Efeu - Die Kulturrundschau

Im besten Sinne theatralisch

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15.08.2020. In der Welt erklärt Herta Müller, warum wir ein Exilmuseum brauchen. Die Berliner Zeitung fragt, ob der Entwurf der Architektin Dorte Mandrup für das Museum nicht zu viele Interessen bedienen muss. Monika Maron bricht im Gespräch mit dlf Kultur eine Lanze für die Ritterlichkeit. Die FAZ betrachtet mit einer Kuratorin und einem Museumswärter Kunst von "31: Frauen". Kunst kann zur Waffe werden - daran erinnert die nachtkritik anlässlich der vor hundert Jahren in Leizig gegründeten Massenfestspiele der Gewerkschaften. Zeit online widmet sich dem Phänomen rechter Rapper.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.08.2020 finden Sie hier

Architektur

Dorte Mandrups Entwurf für das geplante Exilmuseum am Anhalter Bahnhof. Bild: Dorte Mandrup Arkitekter A/S, Kopenhagen


Die dänische Architektin Dorte Mandrup erhält den Zuschlag für das geplante Berliner Exilmuseum, berichtet Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung. Eröffnet werden soll 2025, direkt hinter der Ruine des Anhalter Bahnhofs. "Dorte Mandrups Entwurf ist - wie viele ihrer Arbeiten - vor allem städtebaulich gedacht. Es soll den als ausufernd empfundenen Askanischen Platz schließen und ihm eine Ordnung geben. Diesem Ziel und jenem, den Portalrest des Bahnhofs als Denkmal zu inszenieren, ist alles andere untergeordnet. Darum gibt es die große Geste der gebogenen Fassade hinter dem Portal, die reizvolle Passage zwischen diesem und dem eigentlichen Bau." Innen ist die große Geste freilich ein Problem, so Bernau, weil sie sich eher für Mammutausstellungen eignet. Außerdem hat die Kreuzberger Politik dem Museum einen Sportbereich im Inneren aufgezwungen. "Vielleicht ist es doch keine so kluge Idee der Initiatoren und des Bezirksamts, zwei so extrem unterschiedliche Zwecke wie erinnerndes Ausstellen und aktiven Sport in ein Haus zu zwingen", denkt sich Bernau, der auch kritisiert, dass nur die drei Siegerentwürfe ausgestellt werden. Wie soll man da debattieren?

In der Welt sind Marc Reichwein und Marcus Woeller hingegen begeistert: "Dorte Mandrups Entwurf ist in bestem Sinne theatralisch. Und ein Zeichen, dass in Berlins Mitte Architektur endlich wieder einmal mit gestalterischem Mut auftreten darf." Jetzt fehlen nur noch die 27 Millionen Euro für die Baukosten. Im Tsp stellt Peter von Becker den Entwurf vor.

Das Museum, das Geschichten der Menschen präsentieren soll, die vor den Nazis fliehen mussten, war von Herta Müller und Joachim Gauck angestoßen und dann von Bernd Schultz und Christoph Stölzl mit Hilfe einer Bürgerinitiative vorangetrieben worden. Im Interview mit der Welt erklärt Herta Müller, warum sie ein Exilmuseum hierzulande für notwendig hält: "Wenn man bedenkt, wie viele Dissidenten und Flüchtlinge es vor 1989 aus osteuropäischen Ländern gab. Denken wir nur an Ungarn 1956. Oder an die Millionen, die die DDR vor den Mauerbau verlassen haben.Und ausgerechnet dort will man nicht mehr wissen, was Flucht und Verfolgung bedeutet und Flüchtlinge verachtet. Dass junge Männer in Syrien nicht für Assad in den Krieg ziehen und sterben wollen, einen Herrscher, der sie zuvor schon im Geheimdienstkeller gefoltert hat, ist doch völlig klar! Dass Osteuropäer so tun, als gehe sie das alles nichts an, leuchtet mir nicht ein. Jahrelang sind Familien aus allen osteuropäischen Ländern in den Westen gegangen, aus Polen, aus der DDR. Heute haben sie Angst, ihnen wird was weggenommen."
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Literatur

