Efeu - Die Kulturrundschau

Die Wahrheit über die Welt

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.09.2020. taz, SZ und FAZ erliegen dem Pathos der Marina Abramović, die sogar Maria Callas zu Wiederauferstehung zwingt. Van unterhält sich mit der Komponistin Milica Djordjević über das Körperliche und Elementare in ihrer Musik. Die FR steht in der Schirn verwirrt auf einem Bild des iranischen Künstlerkollektivs Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian. Die FAZ durchlebt in Würzburg noch einmal die Geschichte der Bundesrepublik mit der Fotosammlung von Michael Schupmann. In der NZZ erklärt der amerikanisch-jüdische Journalist Massoud Hayoun, warum er sich immer auch als Araber beschreiben würde.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.09.2020 finden Sie hier

Bühne

Marina Abramović in "7 Deaths of Maria Callas" an der Bayerischen Staatsoper in München. Foto: Winfreid Hösl / PD


An der Bayerischen Staatsoper in München hatte Marina Abramovićs "7 Deaths of Maria Callas" Premiere. In der taz ist Johanna Schmeller hin und weg, vor allem beim ersten Teil des Abends, wenn die Todes-Arien der Callas aus den Opern "Otello", "Carmen", "Tosca", "Lucia di Lammermoor", "Norma", "Madame Butterfly" und "La Traviata" sich ihr in die Gehörgänge fräsen. "Über die meterhohe Leinwand flimmern Filmsequenzen, auf denen sich die Abramović Unterstützung von dem 65-jährigen US-Schauspieler Willem Dafoe geholt hat: Mal legt er ihr Würgeschlangen um den Hals, mal fesselt er die als Torero gekleidete Künstlerin mit einem dicken Seil, um sie nach einem kurzen Tauziehen mit ihrem eigenen Dolch abzustechen. Und auch hier ist sich Marina Abramović treu geblieben: Ihre Bühneninteraktionen richten sich auf einen Gegenspieler, einen Mann, dem sie ihr Lieben und Sterben hinschleudern kann wie einen Fehdehandschuh - und ihr Leiden daran wie einen nassen Waschlappen. Das Zusammenspiel zwischen den beiden funktioniert hinreißend."

Keine Radikalperformance, aber gerührt war SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck doch: "Nachdem die bereits bei ihren Soloauftritten als Dienstmädchen verkleideten sieben Sängerinnen den herrschaftlichen Raum gereinigt und die Möbel mit schwarzem Trauerflor verhängt haben, erscheint die Abramović noch einmal, in jenem Goldglitzerkleid, das im Film Dafoe trug. Vom Band läuft dazu Normas Arie von der keuschen Mondgöttin (Casta Diva) in der Callas-Aufnahme von 1954. Abramović zelebriert dazu sich und die Kunst mit großen Gesten und viel Pathos. Man muss nicht gläubig sein, um zu spüren, dass es Abramović den ganzen Abend einzig darum ging, die Callas zur Wiederauferstehung zu bewegen. Und ein paar Sekunden lang wird jeder glauben, dass es gelingt: Die Callas ist tatsächlich auferstanden. Jene Callas, für die die Welt nur Mittel und Zweck war, um Kunst zu erschaffen, Kunst, die das Einzige ist, was die Wahrheit über die Welt formuliert".

Geradezu getroffen fühlt sich in der FAZ Laszlo Molnar: "Als Performerin, als mit Beharrlichkeit zum weltweiten Erfolg gelangte Körper-Künstlerin, überspringt Abramović in '7 Deaths of Maria Callas' am Ende die simple Stufe des Augenöffnens. Sie öffnet direkt das Herz, dass es wund ist und schmerzt." "Eine Performance-Erleuchtung war das nicht", meint dagegen in der neuen musikzeitung Joachim Lange. Und NZZ-Kritiker Marco Frei wittert gar kommerziellen Ausverkauf der Abramovic.

In der FAZ beklagen Ulrich Hub, Kristof Magnusson, Ingeborg von Zadow die katastrophale Lage der "unsichtbaren Unverzichtbaren des Theaters", der Bühnenschriftsteller, die in diesem Jahr kaum etwas verdienen werden, weil sie prozentual an den Kartenverkäufen beteiligt werden: "Wir wollen keine Almosen. Wir wollen eine faire und angemessene Bezahlung für die Leistung, die wir zur Verfügung stellen. Wir fordern einen Bundesfonds für Bühnenautorinnen und Bühnenautoren, aus dem eine vernünftige Aufstockung unserer Tantiemen für die Zeit der Besucherbeschränkungen finanziert wird."

