Efeu - Die Kulturrundschau

Von Bob Dylan hat er nie gehört

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12.09.2020. So einig hatte sich Ferdinand von Schirach das Urteil über sein Sterbehilfe-Stück "Gott" wohl nicht vorgestellt: Das "Gegenteil  von Theater", staubtrocken, "pures Papier", winken die TheaterkritikerInnen ab. Mehr Spaß hat die SZ bei der Berliner Art Week auf den Toiletten des Berghain. Die FR lauscht in Venedig angetan einer feuchten Unterhaltung zwischen Dennis Hopper und Orson Welles. In der FAZ sendet Jan Wagner Postkarten aus dem Iran. Und im Standard möchte Joachim Meyerhoff keine Betroffenheitsliteratur schreiben.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.09.2020 finden Sie hier

Bühne

"Gott" von Oliver Reese. Bild: Matthias Horn

Ferdinand von Schirachs zeitgleich am Berliner Ensemble in der Inszenierung von Oliver Reese und am Düsseldorfer Schauspielhaus in der Inszenierung von Robert Gerloff gezeigtes Sterbehilfe-Stück "Gott" sollte die gleichen Kontroverse auslösen wie sein vor fünf Jahren weltweit diskutiertes Stück "Terror". Die TheaterkritikerInnen sind sich allerdings überraschend einig: Langweilig und staubtrocken finden sie das Stück, in dem ein Ethikrat darüber entscheiden soll, ob die lebensmüde Frau Gärtner "Beihilfe zum Suizid" erhalten soll. "Die Schauspieler haben in Oliver Reeses Inszenierung keine Menschen aus Fleisch und Blut zu verkörpern, sondern sind bloß Sprachrohre bestimmter Berufs- und Interessengruppen; bei Schirach heißen sie unterschiedslos Sachverständige", ärgert sich Nachtkritikerin Frauke Adrians. In der Welt konstatiert auch Manuel Brug, der sich Reeses Berliner Inszenierung angesehen hat: "Das hat kein Leben, ist pures Papier, gespielter Schulfunk - ohne individuelle Zuspitzung, überraschende Wendung, künstlerische Überhöhung." "Dass der Abend so wenig überraschende Denkanstöße produziert, liegt auch daran, dass er keinen Hehl daraus macht, auf wessen Seite er steht", ergänzt Christine Wahl im Tagesspiegel. In der SZ schreibt Egbert Tholl.

"Gott" von Robert Gerloff. Bild: Sandra Then

"Alles abstrakt und alles zugestellt mit juristischen Fachbegriffen", stöhnt Julia Encke über Reeses Stück in der FAZ: "Der ganze Abend ist wie das Gegenteil von Theater." Während sich FAZ-Kollege Patrick Bahners, der die Düsseldorfer Inszenierung gesehen hat, grundsätzlich über Schirach ärgert: "'Unser oberstes Gericht hat so entschieden.' Hinter dem unbedingten Individualismus des Urteils, so wird suggeriert, dürfen auch die Regeln nicht zurückbleiben, die Berufsstände oder auch einzelne Menschen, die mit dem Wunsch nach Sterbehilfe konfrontiert werden können, sich für das eigene Handeln geben sollten." In der Nachtkritik widerspricht Max Florian Kühlem, der mit Gerloffs Inszenierung weitgehend zufrieden ist: Es "bleiben auch gute Argumente der Gegenseite hängen: Was, wenn die Sterbehilfe gerade bloß gut in den neoliberalen Zeitgeist passt?"

Man hätte darüber diskutieren können, ob Selbst- und Fremdbestimmung überhaupt voneinander zu trennen sind, seufzt Doris Meierhenrich indes in der Berliner Zeitung: "Wo fängt die Autonomie an, hört das Gemeinschaftswesen auf? Wie soll ein Sterbehelfer prüfen, ob die Entscheidung eines Sterbewilligen frei getroffen ist oder nur einer fatalen Krisensituation entstammt. Oder müssen nicht individuelle Umstände überhaupt egal sein für eine prinzipielle Entscheidung, die die Autonomie des Sterbewilligen voll respektiert? Wer spielt nun eigentlich Gott: derjenige, der sich einer Sterbehilfe verweigert oder der ihr nachgibt? Aber nichts von alldem." Im Dlf-Kultur-Gespräch mit Stephan Karkowsky fordert Oliver Reese eine neue gesetzliche Regelung für die Sterbehilfebegleitung.

