Efeu - Die Kulturrundschau

Tausend Stufen Grau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.10.2020. Tagesspiegel und FAZ bewundern eine sarkastisch giftende und süß überschwallende Dagmar Manzel in Schönbergs "Pierrot Lunaire". Die NZZ betrachtet die Narben in der Kunst Kader Attias. In der FAZ hofft Ines Geipel für ostdeutsche Schriftsteller auf eine Würdigung von eigensinniger Lebenssubstanz. Der Tagesspiegel vermisst den Witz in Sofia Coppolas Komödie "On the Rocks". CR Fashion Book feiert das Pink der Elsa Schiaparelli.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.10.2020 finden Sie hier

Bühne

Dagmar Manzel in Samuel Becketts "Nicht ich". Foto: Monika Rittershaus


Die Komische Oper Berlin eröffnet ihre Saison mit 75 Minuten Schönbergs "Pierrot Lunaire", Beckett und - jedesmal allein auf der Bühne - Dagmar Manzel. Rüdiger Schaper (Tagesspiegel) spürt alle Auftritte hindurch "das Absurde, auf Dauer Bedrohliche der Lage" in Coronazeiten: "Als Pierrot steckt Dagmar Manzel in einem Matrosenanzug. Das große Kind hat ein Kuscheltier dabei, aber das lässt es nur noch einsamer erscheinen. Die 21 Gedichte, die Schönberg aus dem Giraud-Zyklus auswählte, wirken nun nicht durchweg deprimiert. Der Clown kann sarkastisch giften, lyrisch träumen, oft auch hat die Kompositon etwas Karikaturenhaftes; es sind schließlich Skizzen - stark akzentuierte Sprechmelodien. Also singt Dagmar Manzel nicht, vielmehr schärft sie die Silben auf eine Art, die an Weill und Brecht erinnert. Diese Szenen aus dem Nachtleben des traurigen Pierrot klingen wie mit einem scharfen Messer ausgeschnitten."

Auch FAZ-Kritiker Gerald Felber war beeindruckt: "Dagmar Manzel deklamierte bald tückisch gewitzt und flink, bald somnambul abwesend oder mit dem süß überschwallenden Pathos katholischer Wachsmadonnen, jederzeit Silbe für Silbe verständlich. Doch das allein wäre nur die halbe Miete gewesen; was Kosky mit ihr im tigernden Um- und Einkreisen des Bettgestells, im Spiel mit Kissen oder einem kleinen Teddy entwickelt hatte, was sie selbst an formelhaft reduzierten oder ironisch schablonierten, immer konsequent eingekreisten Posen und Minen - oft aus einer gewissen, leise Abstand nehmenden Halbdistanz - dazugab, war eine Inszenierung des eigentlich Uninszenierbaren als fragmentarische Ganzheit." In der Berliner Zeitung meint Clemens Haustein dagegen: "Manzels Kunst in Ehren: Der Abend kann sich nie so ganz von der Anmutung lösen, vor allem ein Geschenk an die Darstellerin zu sein. ... Zum großen Schlag gegen die Corona-Verdrießlichkeit will Kosky, dessen Regie-Beitrag zu diesem Abend sehr überschaubar bleibt, dann Ende des Monats ausholen, mit Jaques Offenbachs 'Großherzogin von Gerolstein'."

Weiteres: In der FAZ erinnert Simon Strauß daran, wie sehr die Theater in Ostdeutschland zur Wende beigetragen haben.  Besprochen werden außerdem die Uraufführung von Miroslava Svolikovas "Rand" in der Inszenierung von Tomas Schweigen am Schauspielhaus Wien (nachtkritik) und die Uraufführung von Armin Petras' Schauspiel "düsterer spatz am meer / hybrid (america)" am Theater Bremen (taz).
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Literatur

Zum morgigen Tag der Deutschen Einheit wirft die Schriftstellerin Ines Geipel in der FAZ einen Blick in die Geschichte der ostdeutschen Literatur, die dank einiger Preisauszeichnungen in den letzten Monaten wieder verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt ist: Kritisch waren aber eben nicht nur Helga Schubert und Elke Erb, die nun wiederentdeckt werden. Hinter diesen beiden Namen steht eine ganze Reihe von Literaten, die erst von der DDR-Staatsführung abgedrängt und dann von der westdeutschen Literaturkritik dem Vergessenwerden überlassen wurden. "Die Qualität der Texte? Die Referenzlinien des Verschwundenen? Man kannte beides nicht, also war es nicht gut. Die verfemte Gegenwelt der Diktatur fand auch aufgrund dieser Abwehr kaum Eingang ins Gesellschaftsgespräch. ... Wenn das Preismodell der Würdigung von eigensinniger Lebenssubstanz und eigensinnigem Text von nun an Standard wird, steht der deutschen Literatur ein Klondike der Texte ins Haus. Denn zu erschürfen, zu ersieben, zu entdecken ist ein ganzes Eldorado, eine vielstimmige unveröffentlichte Literaturlandschaft. Die dritte Literatur des Ostens."

