Efeu - Die Kulturrundschau

Charme des Provisorischen

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27.08.2020. Der Tagesspiegel landet mit Diao Yinans Film "Der See der wilden Gänse" in der neonbunten, aber auch elenden Provinz Chinas. Der Berlinale fliegt gerade ihre Entscheidung um die Ohren, nur noch einen genderneutralen Preis für schauspielerische Leistungen zu vergeben: Das geht nur auf Kosten der Frauen, rufen die Kritiker. Die taz feiert den Fotografen Michael Schmidt. Die FAZ amüsiert sich mit Alessandro Melanis Barockoper "L'empio punito".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.08.2020 finden Sie hier

Film

Nüchterne Bewegungsstudie: Diao Yinans "See der wilden Gänse"

Dass Wuhan im Jahr 2020 traurige Berühmtheit erreichen wird, konnte der chinesische Regisseur Diao Yinan, der mit "Feuerwerk am hellichten Tag" 2014 den Goldenen Bären der Berlinale gewann, noch nicht ahnen, als er dort "Der See der wilden Gänse" drehte. Aber auch abseits dessen findet die Kritik an diesem Neon-Noir-Thriller einiges von Interesse: Ein Gangster gerät hier in die Fronten eines Bandenkriegs und die Polizei ist ihm auch noch auf den Fersen. Für Perlentaucher-Kritiker Janis-El Bira ist der Film trotz aller Gewaltspitzen "eher Vexierspiel als Genrepastiche, eher nüchterne Bewegungsstudie à la Bresson als Style-Klamotte." Und einige exzentrische Ideen leistet der Film sich auch: "Auf einem Nachtmarkt kommt es zum Schusswechsel, während die mit Leuchtdioden versehenen Sohlen von Tänzern zum Schlager 'Dschingis Khan' über den Asphalt gleiten; bei einer Verfolgungsjagd im Zoo blinzelt ein Dickhäuter knopfäugig wie ausgestopft zwischen dem Grün hervor. Hier entwindet sich der Film genauso der leichten Kitschnähe seiner Noir-Schönheit wie dort, wo "Der See der wilden Gänse" Realitätssplitter des chinesischen Provinzalltags gegen das bunte Neonlicht stellt."

Dieser Film "ist eine wahre Feier der Schauwerte, der Neonlichter, der sich selbst genügenden Gesten", schreibt Till Kadritzke im Tagesspiegel. "Und doch ist Yinans vierter Film keine bloße Stilübung, er erzählt auf Umwegen auch von Elend und Überwachung im heutigen China jenseits der im Westen bekannten Metropolen." Maniriertes Effektekino mit immerhin "hübsch anzusehenden Schauwerten" sah tazler Fabian Tietke: "Es ist keine kleine Leistung der Protagonist_innen, das filigrane Ränkespiel der Figuren inmitten all der blitzenden Bildwelten sichtbar zu halten."

Die Entscheidung der Berlinale, den Silbernen Bären für die beste schauspielerische Leistung künftig nicht mehr je an einen Mann und eine Frau, sondern eine einzige Auszeichnung und diese aber genderneutral zu vergeben, war sicher gut gemeint, fliegt der Festivalleitung jetzt aber um die Ohren: Dieser "pseudogenderneutrale" Preis werde nichts an der Chancenungleichheit ändern, sondern sie "im Gegenteil noch verstärken", heißt es in einer Pressemitteilung der Initiative Pro Quote Film. Der Deutsche Schauspielverband spricht von einem "Bärendienst". Durchaus plausibel findet Hannah Pilarczyk vom Spiegel diese "geharnischte Rhetorik", denn "interessante, gehaltvolle Rollen gibt es für Schauspielerinnen weit weniger als für Schauspieler. Frauen führen seltener Filme an, haben deutlich weniger Szenen und deutlich weniger Wortanteile." Andererseits unterstreicht Pilarczyk: Ein Preis für die beste Schauspielerin habe auch in der bisherigen Festivalgeschichte nicht zu vollendeter Gleichberechtigung geführt. Auch Andreas Busche vom Tagesspiegel findet: "Der im Prinzip progressive Vorstoß der Berlinale zielt schlicht an den Realitäten vorbei. ... Die Berlinale nimmt den zweiten Schritt vor dem ersten. Zunächst müssten die Grundlagen geschaffen werden, bevor man über die Abschaffung genderspezifischer Darstellerpreise spricht."

