Efeu - Die Kulturrundschau

Es geht immer um die Sache.

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01.09.2020. In der SZ pocht Marina Abramovic auf die künstlerische Pflichterfüllung. SZ und FAZ feiern Hakan Savaş Micans Großstadtballade "Berlin Oranienplatz", mit dem das Gorki Theater in die neuen Saison startet. In der Welt wünscht Klaus Honnef dem Institut für Fotografie, egal ob in Essen oder Düsseldorf, vor allem ein theoretisches Fundament. Nach dem Aus von Columbia Artists Management fragt Crescendo, ob sich die Dinosaurier der alten Klassikwelt nicht eh überlebt haben. Und dem Guardian offenbart sich im V&A-Museum die schweigend strahlende Schönheit des Kimonos.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.09.2020 finden Sie hier

Bühne

Taner Sahintürk und Falilou Seck in "Berlin Oranienplatz" Foto: Ute Langkafel / Maxim Gorki Theater


Das um sich selbst kreisende Diskurspop-Theater von René Pollesch kann dem harten Realitätscheck unter Coronabedingungen nicht standhalten, erkennt Peter Laudenbach in der SZ nach der Premiere von "Melissa kriegt alles" am Deutschen Theater. Aber Hakan Savaş Mican eröffnete die Saison am Maxim-Gorki-Theater mit seiner Großstadtballade "Berlin Oranienplatz" fulminant, schwärmt Laudenbach. Die "warmherzige Großstadtballade" erzähle vom verkrachten Can, der für fünf Jahre ins Gefängnis soll, weil er gefälschte Markenklamotten vertickt hat, und der jetzt Abschied nimmt, bevor er nach Istanbul flieht: "Er besucht den Freund, der irgendwann mit Cans Jugendliebe eine Familie gegründet hat und jetzt wohl die nächsten 40 Jahre lang seine Eigentumswohnung abbezahlt (Emre Aksizoglu). Es ist eine einzige melancholische Liebeserklärung an Kreuzberg und die Schicksale, die sich zwischen Oranienstraße und Prinzenbad kreuzen. Can, der ehrgeizige, naive Junge mit beschränktem Realitätssinn und den immer etwas zu großspurigen Mackerposen, ein reiner Tor und Großstadtdrifter, hat sein Leben gegen die Wand gefahren. Er scheint immer noch bei jeder Begegnung darüber zu staunen." In der FAZ genießt Irene Bazinger die "leichthändig-humorvolle, musikalisch charmante" Inszenierung. Auch auf ZeitOnline sieht Niels Erich darin eine gelunge Aktualisierung von Döblins "Alexanderplatz".

Marina Abramovic in "7 Deaths of Maria Callas"


Marina Abramovics neue Perfomance "7 Deaths of Maria Callas" wird heute Abend an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt. Es geht darin aber nicht um den Katholizismus, versichert die Künstlerin im Gespräch mit Rita Argauer in der SZ, sondern um die Hingabe - an die Liebe und die Kunst: "Viele Künstler hadern zu Beginn ihrer Karriere. Sie wollen Kunst machen, aber haben so viele Zweifel. Ich habe das Glück, dass ich von einem ganz frühen Stadium an wusste, dass ich Künstlerin werden will. Ich habe das nie hinterfragt. Ich habe nie etwas anderes gemacht. Zum zweiten, und das mag ein kommunistischer Gedanke sein, der aus meiner Erziehung kommt, ist das eigene private Leben nicht wichtig. Es geht immer um die Sache. Es geht nicht darum, glücklich zu werden, sondern darum, was man der Gemeinschaft geben kann. Das ist die Hauptsache. Was bleibt also übrig, wenn man stirbt?"

Weiteres: In der Berliner Zeitung stellt Birgit Walter ungläubig fest, dass sich auch nach acht Monaten Skandalberichten personell nichts an der Staatlichen Ballettschule geändert habe. In der taz sichtet Astrid Kaminski die Performances brasilianischer KünstlerInnen im Online-Programm vom Tanz im August, die zu ihrem Bedauern aber so schlecht aufbereitet seien, dass man sie ohne tiefere Kenntnisse nicht verstehen könne. Harals Raab berichtet in der Nachtkritik vom Auftakt des Kunstfest Weimar. Der Tagesspiegel meldet, dass der Friedrichstadtpalast jetzt unter Denkmalschutz steht.

Besprochen werden Antú Romero Nunes' Schiller-Potpourri "Ode an die Freiheit" am Hamburger Thalia Theater (SZ), Rainer Merkels Stück über eine Hilfsorganisation "Lauf und bring uns dein nacktes Leben" im Staatstheater Darmstadt (FR) und die Ausstellung "Poröse Stadt - Grenzgänge des Urbanen" im Berliner Kunstraum Kreuzberg (Berliner Zeitung).

