Efeu - Die Kulturrundschau

Zum Adonis modelliert

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26.08.2020. Die FAZ erlebte auf dem Literatufestival von Lana, wie Swetlana Alexijewitsch Weißrusslands Präsidenten Lukaschenko zum Dialog aufforderte - mit der Gesellschaft, mit der Zeit, mit den neuen Menschen. Die SZ feiert die neue Geschlechtergerechtigkeit im deutschen Tanz und den Ballettstar Friedemann Vogel. Im Tagesspiegel befindet Barrie Kosky zur Mohrenstraße: Der Name muss weg. Monopol freut sich über den rowdyhaften Künstler-Humor, mit dem die Familie Grässlin das Schwarzwaldstädtchen St. Georgen beglückt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.08.2020 finden Sie hier

Literatur

Swetlana Alexijewitsch, bei einem Auftritt im Jahr 2013 (Bild: Elke Wetzig, CC BY-SA 3.0, Zuschnitt)

Das Börsenblatt meldet, dass die Regierung Lukaschenko die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch und weitere 70 Oppositionelle wegen des "illegalen Versuchs der Machtergreifung" zum Verhör einbestellt hat und der Generalstaatsanwalt Anklage erhoben habe: "Es drohen fünf Jahre Haft." Vor wenigen Tagen konnte man beim Literaturfestival in Lana noch ein voraufgezeichnetes Gespräch mit ihr sehen, berichtet Katrin Hillgruber in der FAZ. Natürlich ging es da auch um die Lage in Belarus: Der idealste Weg für Alexijewitsch wäre der friedliche, "'doch der Präsident ist nicht bereit zum Dialog mit der Gesellschaft, mit der Zeit, mit den neuen Menschen, die es jetzt gibt. ... Es hat ein Wandel stattgefunden im Bewusstsein der Menschen. Tschechows Ausspruch, der Mensch müsse den Sklaven Tropfen für Tropfen aus sich herauspressen, wurde bei uns umformuliert: Nicht tropfenweise, sondern eimerweise - das haben die Menschen inzwischen getan. Ich sah plötzlich ganz andere Menschen, ich habe mich in mein Volk verliebt.'"
 
Weitere Artikel: In der Berliner Zeitung reagiert Bernd F. Lunkewitz, von 1991 bis 2008 Verleger des Aufbau Verlags, auf Michael Krügers leicht vergiftete Geburtstagsgrüße zum 75. Jubiläum des Verlags. Gerrit Bartels gratuliert im Tagesspiegel dem Schriftsteller Maxim Biller zum 60. Geburtstag. In seiner Zeit-Kolumne denkt Biller außerdem über Hannah Arendts Handtasche nach.

Besprochen werden unter anderem neue Krimis von Parker Bilal und Lauren Wilkinson (Perlentaucher), Deniz Ohdes "Streulicht" (Tagesspiegel), Gertrud Leuteneggers "Späte Gäste" (NZZ), Robert Seethalers "Der letzte Satz" (online nachgereicht von der FAZ), Maryse Condés "Das ungeschminkte Leben" (NZZ), Garry Dishers Krimi "Hope Hill Drive" (FR), Vivian Gornicks "Eine Frau in New York" (Tagesspiegel), Mieko Kawakamis "Brüste und Eier" (SZ) und Ulla Lenzes "Der Empfänger" (FAZ).
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Bühne

Friedemann Vogel im "Bolero". Foto: Stuttgarter Ballett


In anderen Künsten mag Maskulinität in Verruf geraten sein, im Tanz stehen auf einmal Männer im Scheinwerferlicht wie nie zuvor, freut sich Dorion Weickmann in der SZ und nennt es auch eine Form von Geschlechtergerechtigkeit. Besonders gefällt ihr, dass der Deutsche Tanzpreis in diesem Jahr auch an Friedemann Vogel geht, den sie als klassischen Interpreten und packenden Erzähler feiert: "Vogel, 41, produziert keine Schlagzeilen, aber für die Popularität und Breitenwirkung seines Fachs ist er so bedeutsam wie Igor Levit für die Musik oder Lars Eidinger für das Theater. Ein Gesicht, das eine Stirnfalte und ein Grübchen am Kinn in zwei erstaunlich symmetrische Hälften teilt, dazu ein schmaler Körper, dessen Muskeln sich unter der Haut deutlich abzeichnen - es scheint, als habe sich Friedemann Vogel mit den Mitteln des Tanzes zum Adonis modelliert: 'Ich habe noch kein Fitnessstudio von innen gesehen, diese Physiognomie ist durch Bewegung geformt', sagt er."