Weiteres: In der taz fordert Karin Becker, die als Intendantin auf Christoph Nix am Theater Konstanz folgt, mehr Frauen und Diskurs am Theater. Im Video-Interview mit dem Standard spricht Claus Peymann über "lahme Theaterdirektoren" und die "Wiederkehr der Nazis". Feinsten "Griechen-Trash" erlebt Nachtkritiker Janis El-Bira in Lucia Bihlers "Iphigenie. Traurig und geil im Taurerland" nach Eruripides und Stefanie Sargnagel an der Volksbühne. Besprochen werden außerdem Martin Kusejs "Das Leben ein Traum" nach Pedro Calderón de la Barca am Wiener Burgtheater ("Theater im Dornröschenschlaf", meint Nachtkritikerin Andrea Heinz) und Karin Beiers Inszenierung von Rainald Goetz' "Reich des Todes" am Hamburger Schauspielhaus (nachtkritik).
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Literatur

Der Lyriker Jan Wagner sendet der FAZ fünf Mondpostkarten mit Impressionen aus Iran. Eine Fußgängerbrücke in Teheran ist ihm besonders aufgefallen: Nach dem Morgengrauen bietet sich den Fußgängern dort täglich "ein neues Bild, ein neuer Slogan mit beißender Kritik am Staat, das heimliche, nächtliche, soeben erst getrocknete Werk eines Graffitikünstlers, der mit dem nom de guerre 'Schwarze Hand' signiert, wohl wissend, dass auch sein jüngstes Wandgemälde wie stets und spätestens am Nachmittag von Regierungsbediensteten überstrichen werden wird - die ihm eben damit die makellose Leinwand für das Bild der kommenden Nacht aufziehen, und immer so weiter, und immer so fort. Man möchte die fast spielerischen Qualitäten dieses Duells würdigen - wüßte man nicht vom berüchtigten Evin-Gefängnis und den furchtbaren Konsequenzen, die eine solche Hartnäckigkeit nach sich ziehen kann."

Im Standard-Gespräch erzählt der Schriftsteller und Theaterschauspieler Joachim Meyerhoff, dass er sich für seinen Roman "Hamster im hinteren Stromgebiet", in dem der Autor seinen Schlaganfall verarbeitet, bewusst für eine auch humorvolle Darstellung entschieden hat: "Meine größte Sorge war von Anfang an, dass die Schilderung meines Erlebnisses in Betroffenheitsliteratur mündet." Von der Formulierung "Kampf gegen die Krankheit" hält er nichts: "Wir sind eine Einheit, und dann hätte ich ja gegen mich selbst kämpfen müssen. Zweifellos braucht man nach so einer Diagnose viel Disziplin, und man muss sich durchbeißen, das strengt an." Es ist "eher eine Obsession, eine Lust, eine Besessenheit, vielleicht auch Fanatismus."

Außerdem: Sieglinde Geisel berichtet im Dlf Kultur von einer Tagung darüber wie das Internet die Literaturkritik verändert. Dazu passend befasst sich Miriam Zeh im Literaturfeature des Senders damit, wie man mit ordentlich Follower-Power auf Social Media zum Literaturstar wird. Der Philosoph Ralf Konersmann denkt in der NZZ darüber nach, was Märchen uns über ihre Zeit erzählen und schlussfolgert: "Dem blinden Übermut der eigenen Zeit, ihren kulturellen Verwerfungen, begegnet das Märchen mit dem phantastischen Übermut der Literatur, die für den Einbruch des Neuen bleibende Bilder findet, und vor allem: eine Sprache." Anlässlich seines kommenden Buchs über William S. Burroughs und den Rock'n'Roll präsentiert Casey Rae auf The Quietus flankierende Netzfundstücke. Gerrit Bartels (Tagesspiegel), René Hamann (taz) und Sabine Rohlf (Berliner Zeitung) berichten vom Internationalen Literaturfestival Berlin, wo Mario Vargas Llosa und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier miteinander sprachen.

