Efeu - Die Kulturrundschau

Le Grand Puzzle

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28.08.2020. Das Moma eröffnet nach dem Lockdown mit einer großen Schau über den Sammler, Anarchisten und Dandy Félix Fénéon, berichtet die New York Times. In der SZ erklärt Direktorin Hedwig Fijen das Selbstverständnis der Manifesta, die am Freitag in Marseille eröffnet. NZZ und SZ bestaunen das neue Basler Stadtcasino von Herzog & de Meuron. Die FAZ fragt: Warum reagierte jahrelang niemand auf Berichte über Missstände an der Staatlichen Ballettschule Berlin?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.08.2020 finden Sie hier

Kunst

Félix Vallotton, "Félix Fénéon at La Revue blanche," 1896. Private collection


Das Moma in New York will nach dem Lockdown mit einer großen Schau zu Félix Fénéon eröffnen, einem Sammler, Anarchisten und Dandy, Entdecker von Seurat und den Neoimpressionisten, berichtet Roberta Smith in der New York Times. "Er war in den Jahrzehnten um die Wende zum 20. Jahrhundert einer der geschäftigsten und faszinierendsten Akteure in den Pariser Kulturkreisen. Als eingefleischter Dandy arbeitete er als Kritiker, Herausgeber, Übersetzer, Kurator, Journalist, Verleger, Galerist, Privathändler und vorausschauender Sammler nicht nur der französischen Avantgarde, sondern auch der nicht-westlichen Kunst, insbesondere der afrikanischen Skulptur, deren ästhetischen Wert er früh erkannte. Wie viele Künstler und Schriftsteller seiner Generation war er ein selbsternannter Anarchist, der von der Polizei überwacht und einmal verhaftet wurde. Kurz gesagt, allein die Lektüre der detaillierten Chronologie im Schatz der Ausstellung, einem Katalog, kann anstrengend sein."



Am Freitag eröffnet in Marseille die 13. Kunstschau Manifesta - ohne Party und mit weniger Arbeiten, die bis Oktober auch immer nur peu a peu gezeigt werden, aber immerhin. Über das Selbstverständnis der Manifesta sagt Direktorin Hedwig Fijen im Gespräch mit der SZ: "Wir sind schon lange kein elitäres Kunstprojekt mehr - wenn wir es überhaupt je waren - sondern eher ein Brennglas, das sich auf die Welt richtet, jeweils am Ort der Austragung. In Palermo haben Theoretiker, Architekten, Urbanisten untersucht, wie sich eine Stadt, die so lange von organisierter Kriminalität beherrscht war, entwickeln kann. Der interdisziplinäre Ansatz unserer Arbeit ist uns im Laufe der Jahre immer wichtiger geworden." In Marseille nun sei die "Grundlage aller Projekte Winy Maas' Studie 'Le Grand Puzzle' über Marseille. Sie ist eigentlich eine Handlungsanleitung und wird für die neue grüne Bürgermeisterin Michèle Riburola ein Instrument sein, um gemeinsam mit den Bürgern die Zukunft ihrer Stadt zu überdenken und zu gestalten."

Weiteres: Banksy finanziert der Sea-Watch ein Schiff zur Rettung von Flüchtlingen, meldet Zeit online.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Videoarbeiten und Installationen von Julie Favreau in der Schwartzschen Villa in Berlin-Steglitz (taz), eine Ausstellung mit dem Werk des dänischen Maler Bertel Thorvaldsen im Flensburger Museumsberg (taz), die Retrospektive "Aufbruch & Rausch" im Zürcher Strauhof, die an Bice Curigers Ausstellungen in den 70ern und 80ern dort erinnert (NZZ) und die große Michael-Schmidt-Retrospektive im Hamburger Bahnhof in Berlin ("Andere Fotografen haben nach dem einen Bild gesucht, das die vielen ersetzt. Michael Schmidt hat mit vielen Bildern das eine, unsichtbare, ungreifbare umkreist", notiert Andreas Kilb in der FAZ).
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Architektur

