Efeu - Die Kulturrundschau

Herbst der Improvisation

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.08.2020. 20.08.2020. In der FAZ staunt der algerische Schriftsteller Kamel Daoud immer noch, wie ähnlich Picassos Blick auf Frauen dem Blick des Islams ist. Die SZ besucht eine große Nam-June-Paik-Retrospektive. Außerdem stellt sie neue Pay-Per-View-Modelle für Klassikkonzerte vor. Zeit online ist enttäuscht von "Biohackers" und auch fast allen anderen deutschen Serien bei Netflix.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.08.2020 finden Sie hier

Kunst

Nam June Paik, TV Garden, 1974-1977, reconstruction 2002. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Tentoonstellingskopie met toestemming van Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Photo: Peter Tijhuis


Ein bisschen veraltet muten die Installationen von Nam June Paik heute an, stellt Catrin Lorch (SZ) im Amsterdamer Stedelijk Museum fest, in dem die große weltweit reisende Paik-Retrospektive gerade Station macht. "Wuchtige Kästen, in denen die alten Bildröhren untergebracht waren, habe nicht mehr viel mit den flachen Displays zu tun, die auch längst nicht mehr im Querformat angeschaut werden. Es sind in der Schau die einfachsten Werke, die am überzeugendsten bleiben: ein schwarzer, nackter Buddha aus schwarzem, speckig glänzenden Stein, der ruhig auf einen Monitor blickt, auf dem eine Kamera seinen Körper einfängt. Niemand hat die Nähe zwischen Mensch, Maschine und Medium so früh erkannt, wie der Künstler, der in einem 'Global Groove' schon 1973 Tänzer auf der ganzen Welt in einem Live-Stream verschaltete."

Lena Bopp unterhält sich für die FAZ mit dem algerischen Schriftsteller Kamel Daoud über dessen neues Buch  "Meine Nacht im Picasso-Museum - Über Erotik und Tabus in der Kunst, in der Religion und in der Wirklichkeit". Auffällig fand Daoud, der sich eine Nacht im Musée Picasso in Paris einschließen ließ, wie ähnlich Picassos Blick auf seine Modelle dem des Islams auf Frauen ist: "Es gibt schon lange das Bild der Femme fatale, unter der man sich etwas vorstellen kann. Aber unter einem Homme fatal? Was mich an den Bildern aus dem Jahr 1932 überrascht hat, als Picasso Marie-Thérèse getroffen hat - diese Bilder wurden im Museum gezeigt -, das war, dass die Metapher des Verschlingens der Geliebten so explizit ist, vom Anfang bis zum Ende. Man sieht bei ihm die Frauen immer aus der Perspektive von jemandem, der hinter ihnen steht, über, neben oder unter ihnen, aber nie von vorne. ... Ich habe mich intensiv mit Religion beschäftigt und war überrascht von Picassos Darstellung der Frau, weil sie exakt der phantastischen Vorstellung gleicht, die man sich im Islam von der Frau im Paradies macht. Es sind Frauen, die zu Objekten werden, die man unterwirft. Diese Art, ausschließlich vom Körper zu träumen, ohne den Menschen dahinter zu sehen. Diese Monstrosität."

Weiteres: In der FAZ notiert Stefan Trinks ein neues Interesse an der Kunstgattung "Kirchenfenster": Da kann man so schön monumental arbeiten, und wird unsterblich. Besprochen werden die Ausstellung "Un_controlled territories" des Belgrader Künstlers Siniša Ilic im Kunstraum Innsbruck (Standard), die Gruppenausstellung die drei DAAD-Stipendiat*innen Burak Delier, Ieva Epnere und Runo Lagomarsino in der Galerie Wedding, die ihre Räume derzeit mit dem Sozialamt teilt (taz) und die Ausstellung "Gegenwarten" in Chemnitz (taz).
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Bühne

In Berlin nehmen die Kleinkunstbühnen peu a peu den Spielbetrieb wieder auf, berichtet Gunda Bartels im Tagesspiegel. Besprochen wird Bettina Böhlers Film "Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien" (nachtkritik).
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Film

Wenn Kunst auf Wissenschaft trifft: "Devs" von Alex Garland

Völlig in seinem Element ist Science-Fiction-Experte Dietmar Dath in Alex Garlands Serie "Devs". Darin geht es um allerlei Kompliziertes aus der Welt der Wissenschaft (Quantenphysik, Weltformel, zeitliche Asynchronitäten, freier Wille, etc.), was sich aber mit einer Kunsthaltung gut genießen lässt, schreibt Dath in seiner von der FAZ online nachgereichten Huldigung: "Bei Alex Garland will jeder Moment auf einen Gedanken hinaus. 'Devs' erniedrigt in diesem Zeichen seine Stoffe aus Wissen und Technik, anders als der landläufige Science-Fiction-Dilettantismus, nie zur Dekoration, sondern will rastlos wissen, wie Dinge und Leute funktionieren. Das Publikum sollte diese Neugier teilen, muss aber, um 'Devs' genießen zu können, nicht wissen, was Kapazitätsdimensionen (Menger-Schwamm!), Kolmogorow-Komplexitätsmaße (Rechnen!) und Zustandsvektoren (Quantenwahnsinn!) sind oder wer Bohm und de Broglie waren - das kann man alles hinterher googeln oder nicht, wichtiger ist Kunstsinn." Auch Presse-Kritiker Andrey Arnold sieht in der Serie "mehr philosophische Meditation als Mysterythriller", ohne dass sie dabei didaktisch werde: "Die Serienschöpfer setzen auf Atmosphäre, versuchen verkopfte Konzepte über die Ästhetik zu vermitteln."

