Efeu - Die Kulturrundschau

Klang eines britischen Amphibienfahrzeugs

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29.08.2020. Entsetzt blickt Kurt Drawert in der FAZ auf die Welle an Corona-Literatur, die der Herbst bereithält: Wo bleibt da die Hingabe, seufzt er. Ebenfalls in der FAZ träumt Volker Schlöndorff von einer Renaissance des Autorenfilms. Im Zeit-Online-Interview spricht der Regisseur Massoud Bakhshi über häusliche Gewalt und patriarchale Repression im Iran. Die SZ tanzt mit Marlene Monteiro Freitas auf Kampnagel ein dämonisches Evangelium mit Bataille, Tschaikowski und Kafka. Und die Orchester dürfen wieder näher zusammenrücken, freut sich die taz
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.08.2020 finden Sie hier

Literatur

Mit blankem Unverständnis reagiert der Schriftsteller Kurt Drawert in einem FAZ-Essay  auf jene Berufskollegen, die jetzt schon mit Texten zur Coronalage um sich werfen, und vor allem auch auf die Erwartungshaltung, dass schon in diesem Herbst das große literarische Werk zur Krise vorzuliegen habe. Literatur von Wert aber ist überzeitlich, hält er fest. Sie dringe vor in die Strukturen der Existenz, in die darin geschlagenen Traumata - doch  dafür "ist der reflexive Effekt der Verzögerung nötig, dieser grandiose Umweg über den Körper, wo er mehr ist als instrumenteller Verstand und die Schichten des Vor- und des Unbewussten an der Entstehung des Textes mitwirken lässt. ... Ebenso nun, wie der Autor den Rahmen der Zeit nicht bestimmt, in dem er seinen Stoff bewältigt, verfügt er darüber, welcher Stoff zur Bewältigung drängt. Es ist eine naive Vorstellung, ihn sich als einen Souverän seiner Sache zu denken; vielmehr geht diese Sache durch ihn hindurch wie das Wasser durch eine Schleuse, die geöffnet wurde."

Außerdem: Das Literaturfeature des Dlf Kultur befasst sich mit arabischen Lyrikerinnen und Lyrikern im Exil.

Besprochen werden unter anderem Dorothee Elmigers Romanessay "Aus der Zuckerfabrik" (Zeit), David Grossmans "Was Nina wusste" (taz), Holger Schulzes Studie "Ubiquitäre Literatur" (Freitag), Charles Lewinskys "Der Halbbart" (FR), ein Luxus-Bildband zur Geschichte von EC Comics (SZ), Marius Goldhorns "Park" (online nachgereicht von der FAZ), Sandra Gugićs "Zorn und Stille" (Standard), Jeremy Tiangs "Das Gewicht der Zeit" (FAZ) und Helen Wolffs "Hintergrund für die Liebe" (Literarische Welt).
Archiv: Literatur

Bühne

Bild: Charlotte Haffke.


In der SZ feiert Dorion Weickmann ein "herrlich dämonisches Evangelium" auf Kampnagel mit Marlene Monteiro Freitas' Tanzfest "Mal - Embriaguez Divina" - einer von "Georges Bataille befeuerten Auseinandersetzung mit sämtlichen Übeln der Welt", wie sie erklärt: "Ihren Höhepunkt erreicht die Performance mit Pjotr Tschaikowskis 'Schwanensee', der zum achtzehnhändigen Klatschballett mutiert. Von der Empore applaudieren lilafarben behandschuhte Hände im Rhythmus des Finales, verwandeln sich in Schwanenflügel, in Mordinstrumente, in Werkzeuge eines Blutrauschs. Irre züngelnde Blicke greifen nachdem Publikum, bis mit Tommaso Albinonis 'Adagio' buchstäblich Friedhofsruhe einkehrt: Eine Frau, erlegt in Pina-Bausch-Manier durch Reißen am Haarschopf, hängt schlaff und leblos in der Kirchenbank. Ein paar Satzfetzen aus Franz Kafkas 'Prozess' ziehen über sie hinweg, dann versinkt die Szenerie in totaler Finsternis."

Bild: Julian Röder

Ein wenig müde kommt Katrin Bettina Müller in der taz aus dem von Alexander Eisenach geschriebenen und inszenierten Stück "Der Kaiser von Kalifornien", das gerade seine Uraufführung an der Volksbühne feierte und die Kritikerin in ein paar Sprüngen von den Goldgräbern über Derivatenhändler bis ins Silicon Valley führt und dabei auch das Thema Kolonialismus aufgreift: "Man fühlt sich ein wenig, als hätte man einen Abenteuerroman kaufen wollen und stattdessen ein Sachbuch in den Händen, von frischen Studienabgängern der Soziologie oder Ökonomie geschrieben. Die Reden der Figuren, von denen man nur aus der Vorankündigung weiß, dass sie auf historischen Vorlagen beruhen, sind metaphernreich, essayistisch, sie entwerfen verschiedene Konzepte von Glück, von Fortschritt, von Kapitalismus, die sie im großen Showdown mit Pistolen und Gewehren gegeneinander verteidigen." In der Berliner Zeitung meint auch Doris Meierhenrich: "Allein das schwarz-weiße Licht und die filmischen Mehrfachüberblendungen, die Wildwest-Szenen, den 'Pocahontas'-Mythos und das reale Bühnengeschehen verzahnen, verwandeln den Raum in ein Labyrinth aus vielen Zeiten und Erzählhaltungen. Leider verliert diese luftige Tiefe durch den sich heillos übernehmenden Text bald jede Bodenhaftung."