Herzog & de Meuron haben das Basler Stadtcasino umgebaut. In der NZZ freut sich Christian Wildhagen und hofft auf einen Effekt, wie ihn die "Elphi" für Hamburg hat. Schon die Verbindung des Neubaus mit Altbau und Barfüßerplatz findet er in ihrer "Stil-Polyfonie der unterschiedlichen Architektursprachen" fabelhaft gelungen. "Der gleichwohl spielerisch anmutende Theaterdonner löst sich umso stimmiger auf, sobald man die eigentliche Herzkammer betritt. Der Konzertsaal wirkt mit seinen aufgefrischten Rot- und Erdtönen sehr warm, fast wohnlich und privat. Äußerlich sonst nahezu unverändert, enthüllt er erst auf den zweiten Blick, was hier alles im Detail verändert wurde. Zu den wichtigsten Elementen gehören ein prächtiger, zur Optimierung der Akustik schwebend aufgehängter Holzboden mit integrierter Quellluftzuführung und eine ebenfalls akustisch optimierte Bestuhlung; ferner ein variables Orchesterpodium sowie neue Spezialfenster - zum Stückpreis von 100.000 Franken. Sie sollen künftig wieder Tageslicht in den Saal lassen und gleichzeitig das notorische Gerumpel der Trambahnen vor dem Haus ausblenden - was weitgehend gelingt."

Auch Michael Stallknecht zeigt sich in der SZ beeindruckt von der Intelligenz und Zurückhaltung des Umbaus. Und: "An den Kostenrahmen haben sich Herzog & de Meuron entgegen ihrem Ruf gehalten, weil er im Gegensatz etwa zur Hamburger Elbphilharmonie von Beginn an mit bürgerlichem Realismus kalkuliert war."
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Literatur

Im Dlf Kultur porträtiert Tobias Wenzel den bosnischen Schriftsteller Dževad Karahasan, der in diesem Jahr mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt ausgezeichnet wird. Auf die Gegenwart blickt er, der den Zerfall Jugoslawiens aus erster Nähe miterlebt hat, pessimistisch: "'Die Demokratie, behaupten manche, konnte nicht ewig dauern. Ja, okay. Aber solange sie existierte, war sie großartig. Sie hat mir ein paar Jahre des Lebens Ruhe, Frieden geschenkt. Und dafür bin ich extrem dankbar', meint der 67-Jährige. Schon spricht er von der noch existierenden Demokratie in der Vergangenheit. Dieser Autor vereint Widersprüche. Im Bosnienkrieg habe ihn der Humor am Leben erhalten, erzählt er. Das Schöne im Schrecklichen, für Dževad Karahasan ist es so notwendig wie das Traurige im Schönen."

Besprochen werden unter anderem Charles Lewinskys "Der Halbbart" (NZZ), Anne Webers "Annette, ein Heldinnenepos" (online nachgereicht von der FAZ), Ingo Roses und Barbara Sichtermanns Biografie über Helena Rubinstein (taz), David Grossmans "Was Nina wusste" (SZ), Katerina Poladjans "Hier sind Löwen" (Intellectures), Monika Marons "Artur Lanz" (FR), Jürgen Hosemanns "Das Meer am 31. August" (Berliner Zeitung) und eine Ausstellung in Berlin von bislang unbekannten Briefen von Else Lasker-Schüler (Tagesspiegel).

Mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.
Archiv: Literatur

Bühne

Eva Behrendt unterhält sich für das Logbuch Suhrkamp mit der chinesischen Autorin Pat To Yan über deren Stück "Die Kurze Chronik des zukünftigen China", das Yan schon 2015 geschrieben hat. Jetzt wurde es von John Birke ins Deutsche übersetzt. Aktuell sei es immer noch, meint Pat To Yan: "Zunächst einmal glaube ich, dass die Dinge, die ich darin beschreibe, immer noch geschehen oder weiterhin geschehen werden. Es gibt zwei Handlungsstränge, der eine ist um das Jahr 2040 herum angesiedelt und handelt vom 'Außenseiter', der Zeuge des Zusammenbruchs der großen Regierungspartei, des gesamten Staatsapparates wird. Dies ist offensichtlich noch nicht der Fall, China ist immer noch sehr stark, zumindest von außen betrachtet. Auch wenn es vielleicht erste Anzeichen für ein Bröckeln der Macht gibt - die Gegenbewegung, nämlich diese Macht durch internationale Beziehungen, große Wirtschaftsprojekte etc. zu sichern und auszubauen, spricht dafür. Dann gibt es noch den anderen Strang mit dem 'Mann, der Schmerz mitansieht' und dem 'unheimlichen Mädchen'. Sie befinden sich ziemlich genau in der Situation, mit der wir es jetzt zu tun haben. Sie versuchen, der Autorität zu entkommen. Nein, leider hat sich meine Sicht auf das heutige China seither kaum verändert."