Besprochen werden unter anderem Iris Wolffs buchpreisnominierter Familienroman "Die Unschärfe der Welt" (Tagesspiegel, FR), Thomas Hettches "Herzfaden" (Zeit, Tagesspiegel), Ronya Othmanns "Die Sommer" (online nachgereicht von der FAS), Marieke Lucas Rijnevelds "Was man sät" (Freitag), Hilmar Klutes "Oberkampf" (Freitag),Jessie Greengrass' "Was wir voneinander wissen" (Freitag), Ben Lerners "Die Topeka Schule" (taz), Ulrike Draesners "Schwitters" (Dlf Kultur), Gabriele Tergits "Vom Frühling und von der Einsamkeit. Reportagen aus den Gerichten" (SZ), Han Kangs "Weiß" (Literarische Welt) und Deniz Ohdes "Streulicht" (FAZ).
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Kunst

Leicht nostalgisch zumute wird Peter Richter in der SZ beim Streifzug durch die heiligen Hallen des Berghain, wo im Rahmen der Berliner Art Week die vom Sammlerehepaar Karen und Christian Boros organisierte und vom Senat mit 250.000 Euro bezuschusste Ausstellung "Berlin Studio" gezeigt wird: "Vieles ist durch die Umstände des Lockdown entstanden, anderes konnte dadurch nicht dort gezeigt werden, wo es gezeigt werden sollte, etliches wiederum bezieht sich explizit auf das Berghain als Ort wie die Szene aus Pieter Bruegels 'Schlaraffenland', die Cyprien Gaillard als site specific Kalauer in eine der Klowände hat ritzen lassen, denn auf Englisch heißt das Schlaraffenland wie noch mal? Richtig: Cockaigne. Simon Fujiwaras vor diesen Klos aufgebaute Auseinandersetzungen mit der Art von Krankheiten, die man sich hier leider auch holen kann, thematisiert immerhin auch die dunkleren Seiten der Sache und verweist über das Stichwort Infektion nebenbei zu den Gründen, warum wilde Protest-Raves im Park bisher keinen Politiker überzeugt haben, die Clubs wieder zu öffnen. Ein bronzener Pleitegeier, den das Duo Elmgren und Dragset unter dem Titel 'Hope' beigesteuert haben, erfordert unter diesen Umständen eher robusten Humor." Im Standard ist Bert Rebhandl nur mittelmäßig begeistert.

Bild: John Bauer, Bianca Maria och trollen, 1913, Aquarell auf Papier. Foto: Bukowskis.

Viele der symbolistischen Trolle und Waldwesen, die das Stockholmer Museum Prins Eugens Waldemarsudde derzeit zeigt, kannte SZ-Kritiker Thomas Steinfeld bereits von Postkarten - den Künstler dahinter, John Bauer, nicht. Das ändert die Schau "Trollbunden" glücklicherweise, die auch einen Blick in Bauers Unbewusstes gewährt: "Der Troll, mit Hässlichkeit gestraft, mit seiner Unförmigkeit aber offenbar einverstanden, ist nicht nur eine melancholische, sondern auch eine regressive Gestalt. Er lebt in einer ihm fest zugehörenden Geschichtslosigkeit. Für deren Beständigkeit steht der Wald, etwas Dunkles und Massives, Unendliches, Undurchdringliches. Selten erscheint auf den Bildern ein Horizont, einen weiten Blick gibt es nicht. Dieser Wald ist ein Innen, zu dem es kein Außen gibt. Tut sich hingegen eine kleine Lichtung auf, um einem Engelskind in seiner zuweilen fast unglaublichen, ja schon obszönen Nacktheit einen Platz zu gewähren, erscheint das Lichtwesen von schlanken Bäumen umgeben wie von den Pfeilern einer Kathedrale."

Weiteres: Für die Berliner Zeitung flanieren Ingeborg Ruthe (hier) und Harry Nutt (hier) über die Berlin Art Week und das Gallery Weekend. Ebenfalls in der Berliner Zeitung hat sich Irmgard Berner auf der Kunstmesse Positions umgesehen. Das monopol-magazin gibt Tipps für den Berliner "Kunstdschungel".Besprochen werden Filme des Kanadiers Jeremy Shaw in der Julia Stoschek Collection (Tagesspiegel).
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Film

Auf die Barrikaden mit dir: Dennis Hopper gegenüber Orson Welles.

Das Filmfestival in Venedig bietet Cinephilen mit "Hopper/Welles" einen wahren Leckerbissen, schreibt Daniel Kothenschulte begeistert in der FR. Zu sehen gibt es ein bislang unbekanntes Dokument, nämlich die Filmaufnahme einer langen, erwartungsgemäß auch feuchten Unterhaltung zwischen Dennis Hopper und Orson Welles. Welles "gibt dabei das aufschlussreichste Selbstbild seiner Karriere". Dabei belehrt er Hopper "immer wieder über die Geheimnisse des Filmemachens - und erklärt unfreiwillig, was ihn inzwischen selbst von der zeitgenössischen Popkultur trennt. Antonioni findet er langweilig, von Bob Dylan hat er nie gehört (Hopper: 'Er ist ein Sänger.'). Auch dem von Hopper geliebten Alain-Resnais-Film 'Letztes Jahr in Marienbad' kann Welles wenig abgewinnen. Bei all diesen Kunstfilmen fehlt ihm einfach der 'Saft'. Was er hingegen von der filmenden Jugend fordert, ist eine echte Revolution. Vergeblich drängt er Hopper, der damals vom FBI beobachtet wurde, auf die Barrikaden."

