Efeu - Die Kulturrundschau

Alles gleich schwer und gleich gefährlich

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28.09.2020. Der Observer berichtet, dass ein Verbund internationaler Museen, darunter die Tate Modern und die National Gallery of Art, ihre Philip-Guston-Schau absagen: Sie müssen erst noch herausfinden, ob seine Bilder politisch korrekt sind. Die SZ sichtet, was von der russischen Avantgarde im Museum Ludwig übrig bleibt. In der Berliner Zeitung setzt Thomas Hettche die Eigengesetzlichkeit der Literatur gegen das permanente Moralisieren in den sozialen Medien. Die FAZ klickt sich durch die Geschichte der Ikea-Kataloge.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.09.2020 finden Sie hier

Kunst

Kritik oder Einverständnis? Klanmänner in Philip Guston: "Riding Around" (1969) © The Estate of Philip Guston, courtesy Hauser & Wirth

Vier internationale Museen - National Gallery of Art in Washington, die Museen of Fine Arts in Boston und Houston sowie die Tate Modern in London - haben ihre gemeinsam geplante Philip-Guston-Retrospektive auf mindestens 2024 verschoben, meldet Edward Helmore im Observer: Ihnen ist aufgegangen, dass Gustons Bilder, in denen reihenweise Klux-Klan-Männer zigarrenrauchend in fetten Auto herumkutschieren, das Publikum überfordern könnten. Sie wollen abwarten, bis "die Botschaft sozialer Gerechtigkeit in seinem Werk klarer herausgearbeitet werden kann", heißt es in einer Erklärung der beiden Museen. Gustons Tochter, Musa Mayer, kann es nicht fassen, berichtet Helmore: "Mayer zeigt sich tief getroffen von der Entscheidung. Sie erklärte: Vor einem halben Jahrhundert erstellte meint Vater ein Werk, das die Kunstwelt erschütterte. Er verstieß nicht nur gegen den Kanon abstrakter Kunst in einer Zeit besonders doktrinärer Kunstkritik, er hielt auch dem weißen Amerika einen Spiegel entgegen, der die Banalität des Bösen und einen systemischen Rassismus darstellte, mit dem wir auch heute noch zu kämpfen haben.'"

Ljubow Popowa, Porträt einer Frau (Relief), 1915. Museum Ludwig, Köln, Foto: Rheinisches Bildarchiv, Köln

Das Kölner Museum Ludwig muss womöglich 22 seiner 69 Gemälde der russischen Avantgarde, die der Gründer und Stifter Peter Ludwig zusammengetragen hatte, als Fälschungen abschreiben. Mit einer großen Ausstellung stellt sich das Museum dem Debakel, begrüßt Catrin Lorch in der SZ: Eine Abschreibung von Meisterwerken in diesem Ausmaß hat es in einem deutschen Museum noch nie gegeben, es geht um Werke von Nikolai Suetin, Ljubow Popowa, Olga Rosanowa und El Lissitzky. Kunst der russischen Avantgarde ist ein Schwerpunkt des Museums. Offensichtlich jedoch hat sich Peter Ludwig, Gründer und Stifter des nach ihm benannten Museums in Köln, der seit den Siebzigerjahren russische Avantgarde ankaufte, häufig täuschen lassen; kaum ein Bereich der Kunstgeschichte ist so betroffen von Fälschungen."

Weiteres: Das Mauritshuis in Den Haag bietet eine neue Museumserfahrung an. Seit dieser Woche kann man ein Zeitfenster buchen, um mit Johannes Vermeers "Ansicht von Delft" im großen Saal ganz allein sein. Wegweisend findet Susanne Lenz in der Berliner Zeitung solcherart "Quality Time mit altem Meister". Ingeborg Ruthe besichtigt für die FR eine Schau mit neuen Bildern von Neo Rauch in der Leipziger Galerie Eigen+Art.
Archiv: Kunst

