Efeu - Die Kulturrundschau

So sichtbar. So verletzlich. So wunderschön

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05.09.2020. Die NZZ bewundert das Konzept der Leere in den Arbeiten der Künstlerin Marion Baruch. Tagesspiegel und Berliner Zeitung besuchen die wokeste Berlin Biennale ever. Im Gespräch mit der Literarischen Welt sucht Karl Heinz Bohrer den existenziellen Hass in der zeitgenössischen Literatur. Die taz besucht schwierige Proben in der Volksbühne. Die Filmkritiker trauern um den Schauspieler Birol Ünel.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.09.2020 finden Sie hier

Kunst

Marion Baruch und A.G. Fronzoni, Abito - Contenitore, ca. 1969. Foto: Gianni Berengo Gardin/Fondazione Forma per la Fotografia. Courtesy of the artist
Das Kunstmuseum Luzern zeigt gerade eine Retrospektive der Schweizer Künstlerin Marion Baruch. Ein zentraler Punkt in ihren Arbeiten ist die Leere: ein leeres Zimmer, das man auch in Luzern betreten kann, oder ihr eigener Name, den sie als Leerformel unter dem Label "Name Diffusion" anderen Künstlern zur Verfügung stellte, erzählt Angelika Affentranger-Kirchrath in der NZZ. "So entwickelten sich aus dem Nichts des unbeschriebenen Namens spannende konzeptuelle Projekte. Seit je an der Textilbranche interessiert, lud Baruch sowohl Modedesigner wie Kleiderproduzenten zu einer Kooperation ein und vereinigte den ganzen - künstlerischen - Prozess der Kleiderherstellung unter ihrem flexiblen Label. Ihr Name diente ihr schon viel früher zur immer wieder anders drapierten Hülle. 1969 stülpte sie sich für die Aktion 'Abito - Contenitore' ein schwarzes Tuch über. Die Füße waren sichtbar, der Körper darunter war als Schemen bloß zu erahnen. Nicht um den Stoff und auch nicht um den Körper ging es ihr in ihrer Befragung in erster Linie, ihr Fokus richtete sich auf den sich ständig verändernden Raum zwischen Sackkleid und Körper, auf die durch die Bewegung geschaffenen Leerstellen."

Edgar Calel in Zusammenarbeit mit Fernando Pereira dos Santos, Sueno de Obsidiana, 2020. Video. Foto: Chico Bahia

Ingeborg Ruthe und Hanno Hauenstein machen für die Berliner Zeitung einen ersten Rundgang über die 11. Berlin Biennale, die unter dem Titel "Der Riss beginnt im Inneren" alles zu vereinen scheint, was identitätspolitisch, queer und antikapitalistisch heute angesagt ist: "Der titelgebende 'Riss' soll Zeugnis ablegen von Gewalt, aber auch von 'gegenseitiger Berührung und Bewegung', so steht es im Katalog. Postmodernen Ideen wird dabei neues Leben eingehaucht: Das Lebendige, so ließe sich diese Biennale lesen, wurde von der kapitalistischen Moderne in Beton eingemauert. Die Natur - und mit ihr all jene marginalisierten Gruppen, die nicht schon jahrhundertelang an der Speerspitze ihrer technischen Beherrschung standen - sei als Bühne missbraucht worden, als gestohlener Grund, auf dem man Fortschritt und Kultur inszenierte. Daher müssten wir den Fokus jetzt aufs Periphere und Widerständige legen - aufs Queere, Heilende und Natürliche -, in der Kunst und in der Gesellschaft." Im Tagesspiegel loben Nicola Kuhn und Birgit Rieger: "Diese Biennale ist emotional und empathisch wie wohl keine andere zuvor."