Julia von Heinz' ebenfalls in Venedig gezeigter Film "Und morgen die ganze Welt", in der die deutsche Filmemacherin ihre Jugend in der Antifa verarbeitet, findet bei tazler Tim Caspar Boehme wenig Gnade: Zu sehen gibt es "Diskussionen um Sinn und Ziele des bewaffneten Widerstands, die jedoch nie über Oberflächlichkeiten hinausgehen", fernerhin "ist das Personal neben den Hauptfiguren arg schematisch besetzt. .. Irgendwie wirkt alles sehr lieb." Immerhin interessant zu beobachten findet Dietmar Dath von der FAZ, wie der Film die radikale Rechte zeigt: Sind die Nazis erst mal unter sich, erkenne man rasch, "dass das, was man dort denkt und sagt und singt (...) nicht bloß auf die Abschaffung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland abzielt, sondern auf die Beseitigung der Zivilisation überhaupt. Da fließt kein Geifer, da blitzt kein Dolch, die Jungs finden ihren Wahnsinn normal."

Außerdem: Esther Buss (Tagesspiegel) und Nicolai Bühnemann (Filmgazette) empfehlen die Michael-Mann-Retrospektive im Berliner Kino Arsenal. Fritz Göttler fragt sich in der SZ, warum der Hollywoodregisseur Edmund Goulding weitgehend in Vergessenheit geraten ist: Lag es an seinem Faible für den hedonistischen Exzess? Lory Roebuck spricht für die NZZ mit Armando Iannucci über dessen Charles-Dickens-Verfilmung "The Personal History of David Copperfield". Im Filmdienst schreibt Lukas Foerster über das Kino der Hongkonger Regisseurin Ann Hui. Marion Löhndorf (NZZ) und Harry Nutt (Berliner Zeitung) schreiben Nachrufe auf Diana Rigg.
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Musik

In der FAZ berichtet Clemens Haustein vom Musikfest Berlin, wo unter anderem Arbeiten der Komponistin Rebecca Saunders aufgeführt werden, die für Haustein "klangliche Wunderwerke" darstellen. Etwa die Schlaginstrumente-Komposition "Dust II": "Über dünne Steinplatten lassen die beiden Schlagzeuger Christian Dierstein und Dirk Rothbrust ihre Schlägel kreisen; die Platten wiederum liegen auf dem Fell einer Pauke, die zu resonieren beginnt. Einer von vielen Effekten indirekter Tonerzeugung, die Rebecca Saunders so liebt und die ihrer Musik zu zarter Transparenz verhelfen. ... Über das Fell der Trommeln übertragen sich die Schallwellen auf die Ketten, die darunter gespannt sind, sie beginnen zu sirren, stärker oder schwächer, je nachdem, wie die Trommel im Schallfeld bewegt wird. Das Staunen über das physikalische Phänomen wird zum Teil des Stückes, das Glück der Entdeckung mischt sich mit der Empfindung klanglicher Schönheit." Dlf Kultur bietet eine Aufnahme des Konzerts.

Außerdem: Etwas langwierig wälzen Thomas Winkler und Haiyti im taz-Gespräch den Sachverhalt, dass die vor zwei Jahren von Hamburg nach Berlin gezogene Rapperin bislang noch nicht im Berghain war und Berlin heute auch nicht mehr so richtig aufregend ist. Gitarrenmeister Omar Rodríguez-López präsentiert auf The Quietus seine Lieblingsmusik. Julian Weber erinnert in der taz an Jimi Hendrix, der vor 50 Jahren gestorben ist. Dlf Kultur widmet dem Musiker eine von Michael Frank geschriebene "Lange Nacht".

Besprochen werden ein Kino-Dokumentarfilm über die deutsche Rapgruppe RAG (ZeitOnline), ein Konzert des hr-Sinfonieorchesters (FR), neue Alben von Marilyn Manson (Berliner Zeitung), Idles (The Quietus), Colter Wall (Pitchfork) und Sam Prekop (Pitchfork), dessen schöne hypnotische Synthesizermusik von einem adäquat hypnotischen Video begleitet wird:

Archiv: Musik