Literatur

Im Gespräch in der Berliner Zeitung mit Cornelia Geißler über seinen für den Buchpreis nominierten Roman "Herzfaden" über die Entstehung der Augsburger Puppenkiste rechnet Thomas Hettche mit den sozialen Medien ab: Sie "verführen uns dazu, permanent als moralische Personen zu agieren. Das Ergebnis ist Abgrenzung und Hass. Die Sphäre Literatur ist das Gegenteil davon, denn Kunst hat zunächst einmal nichts mit Moral zu tun. Nicht nur das Gute, auch das Böse wird in ihr lebendig, und das wiederum ist gut so, weil es im Leser und Betrachter ein Bewusstsein dafür schafft, wie weit das Feld des Menschlichen reicht. Wir nehmen Perspektiven ein, die uns fremd sind. ... Fatal ist, dass die sozialen Medien diesen Freiheitsraum zunehmend kleiner werden lassen. ... In dem Maß, in dem unsere Debatten über Kunst in die sozialen Medien abwandern, verschwindet die Neugier gegenüber der Eigengesetzlichkeit der Kunst. Wir erleben gerade eine völlig naive Politisierung der Kunst."

Eine ganze Reihe von AutorInnen, darunter Ian McEwan, Lionel Shriver und Tom Stoppard, haben mit einem offenen Brief JK Rowling unterstützt, die wegen ihrer angeblichen Transfeindlichkeit mit Schmähungen und Morddrohungen überschüttet wird, berichtet die Daily Mail. "In the letter, which was triggered in response to the hashtag #RIPJKRowling trending at number one on Twitter, they said Rowling is a victim of 'an insidious, authoritarian and misogynistic trend in social media'. The letter wrote the hashtag declaring her dead on social media was 'just the latest example of hate speech directed against her'." Rowlings Erfolg bei den Lesern konnte die Kampagne gegen sie nichts anhaben: Ihr neues Buch "Troubled Blood" verkaufte sich in den ersten fünf Tagen 64.633 mal.

Weitere Artikel: Im Nachlass von Simone de Beauvoir ist eine Kiste mit Briefen von Leserinnen an die Schriftstellerin aufgetaucht, berichtet Susan Vahabzadeh in der SZ. Die NZZ hat Michael Krügers Würdigung des Lyrikers Hans Erich Nossack aus ihrer Samstagsausgabe online nachgereicht - dieser habe mit "Bereitschaftsdienst. Bericht über die Epidemie" bereits 1973 eine heute erstaunlich hellsichtiges Buch geschrieben. In der FR berichtet Stefan Michalzik von einem Hölderlin-Abend mit Durs Grünbein.

Besprochen werden unter anderem Anne Webers "Annette, ein Heldinnenepos" (Standard), Sven Heucherts "Alte Erde" (taz), Szczepan Twardochs "Das schwarze Königreich" (SZ), Annette Mingels' "Dieses entsetzliche Glück" (Berliner Zeitung), Nikolaus Stingls und Dirk van Gunsterens Neuübersetzung von John Dos Passos' USA-Trilogie (NZZ), Ilija Trojanows "Doppelte Spur" (Intellectures), Zelbas Comic "Im selben Boot" (Tagesspiegel), Alexander Osangs "Die Leben der Elena Silber" (Standard), Georg Seidels Band "Klartext" mit Texten aus dem Nachlass (Berliner Zeitung) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Alan Gratz' "Vor uns das Meer" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt die Schriftstellerin Teresa Präauer über Elfriede Gerstls "sensualistisch - oder was":