Der libanesische Künstler Said Baalbaki lebt seit 20 Jahren in Berlin. Zwei Arbeiten von ihm kann man derzeit in der Stipendiatenausstellung "In weiter Ferne so nah" im Berliner Haus am Lützowplatz (mehr hier) sehen. Im Interview mit der taz spricht er über die Explosion in Beirut und ihre Auswirkungen und über Heimat - für ihn kein Ort, auf den man mit dem Finger zeigen kann: "Gerade habe ich eine Ausstellung in Celle mit meinem Forschungsprojekt zu Jussuf Abbo präsentiert. Ein Palästinenser, der zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in Berlin eine große Bildhauerkarriere hatte und als jüdischer Araber 1935 wegen der Nazis Berlin verlassen musste. Anhand dieses Projekts kann ich durch Geschichte meiner Fragestellung nachgehen. ... In sechs Jahren habe ich 100 seiner Arbeiten gekauft und sein Leben erforscht. Und die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Er überlebte die spanische Grippe; ich hoffentlich Corona. Und ich hoffe, dass trotz aller rechten Tendenzen es sich mit dem Nationalsozialismus nicht wiederholt. Aber sein Werk ist auch ein Stück Heimat, da er aus der Nähe meines Heimatortes kam. Und in dieser Tradition verbindet uns eines - nämlich Kunst in Berlin zu machen. Das ist Heimat."

Weitere Artikel: Simon Baur porträtiert in der NZZ die Fotografin Annelies Štrba. In der SZ berichtet Peter Richter von der Transformale in Potsdam. Ursula Scheer besucht für die FAZ das neueröffnete Ensor-Haus in Ostende.

Besprochen werden die Ausstellung des iranischen Künstlerkollektivs Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian in der Frankfurter Schirn (taz) und die Ausstellung "urbainable" in der Berliner Akademie der Künste (taz).
Archiv: Kunst

Literatur

Mara Delius spricht in der Literarischen Welt mit Karl Heinz Bohrer über den Hass in der Literatur, der insbesondere in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts virulent wird, erklärt der Literaturwissenschaftler, der im vergangenen Jahr zum Thema auch ein Buch veröffentlicht hat: "Mit dem ganzen Kosmos des Aufbruchs der deutschen Literatur im ausgehenden 18. Jahrhundert aus der Aufklärung war diese Form von Aggressionssprache entweder nicht erlaubt oder gar nicht möglich." In der Gegenwart ist das anders: "Handke ist interessant, weil er in seinen Aufzeichnungen den existenziellen Hass geradezu sucht. ... Der Hass ist bei ihm sozusagen das Medium, überhaupt in die Welt zu treten", wohingegen es beispielsweise in der Literatur der noch jungen Bundesrepublik "keinen Versuch gibt, die Schändlichkeit und Bestialität des 'Dritten Reiches' und KZ-Staates über Hass darzustellen."

Weiteres: Der Standard spricht mit der Autorin Dina Nayeri über ihre Migrationserfahrung ihrer Familie aus dem Iran in die USA, die sie auch in ihrem Buch "Der undankbare Flüchtling" verarbeitet. Die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie erzählt in der Literarischen Welt von einem Sturz mit dem Kopf auf den Boden, der sie mitten im Lockdown in die Notaufnahme gebracht hat (den Originaltext veröffentlichte die Washington Post). Im Literaturfeature für Dlf Kultur denkt Sonja Hartl darüber nach, wie sich die Wahrnehmung weiblichen Schreibens ändert. Gregor Dotzauer wirft für den Tagesspiegel einen Blick in aktuelle Literaturzeitschriften. Vor 100 Jahren erschien F. Scott Fitzgeralds erster Roman, erinnert Frank Jöricke im Freitag. Im "Literarischen Leben" der FAZ schreibt Tilman Spreckelsen über Adalbert Stifters Verhältnis zur Natur. Außerdem bringt die Literarische Welt einen Auszug aus Saul Friedländers kommendem Buch "Proust lesen".

Besprochen werden unter anderem Kate Elizabeth Russells Debütroman "Meine dunkle Vanessa" (taz), Marius Goldhorns "Park" (Freitag), Cemile Sahins "Alle Hunde sterben" (taz), Jonas Eikas Erzählungsband "Nach der Sonne" (Zeit), Paul Maars "Wie alles kam" (Tagesspiegel), Gerald Murnanes "Landschaft mit Landschaft" (NZZ), Matias Faldbakkens "Wir sind fünf" (SZ), Anuradha Roys "Der Garten meiner Mutter" (FAZ) und Rebecca Solnits "Unziemliches Verhalten" (Literarische Welt).
Archiv: Literatur