Weiteres: In der taz blickt René Hamann auf die kommende Spielzeit. Ebenfalls in der taz spricht Astrid Kaminski mit Matthias Mohr, dem künstlerischen Leiter des Radialsystems, über seine Programmreihe "New Empathies" und über Mitgefühl in Zeiten der gesellschaftlichen Spaltung. Im Tagesspiegel wünscht Sandra Luzina nach ihrem Besuch der Gala "From Berlin with love" in der Deutschen Oper dem Staatsballett Berlin bald wieder größeres Publikum. Ebenfalls im Tagesspiegel berichtet Andrea Dernbach von der Posse um eine von der umbrischen Gemeinde Massa Martana vereitelte Aufführung des Stücks "Mistero buffo" von Dario Fo und Franca Rame.
Archiv: Bühne

Kunst

Bild: Jürgen Wittdorf. Sommerurlaub, Zyklus für die Jugend / 1961. Holzschnitt, 80 x 58 cm. Sammlung Linkersdorff

Was für ein Glück, dass das Werk des Ostberliner Malers Jürgen Wittdorf, der nach dem Ende der DDR keinen Auftrag mehr bekam und verarmt starb, von dem Galeristen Jan Linkersdorff vor dem Trödel gerettet wurde, atmet Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung nach dem Besuch im Kunstverein Ost e.V. auf: "Seinen Durchbruch als Künstler in der DDR erlangte Wittdorf mit Motiven von Jugendlichen, keine pathetischen Arbeiter- und Bauernhelden, sondern Suchende, leicht Revoltierende mit ihren Träumen und Sehnsüchten, in Gruppen, mit Mopeds und Motorrädern, Jeans und Lederklamotten, beim Rock'n'roll-Tanzen, am Ostseestrand. Kulturfunktionäre haben den Künstler dafür der 'Verwestlichung' bezichtigt. Umso mehr liebte die Jugend seine Bilder. Eines erreichte geradezu Kultstatus in der begehrten Zeitschrift Magazin: ein junger Mann mit Baby und Einkaufsnetz; Titel: 'Noch kein Bartwuchs und schon Vater'."

Weiteres: Die Schenkung von Max Liebermanns "Große Seestraße in Wannsee" durch die Schweizer Eidgenossenschaft an die Berliner Max-Liebermann-Gesellschaft soll wegen "ungetreuer Geschäftsbesorgung" untersucht werden, schreibt der Rechtsanwalt Florian Schmidt-Gabain in der NZZ. Im vergangenen Dezember tauchten die im Jahr 1979 aus der Herzoglichen Kunstsammlung zu Gotha gestohlenen, vierzig Jahre verschollenen Gemälde von Jan Lievens, Hans Holbein dem Älteren, Frans Hals, Anthonis van Dyck und Jan Brueghel, dem Älteren plötzlich wieder auf. Auf den Buch-Zwei-Seiten der SZ rekonstruiert Philipp Bovermann die Ereignisse. Besprochen wird die Ausstellung "Die Welt im BILDnis" im Frankfurter Museum Giersch (FR).
Archiv: Kunst

Film

Vergeltung und Vergebung im TV: "Yalda" von Massoud Bakhshi.

Eine Fernsehshow im Iran als Spektakel darüber, ob über eine Frau die Todesstrafe verhängt wird - je nachdem, ob die Hinterbliebenen vor laufender Kamera der Täterin verzeihen: Die Prämisse von "Yalda" hat eine reale Vorlage, erfahren wir im ZeitOnline-Gespräch mit dem Regisseur Massoud Bakhshi. Der Film hat einen feministischen Hintergrund, erklärt er: "Es gibt einige sehr gute Dokumentarfilme von Regisseurinnen, die sich mit der Situation in den iranischen Frauengefängnissen auseinandersetzen, in denen junge Mütter teilweise mit ihren Kindern leben. Es sind meistens Frauen aus sozial schwächeren Familien. Diese Filmemacherinnen haben ihre Protagonistinnen über einen längeren Zeitraum begleitet und man erfährt in diesen Filmen viel über häusliche Gewalt und patriarchale Repression. Ich habe weiter recherchiert und das Drehbuch immer wieder aktualisiert." Die Frage nach Schuld und Vergebung ist ein weiteres Thema des Films, erklärt der Filmemacher dem Filmdienst: "'Auge um Auge, Zahn um Zahn.' Die Vorstellung der Vergeltung prägt nicht nur das islamische Recht. Vergebung aber hebt die Strafe auf; im Iran wird Vergebung mit dem so genannten Blutgeld bezahlt."