"wenn ich grad will
            bin ich die wolke
..."
Archiv: Literatur

Bühne

Kleists "Erdbeben in Chili" am Residenztheater München © Sandra Then

Heinrich von Kleists
"Erdbeben in Chili" ist für Regisseur Ulrich Rasche wie geschaffen, glaubt Christiane Lutz in der SZ, hier kann er sich schön an den Energien der Massen abarbeiten. Und auch wenn sie die eingebauten von Zizek, Horx oder Papst Franziskus etwas überdeutlich fand, gefiel ihr die Inszenierung am Münchner Residenztheater gut: "Denn wenn Rasche das Laute sonst immer laut inszeniert, gelingt es ihm diesmal, das Leise leise bleiben zu lassen." In der FAZ zeigt sich Simon Strauß weniger überzeugt, Rasches "monotone Wortbeschwörungen" strapazierten seine Geduld über die Maßen: "Das grundsätzliche Problem seiner durch ihre entschiedene Ernsthaftigkeit jedes Mal von Neuem beeindruckenden Arbeiten, ist die Überkonnotation der Worte, das Gefühl, hier würde ausnahmslos jeder Satz doppelt und dreifach unterstrichen, als wäre alles gleich schwer und gleich gefährlich. Es gibt keine Aparts bei Rasche, keine plötzlichen, wahnwitzigen Ausflüchte, die Sprache ist eine Gefangene bei ihm, die auf eine Folterbank gespannt und qualvoll gestreckt wird." 

Als fantastisches Irrsinnstheater "zwischen Supertrash und Echtwelt-Horror" feiert Jan-Paul Koopmann in der Nachtkritik die Diskursrevue "King Kong und der alte weiße Mann" von Robert Gerloff und Anna-Teresa Schmidt am Oldenburger Staatstheater: Am Ende fliegt Alexander Kluge im Jagdflugzeug über der Bühne und lässt sich vom Empire State Building interviewen.

Besprochen werden außerdem Jan Philipp Glogers Inszenierung von Emmerich Kálmáns Operettenhit "Die Csárdásfürstin" an der Oper Zürich (die NZZ-Kritiker Thomas Schacher zufolge aus dem heiteren Stück eine düstere Geschichte macht), Schirin Khodadadians Fallada-Inszenierung "Jeder stirbt für sich allein" am Theater Konstanz (Nachtkritik), Pia Richters Uraufführung von Magdalena Schrefels "Ein Berg, viele" am Schauspiel Leipzig (Nachtkritik) und Emine Sevgi Özadamars "Das Leben ist eine Karawanserei - hat zwei Türen - aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus" im Heimathafen Neukölln (taz).
Archiv: Bühne

Film

Treuhand-Vize Hero Brahms Foto: Netflix


Steffen Grimberg hat sich für die taz mit Christian Beetz getroffen, einem der Macher der deutschen Netflix-TrueCrime-Doku "Rohwedder". Ins mittlerweile übliche Loblied ("kreative Freiheit") auf den Auftraggeber stimmt auch Beetz ein: "Während deutsche Dokfilmer*innen mühsam Filmförderung, Sendergelder und Kredite einsammeln müssen, zahlt Netflix monatliche Abschläge. 'Beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen sehen wir dagegen das Geld manchmal erst nach der Ausstrahlung und müssen deshalb viel über Banken zwischenfinanzieren.'"

Weitere Artikel: Für die FR plaudert Arno Widmann mit der Schauspielerin Christiane Paul, die sich freut, dass derzeit auch in Deutschland Rollen für vielschichtige böse Frauenrollen entstehen. Im Standard spricht Lars Eidinger über seine Rolle im Nazidrama "Persischstunden". Urs Bühler hat sich für ein NZZ-Gespräch mit dem Schweizer Regisseur Rolf Lyssy zusammengesetzt.

Besprochen werden Faraz Shariats postmigrantisch-queere Komödie "Futur Drei", die laut taz-Kritiker Stefan Hochgesand "bei aller Tragik eine große erfrischende, gar einnehmende Leichtigkeit beibehält", "In Berlin wächst kein Orangenbaum", das Regiedebüt des Berliner Schauspielers Kida Khodr Ramadan (Tagesspiegel), Maïmouna Doucourés auf Netflix gezeigtes, von Kontroversen gesäumtes Tanzdrama "Cuties" (Freitag), die dritte Staffel der Amazonserie "Deutschland", die diesmal im Jahr 1989 spielt (FAZ), die auf Arte gezeigte Serie "Bautzen" (FAZ) und neue DVDs der beiden Corman-Produktionen "Das Vermächtnis des Professor Bondi" und "Planet der toten Seelen" (SZ).
Archiv: Film