Archiv: Bühne

Kunst

Anstatt darüber zu streiten, ob das neue Institut für Fotografie nun nach Essen oder Düsseldorf kommen soll, sollten die Akademien und Kunstinstitutionen lieber ihre fotografischen Sammlungen überdenken, rät der Fotografiehistoriker Klaus Honnef in der Welt: "Ausgeblendet werden bei einem derart verengten Konzept die erheblich umfangreicheren Kapitel des Mediums wie die journalistisch-dokumentarische Fotografie, die Mode-, Werbe-, Food- und Eventfotografie, die Sportfotografie sowie die umstrittene Kunstfotografie vor der künstlerischen Fotografie und - die Amateurfotografie. Sie passen trotz ihres ästhetischen Ranges nicht in das Register einer 'freien' Kunst. Für die Praxis der Kunstmuseen ist das derweil egal. Sie verwandelt alle Gattungen des Fotografischen automatisch in künstlerische Fotografie, indem sie die Bilder schick aufbereitet und an die Galeriewand hängt. Eine plausible Theorie des Mediums gibt es aber nach wie vor nicht."

Besprochen werden die Ausstellung "Extra Large" in der Kunsthal Rotterdam, die Tapisserien der Moderne zeigt (taz) und die Schau zur Landschaftsmalerei im Kunsthaus Zürich (NZZ).
Archiv: Kunst

Design

Muster des Kaiserlichen Palastes. Holzschnitt von Utagawa Kunisada, 1847-1852. Bild: V&A Museum

Die große Schau "Kimono: Kyoto to Catwalk" im V&A Museum in London hat zwar im Detail ihre Schwächen, schreibt Susannah Clapp im Guardian, aber davon abgesehen: Was für eine "Offenbarung. In jedem einzelnen Detail findet sich Ruhm, in den Stoffen, ob nun bestickt oder schabloniert, kühn oder delikat bemustert, zugleich sumptuös und simpel, stumm und strahlend. Sie zeigt lebendig, wie ein Kleidungsstück die Geschichte eines Landes fassen kann. Anhand dessen, wie indischer Chintz und französischer Brokat auftaucht, lassen sich die Konjunkturen des japanischen Handels mit der Außenwelt nachvollziehen. Die Strenge der Luxusgesetze lässt sich anhand der kleinen Gesten beobachten, mit denen sie missachtet wurden: Rote Farbe, für die äußere Schicht eines Kimonos verboten, wurde dafür häufig in Futter und Unterwäsche verwendet. Ein Holzschnitt zeigt eine Frau, die mit einem Gefährten flirtet, indem sie ihren Saum etwas hebt, um ihm dem Hauch einer Ahnung von Scharlachrot darunter zu gewähren."

Außerdem: In der taz gratuliert Marielle Kreienborg der Modeikone Iris Apfel zum 99. Geburtstag. Außerdem bespricht Marina Razumovskaya in der taz den von von Dmitri Dergatchev und Wladimir Velminski herausgegebenen Band "Mode & Revolution".
Archiv: Design

Literatur

Die Schriftstellerin Annie Ernaux wird 80 Jahre alt. In Deutschland wurde sie erst spät, im Jahr 2017 entdeckt, erinnert Cornelia Geißler in der Berliner Zeitung. Umso heftiger fällt die Beschäftigung mit ihr aus, was sich auch beim Blick in unsere Presseschauen nachvollziehen lässt. Ihr Schreiben wirkt jung, hält Geißler fest, "weil in ihren Büchern immer der Moment lebendig ist", ohne "dass in ihrem Erzählen die Zeit stillstünde. Sie ergründet deren Vergehen nicht auf herkömmliche Weise. Sie geht von der Gegenwart aus, legt Fotos nebeneinander, liest Zeitungen im Archiv, zitiert Liedzeilen, notiert Worte, deren Bedeutung sich verändert hat." Die Herkunftsscham - Ernaux stammt wie Didier Eribon aus eher bescheidenen Verhältnissen, nicht aus dem kulturell beflissenen Bildungsbürgertum - ist ein zentrales Motiv in ihrem Schreiben, erklärt Christian Baron im Freitag: "Sie durchläuft Stationen eines sprachlosen Lebens. Da erzählt sie, wie sich ihre Mutter immer die Hände wusch, bevor sie ein Buch anfasste, wie sie sich vergeblich ein dialektfreies Sprechen antrainieren wollte, und wie stolz sie war, eine Arbeiterin zu sein, 'aber nicht so sehr, dass sie es immer bleiben wollte'. Ihr wahrscheinlich wichtigstes Buch, 'Die Jahre' (2008), perfektioniert dieses Schreiben. Wie nirgendwo sonst ist Annie Ernaux hier 'Ethnologin ihrer selbst', wie sie sich einmal bezeichnete." In der FAZ gratuliert Sandra Kegel.

Weitere Artikel: Heiner Boehncke erinnert in der FAZ an die Schwestern Hassenpflug, die nach derzeitigem Stand der Forschung etwa 30 Märchen zur Sammlung der Brüder Grimm beigetragen haben.