Weiteres: Viele Klassiker auf der Bühne in dieser Saison. Trotzdem gibt es einen Wandel, erkennt Margarete Affenzeller im Standard: "Denn der Kanon umreißt kein neutrales Gelände, er ist ein umkämpfter Bedeutungsboden, der heute von einer sich rapide verändernden Gesellschaft genau unter die Lupe genommen wird." In der nachtkritik gibt Thomas Heskia einen Überblick über die Verwaltungs-, Stiftungs- und Aufsichtsräte der Theater in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Peter Kümmel besucht für die Zeit Uraufführungen von René Pollesch in Berlin, sowie von Falk Richter und Sibylle Berg in Weimar. Besprochen wird außerdem Poulencs "Menschlicher Stimme" und Menottis "Telefon" am Theater Lübeck (nmz).

Außerdem streamt die nachtkritik Samstag und Sonntag "Ich bin nicht bereit, gerettet zu werden" & "Pandemie - Eine Wiedergängerin" von Sivan Ben Yishai und Marie Bues beim Kunstfest Weimar.
Archiv: Bühne

Film

Immerhin gut gespielt: Danielle Luchettis "Lacci" beendet die Filmfestivalpause.

Mit Daniele Luchettis "Lacci" wurden die Filmfestspiele von Venedig nun offiziell eröffnet - und zwar, um es zum Tod in Venedig gar nicht erst kommen zu lassen, unter verschärften Corona-Bedingungen (unser Resümee). Das über 30 Jahre umspannende Ehedrama nach einer literarischen Vorlage von Domenico Starnone ist zwar "gut gespielt", meint Tobias Kniebe in der SZ, aber auch etwas öde geraten: "Die Konstellation des Films erscheint natürlich ermüdend vertraut, bis hin zur wachsenden Bitterkeit der Frauen, an der sich Daniele Luchetti ein bisschen zu sehr weidet. Es ist aber auch der Grund für eine gewisse Ungeduld - selbst die Protagonisten in Ingmar Bergmans 'Szenen einer Ehe' waren Anfang der Siebzigerjahre in ihrer Selbsterkenntnis schon Lichtjahre weiter als diese Italiener." Von einem "leicht gedämpften Auftakt" spricht auch Tim Caspar Boehme in der taz, der stattdessen lieber ausführlich seine umständliche Anreise per Bahn beschreibt. Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh hatte etwas mehr Freude an dem Film und sieht in Hauptdarstellerin Alba Rohrwacher gar schon eine neue Sophia Loren.

Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche sah unterdessen den Venedig-Dokumentarfilm "Molecole" von Andrea Segre und berichtet im Allgemeinen von einer "bizarren" Atmosphäre, wenn er etwa einen Blick auf den Roten Teppich wirft, der von einem Sichtschutz abgeschirmt ist. Im Dlf Kultur schildert Anke Leweke ihre ersten Eindrücke am Lido unter Corona-Bedingungen. Die Saarbrücker Zeitung und Dlf Kultur haben mit Christian Petzold gesprochen, der in diesem Jahr die Jury leitet (und seine Corona-Infektion bereits hinter sich hat).

Weiteres: Der Filmhistoriker Hans Helmut Prinzler empfiehlt in seinem Blog Robert Zions Monografie über die Schauspielerin Rhonda Fleming. Besprochen werden Jan Komasas polnisches Klerusdrama "Corpus Christi" (Zeit, Tagesspiegel, Welt), Barbara Wallbrauns Dokumentarfilm "Uferfrauen" über lesbisches Leben in der DDR (Berliner Zeitung), Paolo Tavianis "Eine private Angelegenheit" (online nachgereicht von der FAZ), Stéphane Batuts "Der flüssige Spiegel" (taz), die DVD von Andrew Bujalskis "Support the Girls" (taz), die Serie "Briarpatch Texas Kills" (FAZ) und der Schweizer Dokumentarfilm "Volunteer" von Anna Thommen und Lorenz Nufer (NZZ).
Archiv: Film