Besprochen werden Christopher Nolans "Tenet" (Perlentaucher, Presse, NZZ, Golem, mehr dazu hier und dort), Ryan Whites Porträtfilm "Fragen Sie Dr. Ruth" über die Sexualtherapeutin Ruth Westheimer (Spiegel, taz, Berliner Zeitung), die Netflix-Dokuserie "High Score" über die Geschichte der Videogames (FAZ) und Fellinis erster Film "Der weiße Scheich" von 1952, der als Blu-Ray wiederveröffentlicht wird (Berliner Zeitung).
Archiv: Film

Kunst

Miichael Schmidt, Stadtoberinspektor beim Bezirksamt Wedding, aus Berlin- Wedding, 1976-78. © Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt

Auch Steffen Siegel zeigt sich in der taz äußerst beeindruckt vom Werk des autodidaktischen Fotografen Michael Schmidt, das derzeit in Berlin in einer großen Retrospektive zu betrachten ist. Etwas - ganz unnötig - defensiv ist seine Bewunderung allerdings: "Entdecken lässt sich im Hamburger Bahnhof ein Soziologe, der mit fotografischen Mitteln seine Gegenwart weit mehr als nur beschrieb. Es ist mit Händen zu greifen, wie wenig sich Schmidt hinter seiner Kamera versteckte. Ganz offenkundig suchte er die Kommunikation mit jenen Menschen, deren Lebensräume er erfasste. So stellte er bereits in den frühen 1970er Jahren seine Arbeiten auf dem U-Bahnhof Möckernbrücke aus. Zur Eröffnung seiner Ausstellung 'Ausländische Mitbürger in Kreuzberg' wiederum ließ er das Plakat viersprachig drucken - neben Deutsch auch auf Türkisch, Serbokroatisch und Griechisch. Eine solche Geste bedeutet wohl das Gegenteil von fotografischem Voyeurismus." (Wer mehr über Schmidt lesen will, sei noch auf diesen Artikel von Perlentaucher Thierry Chervel verwiesen, über Schmidt und die Werkstatt für Photographie in Kreuzberg.)

Weiteres: LensCulture stellt die Gewinner des Critics' Choice Fotopreises von 2020 vor. Im Guardian schreibt Fiona Gruber den Nachruf auf den australischen Künstler John Nixon. Besprochen werden weiter die Ausstellung "Gezeichnete Stadt. Arbeiten auf Papier 1945 bis heute" in der Berlinischen Galerie (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Szene aus L'empio punito. Foto: Birgit Gufler


Alessandro Melanis Oper "L'empio punito" hat als erste überhaupt 1699 den Wüstling Don Juan auf die Bühne geholt, erzählt in der FAZ Werner M. Grimmel, der eine Aufführung bei den Innsbrucker Festwochen Alter Musik erlebte und sich offenbar prächtig unterhalten hat: "Die genial auf einfachste Mittel setzende Innsbrucker Inszenierung von Silvia Paoli lebt vom Charme des Provisorischen. Auf Andrea Bellis Bühne erscheinen zur tänzerischen Einleitungsmusik hoch über drei grauen Wänden vier Amoretten mit blondem Lockenschopf, Flügelchen, kurzen Lederhosen und roten Turnschuhen. Auch die anderen Kostüme von Valeria Donata Bettella kombinieren barocke Optik mit Anleihen bei Tiroler Trachten. ... Mariangiola Martello dirigiert Melanis vokal stets kantable, farbig instrumentierte Musik umsichtig vom Cembalo aus. Das kleine "Barockorchester: Jung" mit zwei Violinen, Viola da gamba, Cello, Violone, zwei Blockflöten, Fagott und zusätzlichem Cembalo bezaubert mit sattem Sound und betörenden Soloeinlagen. Großartig meistert die schwedische Mezzosopranistin Anna Hybiner den einst für einen Soprankastraten komponierten Part des notorischen Schürzenjägers Acrimante.

Außerdem: Die nachtkritik streamt noch bis morgen 18 Uhr die Lecture-Cartoon-Serie "Zombie TV. To live and die with the Virus" von Elisabeth Bronfen, Barbara Weber, Kati Rickenbach, Yannik Böhmer & Dominic Huber. Besprochen werden Marlene Monteiro Freitas' "Mal - Embriaguez Divina" beim Sommerfestival Kampnagel Hamburg (nachtkritik) und Kleists "Der zerbrochne Krug" mit dem Ensemble des Theaters 89 beim Sommer-Theater in Rheinsberg (Berliner Zeitung).
Archiv: Bühne