Besprochen werden unter anderem Elena Ferrantes "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" (SZ), Olaf Veltes Lyrikband "Schmales Licht" (FR) und Heinrich Steinfests "Der Chauffeur" (FAZ). Mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr.
Archiv: Literatur

Film

Dr. Ruth Westheimer


Man darf wohl davon ausgehen, dass "Wet Ass Pussys" für Dr. Ruth kein Problem wären. In der SZ empfiehlt Martina Knoben wärmstens Ryan Whites Film "Fragen Sie Dr. Ruth" über die 92-jährige, 145 Zentimeter große amerikanische Sexualaufklärerin Ruth Westheimer: "Dass Männer und Frauen gleichermaßen Spaß am Sex haben sollen, war für sie immer selbstverständlich. In einer der Archivaufnahmen, mit denen White seinen Film anreichert, tritt Dr. Ruth in einer Talkshow vehement für das Recht der Frauen auf Befriedigung beim Sex ein, indem sie den blue balls der Männer die Wortschöpfung blue lips entgegenstellt. Worauf sich der Moderator der Show vor Verlegenheit windet. Die Intelligenz und Gradlinigkeit Ruth Westheimers, ihr Mut und Humor sind beeindruckend."

Besprochen werden außerdem einige Fernsehdokus über den Wendesommer 1990 (Berliner Zeitung).
Archiv: Film
Stichwörter: Westheimer, Ruth, Talkshows

Musik

Das coronabedingte Aus nach acht Jahrzehnten für die New Yorker Agentur Columbia Artists Management (CAMI) ist ein schwerer Schlag für die Klassik, schreibt Michael Stallknecht in der SZ. Zahlreiche namhafte Künstler und Orchester stehen jetzt ohne Vermittler im wichtigen US-Markt da. Agenturen beziehen ihre Einnahmen lediglich aus Provisionen im Fall tatsächlich erfolgter Konzerte, erfahren wir. Und die wird es in den Staaten auch bis auf weiteres kaum geben: "Größere Konzerte oder gar Opernformate gelten gegenwärtig als politisch nicht durchsetzbar und wären schlicht auch nicht finanzierbar. ... Der Untergang der Cami dürfte nun am stärksten die vielen nicht ganz so prominenten Musiker treffen, denen sie im Fahrwasser ihrer großen Namen Auftritte vermittelte. Gerade Karriereeinsteiger dürften in der gegenwärtigen Lage kaum eine neue Agentur finden."

Etwas weniger apokalyptisch, aber umso kritischer sieht es der Newsletter von Crescendo: Sind die Agenturen, die gerade eingehen, nicht "die Dinosaurier einer alten Klassik-Welt, in der die immer gleichen Orchester und Künstler an allen Orten der Welt zu erleben sind? Vielleicht geht es in Zukunft ja auch eine Nummer kleiner, eine Nummer direkter, eine Nummer persönlicher, eine Nummer intimer. ... Tenor Michael Schade war selber lange bei der CAMI - auf Facebook stellt er nun die kritische Frage, wo eigentlich all die Millionen hin seien, welche die Agentur durch die Künstler gescheffelt habe. Er nennt es das CAMI-System ein 'House of cards' und sieht es nun nicht ganz so erstaunt, wohl aber betroffen, einstürzen - ohne Rücksicht auf die Künstler, die dieses System einst mal fördern wollte."

Weitere Artikel: Der Saisonauftakt im Berliner Pierre Boulez Saal heute Abend wird sich bei der Verteilung des Publikums, das aber auch durchgehend Maske tragen muss, nicht an Berliner Vorgaben, sondern am deutlich engmaschigeren Salzburger Modell orientieren, meldet Frederik Hannsen im Tagesspiegel: Das kann sich der Spielort erlauben, weil seine Mittel nicht vom Berliner Senat, sondern von der Kulturstaatsministerin und dem Außenministerium stammen. Im TLS huldigt Roger Parker dem pragmatischen und ungeheuer produktiven Komponisten Gaetano Donizetti und erklärt ihn zum Dickens der Oper (während Bellini ihr Flaubert gewesen sei). Die FAS hat Susanne Romanowskis Gespräch mit dem belarussischen Musiker Maksim Kulsha online nachgereicht. Im ZeitMagazin träumt der Musiker Michael Rother. Nadja Dilger schreibt in der Berliner Zeitung über die MTV Video Music Awards, die ganz im Zeichen von Lady Gaga und ihrer Schutzmaskenperformance stand.



Besprochen werden der Abschluss der Salzburger Festspiele mit Daniil Trifonov (SZ, Standard), Sophie Hungers neues Album (NZZ), eine EP des queeren Countrymusikers Orville Peck (SZ), ein Hölderlin-Abend mit Musik des Arditti Quartetts in Weingarten (FAZ), neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Beethoven-Aufnahme von Frank Peter Zimmermann und Martin Helmchen (SZ) und "Blackbirds", das neue Album der Soulveteranin Bettye LaVette (Standard).

Archiv: Musik