Kunst

Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2020, Foto: Marc Krause


Kaum hat sie die Frankfurter Schirn betreten, um die Installationen des iranischen Künstlerkollektivs Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian zu sehen, steht Sandra Danicke schon auf der Kunst, genauer: einem gigantischen Gemälde auf dem Fußboden des Saals. Und sofort stellen sich viele Fragen: "Das Bild ist so groß, dass man keinen Überblick hat. Man muss die Motive erlaufen, stößt dabei auf Fische, Frösche, Absperrbänder und Touristen in Badehosen. Die Touristen haben keine Köpfe und merkwürdige Körperformen, die einem persischen Ornament namens Schamseh entsprechen. Auch die vielen Hände mit Mobiltelefonen sind in der Form des Ornaments gefasst und scheinen damit Tradition und Moderne zu vereinen. Doch was hat es mit den zahlreichen Eselsköpfen auf sich? Warum drängeln sich Menschen mit Tiger- und Elefantenköpfen auf einem überlangen Finger? Warum zeigt der Finger auf einen Wasserstrudel, der in einem Arschloch mündet? Manches kann man vermuten, anderes nachlesen, wieder anderes bleibt ein Rätsel, denn: Was weiß der Durchschnittsdeutsche schon über den Iran, über seine Geschichte und Traditionen?" In der FAZ schreibt Victor Sattler über die Ausstellung.

Charlotte March, Donyale Luna mit Goldohrringen für twen, 1966 (1999)
Foto C. March © Nachlass Charlotte March, Sammlung Falckenberg, Hamburg


Bisschen pedantisch findet FAZ-Kritiker Freddy Langer die Ausstellung von Michael Schupmanns Sammlung "Fotografie in Deutschland nach 1945" im Würzburger Museum im Kulturspeicher erst. Aber dann zündet es doch bei ihm: "Es ist, als habe der ehemalige Arzt aus der nordhessischen Provinz die Bilder dafür benutzt, sich seiner Lebensgeschichte zu vergewissern, womit er zugleich vom Zeitpunkt seiner ersten Käufe, 1989, zurückschaut auf die Geschichte der Bundesrepublik. Dabei ergänzen sich die Felder Gesellschaft und Politik, Wirtschaft und Kunst nicht nur, sie sind regelrecht ineinander verflochten. ... Mit überragenden Beispielen der Konkreten Fotografie schafft die Sammlung Schupmann sogar eine Klammer zur großartigen Dauerpräsentation des Würzburger Museums, der Konkreten Kunst mit Beispielen aus aller Welt. Zugleich schlägt sie damit jedoch äußerst spielerisch den Bogen zu den Modefotos, in denen sich die Muster der Op-Art bei F. C. Gundlach auf einem Badeanzug und bei Charlotte March auf einem Mini-Kleid wiederfinden."

Die hochkarätige Kunstsammlung Emil Georg Bührles wird vom Kunsthaus Zürich übernommen. Das löst heftige Diskussionen aus, berichtet Philipp Meier in der NZZ, denn Bührle "war ein Waffenfabrikant und Kunstförderer. Darin steckt eine Ambivalenz, die auszuhalten manchen schwerfällt". Aber: "Ob es einem behagt oder nicht: Bührle ist längst untrennbar mit dem Kunsthaus und der Stadt Zürich verbunden. Nämlich durch den von ihm finanzierten und 1958 eröffneten Bührle-Saal als Erweiterungsbau des Kunsthauses, in dessen Sammlungskommission er zeitweilig selber Einsitz nahm. Daran lässt sich auch für den Fall, dass Bührle tatsächlich ein Profiteur von Zwangsarbeit gewesen oder den Deutschnationalen nahegestanden sein sollte, nichts mehr ändern. Es bleibt also nur der Weg nach vorne." Und das heißt für Meier, auch die Ergebnisse der Provenienzforschung zu den Bildern auszustellen.

Weitere Artikel: In der Berliner Zeitung annonciert Ingeborg Ruthe die Berlin Biennale, die am Wochenende beginnt. Julika Pohle stellt in der Welt den experimentellen "Freiraum" des Hamburger MKG vor, eine multifunktionale Fläche, die "als Treffpunkt, Pausenhalle und Besprechungszimmer, als Arbeitsplatz oder Leseort, zum Nachdenken, Ausruhen, Hausaufgaben machen" dienen und damit auch nicht so kunstaffine Menschen ins Museum locken soll. Christina Dongowski erzählt uns in 54books, warum sie nicht viel übrig hat für Modigliani. Ein sehr skeptischer Hanno Rauterberg besucht für die Zeit das neue Nxt Museum in Amsterdam und seine immersiven Installationen.