"Ritterlichkeit und Ehre sind ja etwas Schönes", sagt Monika Maron im Gespräch beim Dlf Kultur über ihren neuen Roman "Artur Lanz", dessen Titelfigur nach der Artus-Sage und nach Lancelot benannt ist. Den verunsicherten Männer der Gegenwart bringt die Schriftstellerin durchaus Verständnis entgegen, denn diese "haben ihre alte Rolle verloren. Das ist ja offensichtlich und das ist ja auch gut. Ich merke, dass die sich nun so tastend fortbewegen, wer sie eigentlich seien wollen als Männer, als das andere Geschlecht. Und da nun das auch noch verbunden ist mit diesem sinnlosen Angriff auf alles Männliche, wäre es ja ein Wunder, wenn die nicht auch verunsichert wären, wie denn ihr Verhältnis zu den Frauen ist, wie ihr Selbstverständnis ist. Wenn ein Bild von sich selbst zusammenbricht, dann muss man sich ja erst mal ein anderes entwerfen."

Weiteres: Ute Kröger erinnert in der NZZ daran, wie die Verleger Emil und Emmie Oprecht in Zürich aus dem im Zweiten Weltkrieg besetzten Frankreich fliehenden Exilanten Unterschlupf boten. Dlf Kultur bringt eine Lange Nacht über Charles Bukowski, der heute 100 Jahre alt geworden wäre. Die Berliner Literaturzeitschrift DreckSack hat dem Schriftsteller eine Sonderausgabe gewidmet, die Jens Uthoff für die taz gelesen hat. Außerdem lässt der SWR über Bukowskis Aktualität diskutieren. Andrea Nettling forscht im Literaturfeature von Dlf Kultur nach, was Hölderlin heutigen Lyrikerinnen und Lyrikern bedeutet. In Krisenzeiten taugt Kafka zum Vorbild, meint Paul Jandl in der NZZ. Gerrit Bartels (Tagesspiegel) und Michael Krüger (Literarische Welt) gratulieren dem Aufbau-Verlag zum 75. Geburtstag. Für die FAZ hat Andreas Platthaus mit dem Verlagseigentürmer Matthias Koch gesprochen.

Außerdem widmet sich die NZZ der Kulinarik in der Literatur: Angela Schader übernimmt die Worte zum Geleit. Roman Bucheli staunt, dass Gottfried Keller in "Martin Salander" aus nichts eine Mahlzeit zaubert. Claudia Mäder greift nochmal zu Han Kangs "Die Vegetarierin". Bislang nicht online stehen René Scheu, der in Adalbert Stifter den Urvater des "Food Porn" sieht, Thomas Ribi, der sich durch die Gelage aus Petrons lateinischem Roman "Satyrica" arbeitet, und Philipp Meiers Ehrerbietung vor der kulinarischen Finesse, mit der japanische Romane aufwarten.

Besprochen werden unter anderem Gerhard Sawatzkys in der UdSSR einst verbotener Roman "Wir selbst" (Freitag), Deniz Ohdes "Streulicht" (taz), Lisa Eckharts Debütroman "Omama" (taz), Sjóns Romantrilogie "CoDex 1962" (Intellectures), Khaled Khalifas "Keine Messer in den Küchen dieser Stadt" (FR), Mario Vargas Llosas "Harte Jahre" (Zeit), Pierre Jarawans "Lied für die Vermissten" (Standard), Urs Zürchers "Überwintern" (online nachgereicht von der FAZ), "Die Scham" von Annie Ernaux (Literarische Welt) und Anna Kavans erstmals auf Deutsch übersetzter Roman "Eis" aus dem Jahr 1968 (FAZ).
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Kunst

Berni Searle, In wake of, 2014. Manchester Art Gallery


Victor Sattler hat für die FAZ die Ausstellung "31: Women" im Berliner Haus Huth besucht, eine Schau von 31 Künstlerinnen aus sechzehn Ländern, die die "Daimler Art Collection"  versammelt hat. Vorbild war eine gleichnamige Ausstellung aus dem Jahr 1943 in New York, die Marcel Duchamp und Peggy Guggenheim kuratiert hatten. Jetzt also wieder 31 Frauen. Sattler lauscht am Rande einer Diskussion zwischen einem Sicherheitsmann und einer Kuratorin: "Das Selbstporträt 'In wake of' (2014) der Südafrikanerin Berni Searle ist liegend im Profil gegeben, Kohlenstaub bedeckt ihren nackten, überlebensgroßen Körper, könnte aber auch darauf schraffiert sein, so übersinnlich mutet dieses Foto an. Ein Sicherheitsmann, der nach dem Lockdown seinen ersten Arbeitstag hat, bleibt ehrfürchtig davor stehen. 'Schwarze Magie', sagt er begeistert. Die Kunsthistorikerin Kathrin Hatesaul von Daimler erklärt ihm, dass es sich um ein Christus-Motiv à la Holbein handele, gleichzeitig um eine Kapitalismus-Kritik, weil der Künstlerin hell abgesetzte Goldmünzen durch die Finger rutschen. Das lässt er aber nicht gelten, eine Weile geht es zwischen den beiden Deutern hin und her."