Bühne

Anna Fastabend hat zusammen mit dem Fotografen David Baltzer für eine taz-Reportage in der Berliner Volksbühne das Leben und Arbeiten im Theater unter Corona-Bedingungen studiert. Ein Spaß ist das nicht, lernt sie von Stefan Pelz, technischer Direktor des Hauses und für die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften zuständig: "Neben dem Verbot körperlicher Nähe gebe es auch das Verbot, Requisiten einfach weiterzureichen. Schauspieler:innen müssten sich vorher die Hände desinfizieren oder Handschuhe tragen, die danach entsorgt würden. Bei Unterschreitung des Mindestabstands von 1,50 Metern müssten sie einen Mund-und-Nasenschutz tragen, bei längerem Unterschreiten eine FFP2-Maske. Beim Sprechen tragen die Schauspieler:innen aber keine Maske, weil sonst kaum etwas zu verstehen wäre. Meist reden sie zum Publikum hin, weshalb die ersten fünf Reihen im Zuschauerraum aus Sicherheitsgründen ausgebaut sind. Bei Dialogen stehen sie mit Abstand so zueinander, dass die Sprechrichtung am Gegenüber vorbeigeht. Diese Regeln ließen die Bühne zu einer Art Hindernisparcours werden, wobei man ständig den Abstand von den Kolleg:innen einschätzen und die Richtung sondieren müsse, in die man spreche, um andere nicht durch die eigenen Aerosole zu gefährden, erzählt ein Schauspieler."

Weitere Artikel: Die Opernsängerin Ulrike Mayer erzählt im Interview mit der taz vom Arbeiten an der Oper Bremen unter Corona-Bedingungen. Roland H. Dippel (nmz) hört Miniopern beim Kunstfest Weimar.

Besprochen werden ein "Schwanensee"-Adagio an der Deutschen Oper Berlin (die Proben waren "nur unter strengen Hygieneauflagen möglich: Im Studio wird durchgehend der CO2-Gehalt gemessen. Sechs Meter Abstand empfiehlt die Berufsgenossenschaft nach wie vor, zwei Meter sind Minimum. Bei der Corona-Anpassung des Repertoires wird mit dem Zollstock nachgemessen", erzählt Elena Philipp in der Berliner Zeitung), eine Hommage an den Sänger und Schauspieler Dean Reed an der Neuköllner Oper (Berliner Zeitung) und Joanna Murray-Smiths Thriller "Switzerland" am English Theatre in Frankfurt (FR).
Archiv: Bühne

Musik

In der Berliner Zeitung unterhält sich Markus Schneider mit der Berliner Soulmusikerin Joy Denalane über ihr auf Motown veröffentlichtes Album "Let Yourself Be Loved". Für den Guardian wirft Matt Mills einen Blicks in aktuelle Geschehen im norwegischen Black Metal. Christian Thomas erinnert in der FR an das "Love & Peace"-Festival, das sich im September 1970 auf Fehmarn zu einem Fiasko auswuchs, aber immerhin als Jimi Hendrix' letzter Festivalauftritt in die Geschichte einging.

Besprochen werden das neue Album von The Notwist (ND), Jason Molinas postumes Album "Eight Gates" (Jungle World), Nubya Garcias Album "Source" (Presse, mehr dazu hier), ein Spoken-World-Album von Lana del Rey (The Quietus), Trickys neues Album "Fall to Pieces" (Pitchfork), das wiederveröffentlichte Album "Spinner" von Brian Eno und Jah Wobble (Pitchfork), ein Konzert des Ensemble Modern (Tagesspiegel) und ein Mozart-Abend der Staatskapelle unter Daniel Barenboim (Tagesspiegel).
Archiv: Musik

Film

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Ruhe in Frieden, mein Freund. Du hattest ein Licht in Dir, das mich immer überwältigt hat. Işıklar içinde yat! Rest In Peace, dear friend. Your light was shining bright!