Im Tagesspiegel-Interview mit Frederik Hanssen spricht Intendant Barrie Kosky über die Pläne der Komischen Oper für den Star der nächsten Saison, das großartige System des Repertoiretheater und die Umbenennung der nahen Mohrenstraßen: "Mir kann keiner erzählen, dass Begriffe wie Mohrenstraße oder Judengasse nicht abwertend gemeint sind. Der Name muss weg. Wichtig. Dann wird Glinka vorgeschlagen - und sofort rufen irgendwelche selbsternannten Experten: Der war ein Antisemit! Ach was! Und warum war dann sein Komponistenkollege Giacomo Meyerbeer - ein gläubiger Jude - einer der Sargträger bei Glinkas Beerdigung?! Angeblich soll Glinka sich in einem Satz mal antisemitisch geäußert haben. Man sieht hier, wie problematisch Polarisierung ist. Wenn eine Nebenbemerkung eines Menschen als Grund ausreicht, den U-Bahnhof Mohrenstraße nicht in Glinkastraße umzubenennen, dann muss man sofort 80 Prozent aller Straßen in Berlin umbenennen, einschließlich des U-Bahnhofs Richard-Wagner-Platz."

Weiteres: In der Welt versammelt Manuel Brug seine Highlights der Salzburger Festspiele.
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Kunst

Tobias Rehberger "Me as you II (1-3), (6), (7)", 2014, im Bahnhof St. Georgen. Foto: Wolfgang Günzel

Für Monopol besucht Silke Hohmann das Schwarzwald-Städtchen St. Georgen, über das die Familie Grässlin gerade unter dem Titel "Hitparade" die Werke ihrer fantastischen Kunstsammlung verteilt: Im Bahnhof hängen Masken von Tobias Rehberger, beim Friseur Gemälde von Alicia Viebrock, im Autohaus steht ein nachgebauter Porsche von Rehberger, daneben der Ford Capri von Albert Oehlen und Martin Kippenberger: "Es scheint ein bisschen, als hätten der rowdyhafte Künstler-Humor und die unkonventionelle Lässigkeit der Unternehmerfamilie sich gegenseitig orgonhaft auf eine höhere Energieebene katapultiert, eine Art anarchische Kernschmelze in der hügeligen Provinz, Sankt Georgen als Orgonakkumulator. 'Jetzt geh' ich in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald', heißt die Kippenberger-Installation, in der die übergroßen Alka-Seltzer aus Holz zwischen künstlichen Birkenstämmen herumliegen."

Weiteres: Peinlich, peinlich. Das Whitney Museum muss seine geplante Ausstellung "Collective Actions: Artist Interventions In a Time of Change" absagen, berichten Valentina Di Liscia und Hakim Bishara auf Hyperallergic: Es hat sich herausgestellt, dass das Museum etliche Werke bei Wohltätigkeitszwecken zum Schnäppchenpreis ergattert hat, die eigentlich für arme Communities gedacht waren. Auch die New York Times schreibt darüber. Und angesichts der großen Keith-Haring-Retrospektive im Essener Folkwang Museum, betont Max Florian Kühlem in der taz, dass es sich bei Haring nicht nur um ein Genie der Kommerzialisierung handelt, sondern um einen Künstler, "der die irren Transformationen und Ausschweifungen, Umstürze, Überwerfungen und Innovationen der 1980er Jahre gierig in sich aufgesogen und kanalisiert hat".
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Film

Auf der Suche nach der rückwärts laufenden Zeit: Robert Pattinson und John David Washington.