Besprochen werden eine Ausstellung des schwulen DDR-Malers Jürgen Wittdorf im Kunstverein Ost in Berlin (Tsp.) und die Ausstellung "Down to Earth" im Berliner Gropius Bau (taz).
Archiv: Kunst

Literatur

Sarah Mersch unterhält sich für die NZZ mit dem amerikanischen Journalisten Massoud Hayoun, der mit dem Buch "When We Were Arabs" die Geschichte seiner arabisch-jüdischen Familie aufgeschrieben hat und dabei vor allem die arabische Komponente stark macht: "Es geht mir nicht um die Frage, welcher Einfluss am stärksten war, sondern darum, warum uns das Wort Araber so entrüstet und warum die arabische Identität für viele der Menschen, die sich in Libanon zum Beispiel als Phönizier bezeichnen oder die in Tunesien die arabische Identität ablehnen, so beleidigend ist. ... Es gab eine klare Politik der französischen Regierung, die darauf abzielte, die Juden abzuspalten - nicht nur in Nordafrika, sondern in allen arabischen Ländern. Es gab politische Versuche, die jüdische Gemeinschaft zu umwerben und sie gegen den Rest der einheimischen Bevölkerung, aus der sie stammte, aufzuwiegeln."

Weiteres: In der Welt spricht Dan Brown über sein neues Buch "Eine wilde Symphonie" - diesmal kein Verschwörungsthriller, sondern ein Kinderbuch, das eine App zum Klingen bringt. Ronald Düker besucht für die Zeit Karin Graf, "die einflussreiche, die mächtige, die legendäre Literaturagentin", die auch ganz schön streng sein kann, wie man bei Thomas Glavinic lesen kann, "der seine Agentin in dem Roman 'Das bin doch ich' bestaunt: 'Anfangs, als ich sie noch nicht persönlich kannte, hatte ich Angst vor ihr. Sie war nichts als eine strenge Stimme aus dem Telefonhörer. Wenn sie fand, das Gespräch sei beendet, sagte sie 'Auf Wiederhören!' und legte auf. Ich stand da und schaute den Hörer an.'"

Besprochen werden unter anderem Giulia Caminitos "Ein Tag wird kommen" (Tagesspiegel), Ben Lerners "Die Topeka-Schule" (Berliner Zeitung), Rebecca Solnits "Unziemliches Verhalten" (Nacht und Tag), Christoph Peters' "Dorfroman" (ZeitOnline) und Kurt Drawerts "Dresden - Die zweite Zeit" (FAZ).

Mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr.
Archiv: Literatur

Musik

Hannah Schmidt unterhält sich für VAN mit der Komponistin Milica Djordjević, die sich vom Corona-Lockdown zu Beginn an die Zeit der Balkankriege erinnert fühlte. Der Vorstellung, dass diese Zeit für Komponisten, die ja ohnehin im stillen Kämmerlein arbeiteten, im Grunde geschenkte Zeit war, erteilt sie eine brüskierte Absage ("Das ist absoluter Quatsch"). Daneben spricht sie auch über ihre Arbeit, die von archaischen Klangwelten getragen wird: "Der Duktus ist sehr körperlich und auch nicht selten heftig. Meine melodischen Linien sind mehr oder weniger knapp und reduziert. Und gleichzeitig würde ich auch sagen: differenziert und rau. ... Es geht mir tatsächlich weniger um Harmonie und Schönklang als vielmehr um etwas wirklich Lustvolles, um ein Erlebnis des Elementaren. Und das geht nicht ohne diese Suche und die unterschiedliche Beleuchtung des Klangs, ohne diese Mikrosituation und Verwandlung." Ein Beispiel:



Weitere Artikel: Jeffrey Arlo Brown schlendert für VAN durch das von Herzog & de Meuron erweiterte Stadtcasino, in das das Sinfonieorchester Basel nun zurückkehrt. Der Berliner Pierre Boulez Saal kann sein Saalkonzept, das einen etwas geringeren Sitzabstand vorsieht, als die Berliner Kulturpolitik ihn vorschreibt, und dies damit begründet, dass er dem Bund unterstellt ist, nun doch nicht umsetzen, berichtet Frederik Hanssen im Tagesspiegel. Rettet die Clubs, macht sie zu Kulturstätten, fordert Jamin Schneider in der Welt. Im VAN-Gespräch blickt Daniela Huber zurück auf 42 Jahre Geigespiel an der Bayerischen Staatsoper. In der VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker über Lucrezia Orsina Vizzana. Außerdem bringt das Logbuch Suhrkamp die 83. Folge aus Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte".



Besprochen werden Bill Callahans neues Album "Gold Record" (Berliner Zeitung), der Saisonauftakt im Berliner Pierre Boulez Saal unter Daniel Barenboim (Tagesspiegel), ein von Alan Gilbert geleiteter Brahms- und Prokofjew-Abend in der Elbphilharmonie (Welt) und Jyotis Jazzalbum "Mama, You Can Bet!" (Pitchfork). Wir hören rein:

Archiv: Musik