Carolin Ströbele hat auf ZeitOnline derzeit weniger Erfreulicheres aus der Serienwelt zu berichten: Mit "Biohackers" setzt Netflix seine mittlerweile ansehnliche Reihe ziemlich unterwältigender deutscher Produktionen fort. Einst als Alternative zu überformatierten Produktionen der Öffentlich-Rechtlichen angetreten, setze wohl auch der Streaminggigant nun "auf eingefahrene Sehstrukturen. ... Nach fast sechs Jahren Netflix in Deutschland muss man die Behauptung neu bewerten, wonach es früher nur an den bösen Türöffnerinnen bzw. Türschließern in den innovationsfeindlichen öffentlich-rechtlichen Senderredaktionen gelegen habe, dass all die fantastischen Genrestücke und großen horizontalen Erzählungen es nie ins Fernsehen geschafft haben. Es gibt womöglich einfach nur eine überschaubare Zahl wirklich guter Drehbücher."

Weitere Artikel: Michael Meyns spricht in der taz mit Visar Morina über seinen neuen, im Tagesspiegel besprochenen Film "Exil". Besprochen werden Michael Almereydas Biopic "Tesla" (taz, FR, Berliner Zeitung, unsere Kritik hier), Michael Angelo Covinos Tragikomödie "The Climb" (SZ) und die auf AppleTV gezeigte Dokumentation "Boys State" über junge Texaner, die Politik simulieren (Berliner Zeitung).
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Architektur

Schnell noch (bis zum 20. August) in die Berliner Galerie Aedes, empfiehlt Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung. Bis dahin läuft noch die Ausstellung zum Werk des norwegischen Architekturbüros Snøhetta: "Dies ist nämlich eine tolle Ausstellung, von den riesigen Projektionen mit Projekten aus aller Welt bis zur Auswahl der auf gigantisch von der Decke hängenden Plänen in kleinsten Details vorgestellten Arbeiten."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Snohetta

Literatur

In einem Essay für 54books.de befasst sich Sandra Beck mit der Funktion der Frauenleiche für den Kriminalroman. In der taz spricht der Autor Linus Giese über seine Erfahrungen als Trans-Mann, über die er gerade auch ein Buch veröffentlicht hat. Die Schriftstellerin Annett Gröschner erzählt auf ZeitOnline von ihrer Elbwanderung. In seiner Standard-Reihe über Walter Benjamin kommt Ronald Pohl auf Benjamins Aufsatz "Die Aufgabe des Übersetzers" zu sprechen.

Besprochen werden unter anderem Anne Webers "Annette, ein Heldinnenepos" (ZeitOnline), Dorothee Elmigers "Aus der Zuckerfabrik" (Berliner Zeitung), Steph Chas Kriminalroman "Brandsätze" (FR), Thilo Krauses "Elbwärts" (SZ) und David Grossmans "Was Nina wusste" (Tagesspiegel, FAZ).
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Musik

Zwei neue Studien der Charité geben Anlass zur Hoffnung, dass klassische Konzerte im Hinblick auf Corona gelockerter stattfinden könnten, berichtet Jan Brachmann in der FAZ: Der Abstand zwischen den Musikern könnte sich demnach nochmal deutlich verringern, auch der Saal könnte wieder annähernd gefüllt werden - sofern das Publikum sich an eine strenge Maskenpflicht hält, wenig redet und die Luft fortlaufend ausgetauscht wird. Doch "nun herrscht in der Öffentlichkeit große Verwirrung um diese beiden Positionspapiere, weil sich der Vorstand der Charité von ihnen sofort distanziert hat. Ein bisschen voreilig war diese Distanzierung schon. Denn dass der Vorstoß nicht abgestimmt war, kann man den Medizinern nicht vorwerfen. Sie handeln als Institutsleiter eigenverantwortlich, und auch im Mai hatte es deshalb keinerlei Kritik an ihnen gegeben." Doch "der Vorwurf, hier würden unabgestimmte Handlungsrichtlinien in die Welt gesetzt, sticht nicht. 'Niemand ist so blauäugig zu glauben, dass aus unseren Stellungnahmen gleich Handlungsempfehlungen werden'", sagt der Studienleiter (und Dirigent) Stefan Willich. Wie dem auch sei: Angesichts dieser neuen Lage sieht Welt-Kritiker Manuel Brug schon mal einen "Herbst der Improvisation" kommen.

Die Klassikbranche entwickelt derzeit Pay-Per-View-Modelle für Konzerte, bei denen man also gezielt und gegen kleinen Preis einzelne Konzerte abrufen kann, erklärt Michael Stallknecht in der SZ. Dabei soll vor allem Verknappung die Attraktivität steigern: "Wo das Hier, also der von Musikern und Publikum geteilte Raum, wegfällt, setzen die Macher in den neuen Formaten vor allem darauf, das Jetzt des erlebten Augenblicks zu erhalten. Bei Idagio bleiben die Konzerte deshalb nur 24 Stunden online, bei Dreamstage wird man den Auftritt tatsächlich nur in Echtzeit verfolgen können."

Weitere Artikel: Jüngste MeToo-Skandale ramponieren das Image von der Indie-Rock-Szene als ein Hort sanftmütiger, potenziell feministischer Männer, schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline. Jan Brachmann erinnert in der FAZ an den vor 100 Jahren gestorbenen russischen Komponisten Wladimir Rebikow, der felsenfest davon überzeugt war, von Debussy bestohlen worden zu sein.

Besprochen werden der Auftritt des Tenors Mauro Peter in Luzern (NZZ), Liam Firmagers Dokumentarfilm über Suzi Quatro (Berliner Zeitung) und das neue Album der Bright Eyes (Berliner Zeitung).
Archiv: Musik