Der zweite Schwung von Kritiken zu Christopher Nolans Blockbuster "Tenet" ist da (unser erstes Resümee). Der Zeitreise-Spionagefilm verdrahtet einem die Synapsen angenehm neu, meint Daniel Kothenschulte in der FR: "Wie Geisterfahrer auf der Zeitachse" bewegen sich die beiden Hauptdarsteller John David Washington und Robert Pattison. "In einer kunstvollen Choreografie aus Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen orchestriert Nolan die poetische Idee von Ereignissen, die sich in umgekehrter Richtung in eine vergangene Gegenwart bewegen." Dieses "Filmgedicht von einem Blockbuster" hat "seine für sich betrachtet vernachlässigenswerte Geschichte zu einem Sprungbrett nie gesehener Film-Artistik gemacht."

Endlich wieder großes Kino, freut sich auch Hanno Hauenstein in der Berliner Zeitung und lobt "die Kamera, die in hungriger Suchbewegung die Grenzen des Sehbaren auslotet, die düstere, Nolaneske Gesättigtheit der Farbtöne, die unglaubliche Filmmusik (Ludwig Göransson) und, natürlich, die alles umarmende Nerd-Theorie." Von glückseliger Verwirrung berichtet Fabian Tietke in der taz: "Am Ende des Films weiß man nicht, an welcher Stelle der Erzählung der Film begonnen hat." Bei Nolans Zeitebenen-Akrobatik "kommt es zu Kollisionen und ihrem Gegenteil", vergaloppiert sich Verena Lueken vor Begeisterung in der FAZ.

Weitere Artikel: Für ZeitOnline spricht Marietta Steinhart mit der Sexualtherapeutin Ruth Westheimer, über die ein (auf Kinozeit besprochener) Dokumentarfilm in die Kinos kommt. Besprochen werden unter anderem Visar Morinas "Exil" (Jungle World, mehr dazu hier), Massoud Bakhshis iranisches Drama "Yalda" (SZ), die deutsche Netflix-Serie "Biohackers" (taz) und die zweite Staffel der Netflix-Serie "Dirty John" (Berliner Zeitung).
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Musik

"Plötzlich geht es wieder um etwas", resümiert Christian Wildhagen in der NZZ die letzten Wochen, in denen das Kulturleben sich mal mehr, mal weniger zaghaft an einer Rückkehr unter neuen Bedingungen versucht: Existenziell angetriebene Spielfreude war zuweilen in den Sälen zu erleben, Experimentierlust an anderen Stellen oder auch der Versuch, zum Status quo ante zurückzukehren: "Das unscheinbare Virus trennt erbarmungslos die Spreu vom Weizen: Wer geht wirklich kreativ mit der Herausforderung um?" Weiterhin "wäre mehr Experimentiergeist und Aufbruch als Abwarten gefragt. Die Möglichkeiten unkonventioneller Spielorte, etwa in Kirchen, Fabrikhallen oder auf Naturbühnen, werden erst in Ansätzen genutzt, Freiluftveranstaltungen treffen bei manchen Etablierten auf künstlerische Vorbehalte. Die Kleineren agieren auch hier wendiger und haben zudem neue Formen der Interaktion zwischen Musikern und Publikum erprobt."

Weitere Artikel: Markus Schneider (Berliner Zeitung) und (Tagesspiegel) blicken gespannt auf das digital stattfindende Berliner Festival Pop-Kultur. Andreas Busche porträtiert im Tagesspiegel Matt Fidler, den Betreiber des Post-Rock-Labels Thrill Jockey, das er von Großbritannien nach Berlin verlegt hat. Auch für Standard-Kritikerin Amira Ben Saoud ist das Video "WAP" von Cardi B und Megan Thee Stallion (wie zuvor schon für Joachim Hentschel in der SZ) der "Popkulturmoment des Jahres". Christina Rietz erkundigt sich für die Zeit bei Rainer Küchl, dem früheren Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, wie es ihm in der Rente geht. In der FAZ berichtet Jesper Klein vom Molyvos Musikfestival, das in diesem Jahr unter freiem Himmel und im Netz stattfindet. Ljubiša Tošić erinnert im Standard an Charlie Parker, der am 29. August 100 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden unter anderem eine Neuauflage von Thomas Kapielskis und Frieder Butzmanns Album "War Pur War" (taz), Nubya Garcias "Source" (taz, mehr dazu hier), Igor Levits Auftritt beim Lucerne Festival (NZZ), ein Konzert der Saxofonistin Valentine Michaud (NZZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter Helge Schneiders "Mama" (SZ).
Archiv: Musik