Literatur

Im Dlf Kultur unterhält sich Jule Hoffmann mit der Autorin Ronya Othmann über deren Debütroman "Die Sommer". Othmanns Vater war als staatenloser jesidischer Kurde 1980 aus Nordostsyrien über die Türkei nach Deutschland geflohen, und 2014, da hatte sie schon begonnen, an "Die Sommer" zu schreiben, überfielen der IS die jesidischen Dörfer im Nordirak - "'nachdem meine Großmutter und auch mein Onkel und seine Frau und die Kinder geflohen sind, kurz nach dem Genozid.' Schon ein bisschen davor, als die Lage schon so schwierig war, habe sie bereits angefangen, so etwas wie Listen zu machen, was es im Dorf alles gibt. Die durch den IS unmittelbar vom Verschwinden bedrohte Dorfwelt ihrer Familie war für Ronya Othmann Anlass, eine Bestandsaufnahme zu machen. Sie wollte schriftlich festhalten, was sie wusste, woran sie sich erinnerte und was sie in Erfahrung bringen konnte."

Schriftsteller Ian McEwan weiß im Tagesspiegel-Gespräch über Goethe, wie man die Briten zurück nach Europa holen könnte: "Geben Sie jedem von uns die Goethe-Medaille!" Auch ansonsten gibt es viele Komplimente: "Wenn ich jemand auf einen fernen Planeten schicken sollte, der die menschliche Spezies vertritt, dann wäre es Goethe" und nicht etwa Alexander von Humboldt, denn der "hat nicht auch noch fantastische Romane, Gedichte und Dramen geschrieben. Goethe hatte vielleicht den Vorteil, in einer Zeit zu leben, in der ein einzelner Mensch nahezu das gesamte vorhandene Wissen erfassen konnte. Danach war das nicht mehr möglich."

Außerdem: Für die Berliner Zeitung spricht Cornelia Geißler mit dem Kinderbuchautor Paul Maar, der in seinem neuen Buch "Wie alles kam" aus seiner Kindheit erzählt. Besprochen werden unter anderem Ronya Othmanns "Die Sommer" (taz), Mary Maclanes wiederentdeckte Texte in "Ich erwarte die Ankunft des Teufels" (online nachgereicht von der Welt), Zeps Öko-Comic "The End" (Tagesspiegel), Slavoj Zizeks "Hegel im verdrahteten Gehirn" (SZ) und Han Kangs Prosa-Bildband "Weiß" (FAZ). Mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.
Archiv: Literatur

Musik

Auf ZeitOnline amüsiert sich Jens Balzer über das insbesondere in den USA enorme Echo auf das "WAP"-Video von Cardi B und Megan Thee Stallion, das sexuell ordentlich hinlangt (mehr dazu bereits hier) und einige Kommentatoren zu peinlichen Offenbarungseiden treibt. Etwa den Politiker James P. Bradley, der den Rapperinnen eine Krankheit unterstellt, da die Vagina einer Frau "bekanntlich trocken" sei: "Dass Rap-Texte eine Neigung zur sexuellen Explizitheit besitzen, ist andererseits keine neue Erkenntnis", schreibt Balzer, "führt aber nur selten noch zu nennenswerten Debatten - schon gar nicht, wenn es Männer sind, die die Größe ihres Glieds berappen und ihre Qualitäten als Hengst. Erst jetzt, wo zwei Frauen von ihrer sexuellen Souveränität künden und von der Lust an ihrem Körper, fürchtet das konservative Amerika die kulturelle Apokalypse", dabei sehe man in dem Video doch "nichts anderes als eine vollendete Emanzipation."

Warum schreiben in Deutschland eigentlich hauptsächlich Männer über dieses Video? Eine weibliche Stimme finden wir immerhin im Guardian. Dort verteidigt Dream McClinton das Video vor dem Backlash in den USA: Die Weigerung der Rapperinnen "die Anbahnung von Geschlechtsverkehr allein nur mit der Absicht zu verhandeln, Männern zu gefallen, entledigt sich des herabwürdigen Narrativs, das Frauen ihrer sexuellen Selbstbestimmung beraubt. In 'WAP' setzen sie ihre Lust auf eine Weise durch, die ihre Freude an erste Stelle setzt, nicht die eines Mannes."

Weitere Artikel: Für die Berliner Zeitung plaudert Johannes Weizsäcker mit dem Popduo Erasure. Für die NZZ porträtiert Thomas Schacher das Schweizer Belenus-Quartett.

Besprochen werden Igor Levits Auftaktkonzert für das Musikfest Berlin (Berliner Zeitung, Tagesspiegel, einen Mitschnitt soll es ab 31. August an dieser Stelle geben) sowie der Auftritt von Anna Netrebko und Yusif Eyvazov in Salzburg (Standard).
Archiv: Musik