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Der einem breiten Publikum mit Fatih Akins "Gegen die Wand" bekannt gewordene, Berliner Schauspieler Birol Ünel ist seinem Krebsleiden erlegen. Er verkörperte "seine Rollen auf eine so körperlich schmerzhaft spürbare Weise, dass man allein vom Zuschauen schon mitten in seinem eigenen Trauma war", hält Nermina Kukic im Freitag fest und würdigt den Verstorbenen als eine besondere Identifikationsfigur der Generation von Gastarbeiterkindern, der sie angehört: "So grandios gescheitert wie Birol Ünel ist keiner von uns. Zumindest nicht öffentlich. So sichtbar. So verletzlich. So wunderschön. Sich nicht zu verlieben in Birol Ünels Schmerz, in seine Traurigkeit, in sein seelenvolles Gesicht, in seine uns so vertraute Physiognomie, war unmöglich."

Neco Çelik sah in Ünel schon in den frühen Neunzigern den "deutschen Errol Flynn", schreibt der Regisseur auf ZeitOnline: "Die Wucht seines Schauspiels sprang einem förmlich ins Gesicht", seinen schlechten Ruf in der Branche nahm er hin: "Ich akzeptierte ihn so, wie er sich gab. Neugierig, widerspenstig, zärtlich, loyal, zerstörerisch", denn "als die Kamera lief, sah ich eine unglaubliche menschliche Tiefe, Zerbrechlichkeit und Zorn zugleich. Er füllte das ganze Bild." Für Imran Ayata war Ünel "nach Klaus Kinski der exzentrischste deutsche Schauspieler", erklärt der "Kanak Atak"-Mitbegründer im Dlf Kultur.

Zum Doch-Nicht-Kinostart von Disneys Blockbuster "Mulan", der nun wegen Corona als PR-Vehikel für den Streamingdienst Disney+ genutzt wird (hier unser Resümee), wirft Sebastian Markt für ZeitOnline einen Blick auf eine Branche im streamingbedingten Wandel, der unter anderem nicht nur ihr historisches Gedächtnis, sondern auch die Vielfalt abhanden zu gehen droht: "Abgesehen vom Wegfallen der Möglichkeit, bestimmte Filme außerhalb von Cinematheken noch auf der Leinwand zu erleben, trifft der damit verbundene Einbruch von Einkünften gerade oft jene Kinos in den USA, die wichtige Aufführungsorte für kleinere und unabhängige (und weniger profitable) Filme sind."

Versagende Autoritäten: Jasmila Žbanićs "Quo Vadis, Aida

Die Kritiker berichten vom Filmfestival Venedig unter Coronabedingungen. Wie angespannt dort die Atmosphäre ist, erfährt man von Andreas Busche im Tagesspiegel. Tazler Tim Caspar Boehme sah Pedro Almodóvars Cocteau-Adaption "The Human Voice" mit Tilda Swinton (den wir gestern schon kurz erwähnten) und Jasmila Žbanićs bosnischen Kriegsfilm "Quo Vadis, Aida", für ihn ein "großer Moment" des Festivals. "Das tödliche Treiben vollzieht sich wie ein Uhrwerk, Autoritäten versagen, nur Aida kämpft wie eine Löwin", schreibt dazu auch Dominik Kamalzadeh im Standard. Für Artechock schreibt Rüdiger Suchsland fleißig Festivaltagebuch und freut sich in einer aktuellen Lieferung, dass mit Ivan Ikics "Oasis" ein bosnischer Film zu sehen ist, in dem der jugoslawische Bürgerkrieg mal kein Thema ist (sondern stattdessen "Liebesbeziehungen geistig Behinderter"), und begeistert sich außerdem sehr für Park Hoon-jungs koreanischen Gangsterfilm "Night in Paradise": Der ist nämlich "sehr schön, extrem hart" und stellt eine veritable "Einführung ins Sterben-lernen" dar.

Weitere Artikel: Der Filmemacher Andreas Resch berichtet in der taz von der Erfahrung, während Coronazeiten mit einem Film auf Festivaltour zu gehen. Für den Filmdienst wirft Patrick Holzapfel einen Blick ins unabhängige chinesische Kino. In epdFilm orientiert sich Jörg Taszman im aktuellen polnischen Kino. Soma Gosh schreibt für The Quietus einen großen Nachruf auf den Schauspieler Chadwick Boseman.   

Besprochen werden unter anderem Alex Garlands SF-Serie "Devs" (Freitag, mehr dazu bereits hier), Netflix' "Der junge Wallander" (Berliner Zeitung) und die zweite Staffel von "The Boys" (FAZ).
Archiv: Film