Design

Ikea hat seine historischen Kataloge online gestellt und auch wenn das Angebot zu Beginn der Firmengeschichte selbst schon für damalige Verhältnisse altbacken gewirkt haben mag, kommt in den Folgejahren doch ziemlich Tempo in die Sache, staunt Andrea Diener in der FAZ: "Klickt man sich durch die Jahrzehnte, findet man einen wahren Schatz an Formen, die es neu aufzulegen lohnte. Der herrlich geschwungene Stuhl Winni etwa auf seinem grazilen Teakgestell, die Drehsessel der sechziger Jahre auf ihren Stahlfüßen oder die an den Klassiker von Louis Poulsen gemahnenden Küchenlampen mit ihren sich aufblätternden Glasschichten könnte man sich ohne weiteres auch in modernen Wohnungen vorstellen. ... Erste Designexperimente werden gewagt, etwa mit dem Sessel 'Bohem', einer eierförmigen Sitzgelegenheit auf dünnen Stahlrohrbeinchen, die laut Text 'ytterst bekväm' sei, was sich aus der reinen Anschauung nicht unbedingt erschließt."
Archiv: Design
Stichwörter: Ikea, Möbeldesign

Musik

Christina Mohr schreibt in der Jungle World über die immer noch von Diskriminierung und ungleicher Bezahlung geprägte Lage weiblicher DJs. Die sind auf entsprechende Anfragen allerdings nicht mehr ganz so auskunftsfreudig wie früher, wie das Beispiel einer Kölner DJ belegt: '"Künstlerinnen Frauenfragen zu stellen, bevor man über ihre Arbeit spricht, what the fuck! Ich will über Sound reden, über Perspektiven für elektronische Musik. Wenn ich für den feministischen Diskurs eher tauge als für den künstlerischen, dann ist die Priorisierung sexistisch und der Wert meiner Arbeit wird untergraben.' Oder wie es TOKiMONSTA in 'Underplayed' ausdrückt: 'I'd rather be someone's favourite producer than someone's favourite female producer.'"

Daniel Gerhardt hört sich für ZeitOnline durch A.G. Cooks mit einem Siebenfach-Album namens "7G" und einem prompt nachgereichten weiteren Album namens "Apple" binnen kurzer Zeit sehr angeschwollenen Output. Cook ist zugleich Betreiber des Labels PC Music, das in der Szene wegen ihres deppert-debilen Ultra-Pop-Sounds gelinde gesagt umstritten ist. Theoretiker haben an dem Zeug viel Freude, aber "viele Tracks seiner Projekte klingen bewusst hohl, ultraniedlich bis an die Grenze zur Hirnverbranntheit. Das britische Magazin Fact, bekannt für notorische Ernsthaftigkeit, kritisierte die Musik von Cook und anderen PC-Acts deshalb als 'verächtliches Parodiegehabe'." Sagen Sie nicht, Sie seien nicht gewarnt worden:



Weiteres: Gemessen an der Bevölkerungszahl hatte die DDR einst die höchste Dichte an Klassikorchestern, staunt Frederik Hanssen im Tagesspiegel nach Lektüre der neuen Ausgabe von Das Orchester: Allerdings sind von den einst 76 ostdeutschen Orchestern nach der Wende 24 auf der Strecke geblieben.

Besprochen werden unter anderem Tabea Zimmermanns und Christian Gerhahers Aufführung von Wolfgang Rihms neuer Komposition "Stabat Mater" in München (SZ), Thurston Moores "By the Fire" (Standard), das neue Album der Fleet Foxes (ZeitOnline), ein Abend mit Michael Wollny und Christian Brückner (FR) und Maria Peters' Biopic "Die Dirigentin" über Antonia Brico (Welt).
Archiv: Musik