Weitere Artikel: Auch die Berliner Museen, die seit Anfang Mai wieder geöffnet haben dürfen, haben einzelne Häuser aufgeschlossen, aber nur die, bei denen Einnahmen zu erwarten sind, hat Frederik Hanssen (Tsp) erfahren: "Jetzt haben wir Mitte August, und immer noch sind fast die Hälfte der Staatlichen Museen geschlossen. ... Peinlich nur, dass die hauptstädtische Tourismus-Agentur VisitBerlin gerade eine überregionale Kampagne gestartet hat, mit ganzseitigen Anzeigen beispielsweise im Magazin der Süddeutschen Zeitung. Dort werden potenzielle Städtereisende mit dem Satz geködert: 'Bei uns ist sogar der Weg zum Museum eine Sehenswürdigkeit'." Mehr als den Weg gibt's dann leider oft nicht. Die Welt bringt ein Interview vom März mit der vorgestern verstorbenen 99-jährigen Künstlerin Luchita Hurtado. Anna Kühne besucht für die taz die 92-jährige Malerin Gisela Stiller in Weißensee.

Besprochen wird eine Ausstellung in der Berlinischen Galerie über Berlin aus Ost- und West-Perspektiven (Berliner Zeitung),
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Bühne

In der nachtkritik erinnert Tobias Prüwer an die vor hundert Jahren in Leizig gegründeten Massenfestspiele der Gewerkschaften: "Fünf Jahre lang fanden diese Freiluftspektakel in Leipzig statt. Ihr Einsatz des Bewegungschores sollte die Ästhetik des Arbeitertheaters nachhaltig prägen. Die Festspiele waren im Sinne des Arbeitertheaters keine bloße Unterhaltung, sondern dienten der Agitation und Propaganda. Die Individuen verschwanden hinter der Masse, die wie ein einziger Riesenkörper erschien. So wurde kollektiv Macht symbolisiert und ein innerer Zusammenhalt hergestellt. 'Aus Kunst ist eine Waffe geworden', lautete das Credo des Zentralorgans Arbeiterbühne."

Besprochen werden Florentina Holzingers Performance "Tanz" beim Sommerfestival auf Kampnagel ("Elf Darstellerinnen, während der knapp zweistündigen Aufführung überwiegend nackt, toben in Gewaltszenen und Leidensexzessen durch literweise Theaterblut", seufzt Welt-Kritiker Stefan Grund), Lignas Performance "Ulysses 2.0", ebenfalls auf Kampnagel ("Die Performer verstehen Odysseus nach Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als listigen Helden, der zweckrational handelt und damit die bürgerliche, kapitalistische Subjektivität vorzeichnet", informiert uns Katrin Ullmann in der taz) und das Monty-Python-Musical "Spamalot" im Schlosspark Theater Berlin ("Neun Darstellerinnen und Darsteller teilen sich 41 Rollen, das Corps de Ballett besteht aus zwei Damen, der Orchestersound kommt vom Band", schreibt Frederik Hanssen, der sich offenbar gut amüsiert hat, im Tsp)
Archiv: Bühne