Warum wurde trotz erster Beschwerden schon 2008 den Hinweisen auf Missstände an der Staatlichen Ballettschule Berlin nicht nachgegangen, fragt Wiebke Hüster in der FAZ. Sie wittert Günstlingswirtschaft zugunsten der Ossis, der Leiter Ralf Stabel und Gregor Seyffert, doch "schriftliche und fernmündliche Anfragen dazu lässt die zuständige Berliner Staatsanwaltschaft seit Wochen unbeantwortet", kritisiert sie. Es habe an der Schule einen inneren Kreis von fünf bevorzugten Personen gegeben, um deren Bedürfnisse herum die Stundenpläne gebaut wurden. "Wer mitmachte, hatte eine Reihe von Vorteilen. Wer den Mund hielt, hatte es leicht, wer den Mund aufmachte, lief Gefahr, gehen zu müssen." Und selbst sexuelle Gefälligkeiten deutet Hüster an: "Dass backstage in der Tanzwelt Sexpartys stattfinden und Besetzungslisten in der Horizontalen geschrieben werden, das hört man aus einigen Compagnien ab und zu. Darüber öffentlich sprechen möchte niemand."

Weitere Artikel: Die Münchner Kammerspiele sind erneut Theater des Jahres, meldet der Tagesspiegel. Rüdiger Schaper unterhält sich für den Tagesspiegel mit dem Ex-Leiter der Kammerspiele, Matthias Lilienthal, über Corona-Spielpläne, Stadionpläne und die Volksbühne.

Besprochen werden Alexander Eisenachs "Der Kaiser von Kalifornien" an der Volksbühne Berlin (nachtkritik), Aufführungen von Joseph Roths "Die Legende vom heiligen Trinker" mit dem Wandertheater Ton & Kirschen in der Ufa-Fabrik und im Jagdschloss Grunewald in Berlin (Berliner Zeitung), ein konzertanter Opernabend mit Tschaikowsky-Arien und Anna Netrebko in Salzburg ("Schon ihr erster Auftritt ist herrlicher Bühnenzauber", seufzt Helmut Mauró in der SZ) und eine Reihe konzertanter Opernaufführungen in der Arena von Verona (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Die iranische, aus einem großen Auftritt in Jafar Panahis Film "Taxi Teheran" bekannte Anwältin Nasrin Sotoudeh, die 2019 zu 33 Jahren Haft und 148 Peitschenhieben verurteilt wurde, befindet sich im Hungerstreik (unser Resümee), meldet Christiane Peitz im Tagesspiegel, und zwar "aus Protest dagegen, dass zwar zehntausenden inhaftierten Kriminellen wegen der Pandemiegefahr Hafturlaub gewährt wurde, nicht aber den Bürgerrechtlern." Die Lage ist kritisch: "Blutdruck und Blutzuckerspiegel schwanken stark, wegen ständiger Übelkeit kann sie nicht genug Wasser und Zucker zu sich nehmen." (Unser Resümee
 
Auf Artechock hält auch Rüdiger Suchsland überhaupt nichts vom Plan der Berlinale, die beiden Preise fürs beste Schauspiel künftig auf eine einzige, dafür aber genderneutrale Auszeichnung zusammenzuschmurgeln (unser Resümee): Das Festival habe wohl "Angst vor den Protesten der Lobbys des 'Dritten Geschlechts', mögen diese auch noch so klein sein." Hierin zeige sich "wie sich unsere Gesellschaft selbst fesselt, wenn sie sich auf das Paradigma der Diversität bzw. der Repräsentation überhaupt einlässt. Dann bleibt bald nur die Wahl zwischen falschen Alternativen. Dies sind die Dilemmata der Identitätspolitik. Wer sich auf das Denken in Gruppen-Identitäten einlässt, wird immer wieder solche Konflikte entfachen. Der Gegensatz zu Identität heißt nicht Diversität, sondern Universalität."

Weitere Artikel: In der NZZ staunt Andreas Scheiner, in welch kurzer Zeit die Schauspielerin Paula Beer zum Aushängeschild des deutschen Films geworden ist. Bert Rebhandl empfiehlt im Standard die Reihe "Women Make Film" im Österreichischen Filmmuseum. Till Kadritzke schreibt im Filmdienst einen Nachruf auf die Schauspielerin Linda Manz.