Corona hier, Streaming und Bingewatching dort - das Kino ist dennoch nicht tot zu kriegen, ist Volker Schlöndorff in der FAZ felsenfest überzeugt: "Der Fortsetzungsroman hat auch nicht die gesamte Belletristik hinweggefegt und, wenn der Vergleich stimmt, wird es auch wieder Bergmans und Fellinis geben, Antonionis und de Sicas, Formans und Fassbinders. ... So ist weder der Autorenfilm noch das Kino tot. Beide werden nur von einer neuen Generation neu erfunden werden."

Weitere Artikel: Unter anderem die Tagesschau meldet, dass Chadwick Boseman, der Hauptdarsteller aus "Black Panther", im Alter von nur 43 seinem Krebsleiden erlegen ist. Urs Bühler besucht für die NZZ die Dreharbeiten zu Stefan Jägers Historienfilm "Monte Verità", an dessen Set der Cast in Drehpausen und die Crew fortlaufend Masken tragen - "eine gespenstische Mischung aus Historienbild und Dystopie." In der taz spricht die Schauspielerin Katharina Thalbach über ihre Rolle in "Die Blechtrommel", der zum 40. Jubiläum restauriert wieder in die Kinos kommt. Die alte Idee von interaktiven Serien und Filmen könnte immer noch Potenzial haben, glaubt Sibel Schick in der taz.

Besprochen werden Diao Yinans "See der wilden Gänse" (SZ, unsere Kritik hier), Aritz Morenos "Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden" (Freitag) und Alexander Schuberts Komödie "Faking Bullshit" mit Bjarne Mädel (FAZ).
Archiv: Film

Musik

In der taz sprechen Krautrocklegende Gunther Wüsthoff von Faust und der Elektromusiker Frank Bretschneider über ihre neuen Soloalben. Wüsthoff, der mal als Funker bei der Marine war, plaudert dabei auch über biografische Wurzeln seiner Klangexperimente: Für einen Funker "sind die Zeitskalen andere als im Alltag. Man muss in weniger als einer Zwanzigstelsekunde reagieren können. Das war eine Qualität, die mir, als wir mit Faust zu fünft auf die Bühne gingen und ansatzlos zu improvisieren begannen, enorm weiterhalf. Der andere Aspekt ist wirklich das Geräusch als solches. Die erste große Maschine, die ich bewusst erlebt habe - als Dreijähriger -, war der Klang eines britischen Amphibienfahrzeugs. Sein Blubbern war ausschließlich über das Brustbein wahrnehmbar. Das faszinierte mich nachhaltig."

Ansgar Warner staunt in der taz über den erheblichen Corona-Aufwand, der hinter den Kulissen nötig war, um in diesem Sommer wenigstens mit Ach und Krach ein paar Konzerte vor überschaubarem Saal- und ansehnlichem Online-Publikum zu spielen. Wie geht es nun weiter? Weiterhin schmale Besetzungen, eher kurze statt lange Abende? "Eine von diversen Orchestern in Auftrag gegebene Charité-Studie wurde gerade aktualisiert, die Abstandsregelungen ließen sich demnach lockern. Empfohlen werden nun ein Meter bei Streichern (vorher 1,5 Meter) und 1,5 Meter bei Bläsern (vorher zwei Meter). Eine Plexiglasscheibe als Spuckschutz kann offenbar bei den Bläsern komplett entfallen. Geändert hat sich auch die Einschätzung des Publikums - wer in ein Klassikkonzert gehe, sei 'diszipliniert und hat ein aufgeklärtes Verständnis für gesundheitliche Zusammenhänge', sagt Stefan Willich, Leiter der Studie." Dennoch heißt es aber wohl weiterhin: "Risikoreduktion durch Angebotsreduktion."

Weitere Artikel: In der Zeit porträtiert Wolfram Goertz das Klavierduo Yaara Tal und Andreas Groethuysen. Der Record-Store-Day ist auch nicht mehr das, was er mal war, stellt Julia Lorenz im Freitag fest. Hans-Jürgen Linke (FR), Hans Hielscher (Spiegel) und Ueli Bernays (NZZ) erinnern an Charlie Parker, der heute vor 100 Jahren geboren wurde. Dlf Kultur blickt in einer "Langen Nacht" von Olaf Karnik und Volker Zander auf Ennio Morricone zurück.

Besprochen werden Cecilia Bartolis Auftritt in Salzburg (SZ), das neue Album von Disclosure (Berliner Zeitung), das Auftaktkonzert des Berliner Konzerthauses unter Christoph Eschenbach (Berliner Zeitung), eine Schostakowitsch-Aufnahme von Alban Gerhardt (Tagesspiegel) und das neue, gemeinsam mit einem Orchester aufgenommene Metallica-Album "S&M 2" (SZ).
Archiv: Musik