Film

Alle starren auf Christopher Nolans "Tenet", der Ende August nun wohl wirklich in die Kinos kommen soll, als hinge wirklich nur von diesem einen Film das Schicksal des Kinos, wie wir es kennen, ab, ärgert sich Dunja Bialas auf Artechock. Warum sorgen sich plötzlich alle um das Wohlergehen der ganz großen Player, wo bleibt da der Mittelstand jener Verleiher, die tatsächlich erst für Vielfalt im Programm sorgen? Die zeigen sich enttäuscht, dass ihre Gespräche mit Grütters in den letzten Wochen offenbar wenig brachten. "Stattdessen wurde im Rahmen des am 3. August 2020 bekannt gemachten Ministerialprogramms 'Neustart Kultur' die Verleihförderung neu aufgelegt und um vier Millionen Euro erhöht. Das klingt ja erst einmal gut." Als problematisch gelte allerdings "das Anheben der Förderuntergrenze auf 40.000 Euro für die Herausbringungskosten eines Films. Für die kann bei der BKM ein Antrag auf Förderung gestellt werden, sofern 30 Prozent Eigenanteil vorhanden sind. 'Da muss man echtes Geld investieren', betont Kühn, mit Rückstellungen wie bei Produktionen kann ein Verleiher nicht operieren, er muss in Vorauszahlung gehen." Damit "hat die BKM all die Verleiher vom Branchenzug abgekoppelt, die entweder nicht so große Filmprojekte im Angebot haben, die entsprechend hohe Herausbringungskosten erfordern, oder die schlichtweg als Firma zu klein sind, um den notwendigen Eigenanteil aufzubringen."

Weitere Artikel: Claus Löser (Berliner Zeitung) und Tilman Schumacher (critic.de) empfehlen die Harmut-Bitomsky-Reihe im Berliner Zeughauskino (mehr dazu bereits hier). Urs Bühler spricht in der NZZ mit Marco Solari, dem (vor einigen Monaten selbst an Covid-19 erkrankten) Leiter des Filmfestivals Locarno über das Festivalmachen in Coronazeiten. Helmut G. Asper erinnert im Filmdienst an André de Toths Anti-Nazi-Film "None Shall Escape" von 1943. Rainer Gansera (Filmdienst) und Rüdiger Suchsland (Artechock) gratulieren Wim Wenders zum 75. Geburtstag.

Besprochen werden eine Louis de Funés gewidmete Ausstellung in der Cinémathèque française in Paris (Standard) und die Amazon-Serie "Alex Rider" (FAZ).
Archiv: Film

Musik

Rappende Nazis, das klingt nach einem Widerspruch in sich. Daniel Schieferdecker analysiert die Szene in einem aufschlussreichen Longread für ZeitOnline. Die Strategie von in der Szene zwar umstrittenen, aber dafür außerhalb dessen umso populäreren Rappern wie Chris Ares (dessen Account gerade von Youtube gesperrt und dessen Songs von Spotify offline genommen wurden), liegt dabei auf der Hand: Es geht ums Rekrutieren von jungem Nachwuchs. Dass Rap in Deutschland sich rechten Insignien öffnete, liegt allerdings auch an der klassischen Rapszene, meint Schieferdecker, denn die kokettiert "immer mal wieder mit neonazistischen Begriffen und Symbolen - allen voran Fler. 2005 veröffentlicht der Berliner Rapper das Album 'Neue Deutsche Welle', bewirbt es mit dem abgewandelten Adolf-Hitler-Zitat 'Ab 1. Mai wird zurückgeschossen' und propagiert völkische Zeilen wie 'Das ist schwarz-rot-gold/hart und stolz'. In der Hip-Hop-Szene wird Fler dafür stark kritisiert, jegliche Nähe zum Neonazismus weist er jedoch empört von sich. ... Auf Twitter wirbt er 2015 sogar für das rechtspopulistische Magazin Compact. Eine ernsthafte Distanzierung von der Neuen Rechten sieht anders aus. Seit seinem Debütalbum 2005 stand jede seiner Platten in den deutschen Top Ten Charts."

Außerdem: Auch Nick Cave ist gegen Cancel Culture, meldet Tomasz Kurianowicz in der Berliner Zeitung und zitiert aus dessen Newsletter. Florian Amort berichtet in der FAZ von den Salzburger Festspielen (mehr dazu bereits gestern). Thomas Antonic schreibt im Standard einen Nachruf auf die Jazzmusikerin Ruth Weiss.

Besprochen werden neue Alben von Fantastic Negrito (Berliner Zeitung), Burna Boy (ZeitOnline), Zugezogen Maskulin (taz) und des Manic-Street-Preacher-Frontmanns James Dean Bradfield, der sich auf "Even in Exile" vor dem unter Pinochet ermordeten, oppositionellen Musiker Victor Jara verneigt (Welt). Wir hören rein:

Archiv: Musik