Besprochen werden die Ausstellung "The Sound of Disney" im Filmmuseum in Frankfurt (Filmdienst), Christoper Nolans "Tenet" ("eine missglückte Wagner-Inszenierung", meint Magnus Klaue auf ZeitOnline, "räumlich präzises, physisch intensives und kinetisch spektakuläres Actionkino" sieht hingegen Zeit-Kritiker Sebastian Markt, unsere Kritik hier), Diao Yinans "See der wilden Gänse" (Berliner Zeitung, mehr dazu hier), Massoud Bakhshis "Yalda" (Tagesspiegel), Vlad Feiers "Still here" (Tagesspiegel), Ryan Whites Dokumentarfilm "Fragen Sie Dr. Ruth" über die Sexualtherapeutin Ruth Westheimer (Tagesspiegel, FAZ) und Klaus Lemkes neuer, in München uraufgeführter Film "Ein Callgirl für Geister" (SZ).
Archiv: Film

Musik

Das Vorspielen hinter dem Vorhang hat nicht gerade zu mehr Diversität in den Orchestern geführt, beobachtet Hannah Schmidt auf ZeitOnline in einem langen, das Phänomen untersuchenden Artikel. Ein möglicher Grund dafür: "Durch die geringe Repräsentation bestimmter sozialer und ethnischer Gesellschaftsgruppen in den Orchestern entsteht oft gar nicht erst ein Interesse an klassischer Musik. Folglich findet schon bei Kindern die Berührung mit dem Gegenstand sehr viel später statt als in Familien, die schon über Generationen hinweg an europäischer Musikkultur teilhaben können."

"Das Musikmachen insgesamt ist problematisch geworden", erklärt Winrich Hopp, künstlerischer Leiter des Musikfestivals Berlin, im FAZ-Gespräch. Das Festival beginnt heute Abend mit einem Konzert der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim. Ein Aspekt des Konzertbetriebs wurde in den letzten Monaten meist übersehen: "Wenn wir über Musik reden, meinen wir meistens Konzerte, aber wir müssen uns darüber klarwerden, dass auch das gefährdet ist, was vor den Konzerten stattfindet: nämlich die Proben. ... Alles in allem ist die Pandemiezeit eine Mangelzeit. Es können gar nicht genug Konzerte gegeben werden, um die Orchesterdienste abzurufen, die Abonnentenverträge zu erfüllen und Tickets im freien Verkauf anzubieten. Dadurch entstehen Ausgrenzungen." Begegnen möchte man dem mit einem Digitalprogramm.

Die NZZ hat aus ihrer Sonntagsausgabe das große Gespräch mit den Schweizer Kunst-Pop-Soundtüftlern Yello online nachgereicht. Der kreative Mastermind hinter dem Projekt, Boris Blank, schwärmt von seinen Klangexpeditionen im Feld: "Es gibt nichts Schöneres, als etwas zu suchen, zu finden, die Nüsse wie ein Eichhörnchen ins Depot zu bringen und im Winter hervorzuholen und zu verwerten. Ich habe Tausende von Ordnern auf meinem Computer, die mit Fragmenten von Sounds, Rhythmen, Geräuschen gefüllt sind, von denen ich denke, dass ich sie irgendwann einmal verwenden und zusammenführen kann." Im übrigen empfiehlt uns Blank noch das Schweizer Onlineradio Open Broadcast, das er ziemlich aufregend findet.

Weitere Artikel: Stephanie Grimm (taz) und Tobi Müller (Dlf Kultur) berichten von der Berliner "Pop-Kultur", das in diesem Jahr als Videofestival im Netz stattfindet. Franziska Buhre erinnert in der taz an Charlie Parker, der morgen 100 Jahre alt geworden wäre. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Cornelius Dieckmann über "Die Nacht" von Wir sind Helden. Für die Welt hat sich Reinhard Mohr mit dem Musiker Frank Wolff getroffen, der heute 75 Jahre alt wird.

Besprochen werden die Ausstellung "Deutsches Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music" im Mousonturm in Frankfurt (FR), Bettye LaVettes Album "Blackbirds" (FR), Saults Album "Untitled (Black Is)" (Standard), Katy Perrys Album "Smile" (Standard) und Bright Eyes' Comebackalbum "Down in the Weeds..." (Presse).
Archiv: Musik