Standard, FAZ, SZ) und das neue Album von Jarvis Cocker (NZZ).
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Bühne

Als gebe es keine Geräusche


Nachtkritikerin Esther Boldt staunt über das künstlerische Potenzial, das die von Rimini Protokoll entworfenen knappen Handlungsanweisungen, die das Kollektiv unter dem Titel "1000 Scores" auf seiner Website zur Verfügung stellt, in ihr freisetzen: "So bietet 'MUTE' des Komponisten und Performers Neo Hülcker verschiedene Anleitungen, Umgebungsgeräusche auszublenden und in die eigenen Gehörgänge abzutauchen. Hülcker weist mich an, durch eine leere Klopapierrolle auf ein Stück Himmel zu schauen und mir vorzustellen, es gäbe keine Geräusche auf der Welt. Oder er fordert mich auf, Kissen auf meine Ohren zu pressen und zu prüfen, was ich dann höre. Oder mich auf den Fußboden zu legen, mir vorzustellen, dass flüssiger Kleber allmählich meine Gehörgänge füllt und dem Geräusch zu lauschen, das dabei entsteht. Ziemlich spannend, diese Reisen in Ohrmuscheln und Gehörgänge, die das gelegentliche Gurren einer Taube, die Schritte nebenan und das Rauschen des Verkehrs umso stärker hervortreten lassen, die Räume, die irgendwie immer schon eintreten in unsere Körper, in unsere Körperöffnungen."


Das Kunstkollektiv "Peng!" hat sich als "Bundesamt für Krisenschutz" ausgegeben und aus einer Neuköllner-WG Manager von RWE, BMW, Helios oder Vonovia angerufen, um mit ihnen über Themen wie Vergesellschaftung, Klimawandel oder soziale Gerechtigkeit zu sprechen. Bald soll eine Theaterperformance auf Kampnagel daraus entstehen, resümiert Caspar Shaller auf Zeit Online, der sich mit den Aktivisten Anja de Vries und Thomas von Wulfen getroffen hat: "Bei den Telefonstreichen gehe es auch darum, zu beweisen, dass man aus jeder WG die wichtigsten CEOs anrufen kann, um mit ihnen über Politik und Wirtschaft zu diskutieren. 'Wir wollen den Zentren der Macht zeigen, dass wir an sie rankommen.' Für einen kurzen Moment wird diese Macht tatsächlich sichtbar. Inhaltlich ist das nicht so überraschend, wie Peng! es gerne hätte. Aber es erstaunt doch, wie selbstverständlich Manager Subventionen einfordern und sich Mitsprache zugleich verbitten."

Weiteres: Für den Guardian hat sich Rachael Healy mit britischen Stand-Up-Comedians über den "tief verwurzelten Sexismus" in der britischen Comedy-Szene unterhalten. Im Standard-Interview mit Stefan Ender ärgert sich der Opernsänger Günther Groissböck, der dieses Jahr den Wotan im "Ring der Nibelungen" in Bayreuth gegeben hätte, über die Corona-Maßnahmen, die er als "Politik der Angstmache" verurteilt: "Wir freien Sänger hatten von heute auf morgen null Einkommen, obwohl wir rechtsgültige Verträge hatten. Viele haben uns das Gefühl gegeben: Ihr seid irrelevant für das System." Bitter fällt die Bilanz aus, die Ulrich Amling im Tagesspiegel nach den ersten Tagen der Salzburger Festspiele zieht. Michael Sturmingers "Jedermann"? So "bleiern" wie ein "Biedermann", dem der Brandstifter fehlt, meint er. Und Handke "kalauert" sich lediglich durch seinen "Zdenek Adamec. Eine Szene": "So sehr sich Handke danach um seinen berühmten Kindheitston bemüht, den er dem schlittenfahrenden Zdenek souffliert - es ist etwas ungelüftet Ältliches um diese Verse. "
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Kunst

In der Berliner Zeitung feiert Ingeborg Ruthe das "Sanfte, die Schönheit und die Einmaligkeit des Lebens" in den Bildern und Skulpturen der japanischen Künstlerin Leiko Ikemura, der die Kunsthalle Rostock die Ausstellung "Von Ost nach Ost" widmet. Und dennoch geht es Ikemura immer auch um Themen wie "Migration, Interkulturalität und kulturelle Differenz" erkennt Ruthe: "Sie wählt das Sinnbildhafte, das sich in der Verschmelzung von Menschenbild und rätselhafter Natur ausdrückt. Aus ihren Gemälden und Skulpturen, den bronzenen 'Häsinnen' und den wie schlafenden, insektengleichen Mädchengestalten, die in einem der Räume vor ihrer zuvor noch nie öffentlich gezeigten Schwarz-Weiß-Fotoserie 'Fiori Mori' (2020)  arrangiert sind, spricht die weise, stille Akzeptanz der Vergänglichkeit alles Irdischen und zugleich die tröstliche Freude, dass jedem Vergehen ein neues Werden folgt. Sie fotografierte verwelkende Tulpen, die in der Vase unglaubliche, ja metaphysische Formen annehmen. Und davor stehen und liegen jene fantastischen, surrealen Mischwesen aus Bronze und Ton. Fremdes und Vertrautes gehen eine Synthese ein, mal widersprüchlich und ambivalent, dann wieder harmonisch."

Weiteres: Der Soziologe Heinz Bude soll Gründungsdirektor des Kasseler Documenta-Instituts werden, meldet Harry Nutt in der Berliner Zeitung. Er soll sich auch mit den NS-Verstrickungen früherer Leiter der Documenta auseinandersetzen, so Nutt.

Besprochen wird die Katharina-Grosse-Ausstellung im Hamburger Bahnhof (Standard).
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Architektur

Seit vierzig Jahren setzt sich die Berliner Fotografin Maria Sewcz mit Urbanität auseinander, den Stadtraum versucht sie "in einer fein abgestimmten Abfolge" von Bildern zu vermessen, verrät sie im Tagesspiegel Gunda Bartels, die in der Ausstellung "ÜberStädte" den Ansatz der Fotografin nachvollzieht, etwa im Zyklus über Istanbul: "Die religiöse Geschichte ist ihren spröden Istanbul-Ansichten ebenso eingewoben wie die politische und kulturelle. Auf einem mittelgroßen Panorama rostet neben einem alten Gasometer eine Atatürk-Büste vor sich hin. Und das großartig beiläufige Porträt einer Mädchengruppe in Schuluniformen spricht von der brüchig werdenden, aber immer noch vorhandenen Toleranz der Lebensformen. Die meisten Mädchen tragen dunkelblaue Basecaps, zwei jedoch ein dunkelblaues, eher nachlässig gebundenes Kopftuch."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Sewcz, Maria, Urbanität, Türkei, Rost