Etwas rätselhaft im harten Kontrast dazu liest sich Sandra Kegels ebenfalls in der FAZ veröffentlichte Darstellung der ostdeutschen Kulturszene, die etwa im Hinblick auf das DEFA-Kino Unkenntnis durchschimmern lässt (dass die DEFA mehr war als bloß sozialistischer Realismus, Kunstverbot und Märchenfilm sollte eigentlich klar sein). Kegel, in der Bundesrepublik geboren, beschwört im Hinblick auf die Literatur eine große Kulturnation, die keinen Eisernen Vorhang kennt: Sie misst den Schriftstellern der DDR "eine schillernde Doppelrolle zu. ... Aus der Ohnmacht heraus entstand zugleich große Kunst. Jurek Becker, Sarah Kirsch, Heiner Müller und Ulrich Plenzdorf gehörten lange vor 1989 zum Kanon der deutschen Literatur. Wenn es vor 1989 so etwas gab wie die Phantasie von einer ungeteilten Nation, dann fand sie sich am ehesten im Ideal einer unteilbaren Literatur."

Der Tagesspiegel spricht dazu passend mit Marko Martin, der sich in seinem (in der Berliner Zeitung besprochenen) Band "Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens" mit der Literatur der DDR befasst. "Manche literarische Sprache in der DDR war eine gehobene Sklavensprache", sagt er. "Eine vorverständigte Gemeinschaft dachte: 'Ja, ich weiß, was gemeint ist. Es ist von Troja die Rede, aber es ist partiell die DDR.' Solch wisperndes Andeuten mag durchaus zu temporärer seelischer Stabilisierung beigetragen haben - und hat doch gleichzeitig etwas Verpupptes und Vermucktes."

Besprochen werden unter anderem Christine Wunnickes "Die Dame mit der bemalten Hand" (taz), Anne Webers "Annette, ein Heldinnenepos" (FR), Anatol Regniers Studie "Jeder schreibt für sich allein" über Schriftsteller im Nationalsozialismus (NZZ), Joe Saccos Comicreportage "Wir gehören dem Land" (taz), Jane Gardams erstmals auf Deutsch vorliegender Roman "Robinsons Tochter" von 1985 (Tagesspiegel), Lola Randls "Die Krone der Schöpfung" (ZeitOnline), Charles Lewinskys "Der Halbbart" (Presse), Heinz Budes, Bettina Munks und Karin Wielands Hausbesetzerroman "Aufprall" (SZ) sowie Susanna Clarkes "Piranesi" (Literarische Welt).
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Musik

Ein Festival in Genf erinnert an den Komponisten Louis Vierne, berichtet Thomas Schacher in der NZZ.

Besprochen werden die von einem Buch abgerundete Vinylbox "Too Much Future" über den DDR-Punk der 80er (taz), das neue Album von Roísín Murphy (taz, Standard), ein Auftritt von Anna Prohaska (Tagesspiegel), das neue Album von Marilyn Manson (FR) und Sufjan Stevens' "The Ascension" (Berliner Zeitung, Standard). Daraus ein Video:

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Architektur

Im Interview mit der NZZ erklären Beat Aeberhard, Kantonsbaumeister von Basel-Stadt, und der Architekt Quintus Miller, warum es völlig okay ist, dass Basel mit dem Baloise-Turm ein neues Hochhaus hat: "Türme sind seit je Zeichen einer prosperierenden Stadt. So betrachtet, ist das alles eine positive Entwicklung." Besprochen wird die Ausstellung "Urbainable" in der Berliner Akademie der Künste (FAZ).
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Design

Zsazsa Gabor als Jane Avril in dem Film "Moulin Rouge" von 1952. Kleid: Elsa Schiaparelli


Als Elsa Schiaparelli 1937 Pink zu ihrem Erkennungszeichen machte, galt die Farbe nicht als besonders mädchenhaft oder gar süß. Aber dann fiel Schiaparellis Wahl ja auch nicht auf pastelliges rosa, sondern eben auf - shocking pink. Was nicht nur toll, sondern auch klug war: "Mit diesem kräftigen Farbton hoben sich ihre Entwürfe von den zurückhaltenden Farbpaletten ab, die im Zweiten Weltkrieg die Mode übernommen hatten", schreibt Alyssa Kelly in Carine Roitfelds CR Fashion Book. "In Paris führte Schiaparellis wachsende Popularität dazu, dass sie 1952 als Kostümbildnerin für den Film 'Moulin Rouge' engagiert wurde und speziell das Kleid von Zsa Zsa Gabor für ihre Figur Jane Avril entwarf. Das Gespür der Designerin für Farben und avantgardistische Details machte sie zur idealen Wahl für Gabors Rolle als Sängerin in einem Nachtclub. Gekleidet in ein rosa-rotes Schiaparelli-Kleid, war sie eine Vision von unverkennbarer weiblicher Energie."

Der neue BMW 4


Männliche Energie geht anders. SZ-Kritiker Gerhard Matzig bekommt das Gruseln, wenn er in die Monsterfresse des neuen BMW guckt: "Als Studie ist die Kühlergrillwucherung seit der IAA bekannt. Geleakt wurden paparazzohafte Bilder im Frühjahr, offiziell vorgestellt wurde das Design im Juni - und jetzt erobert die BMW-Niere unseren Lebensraum. Das ist, wie man weiß, die Straße und also der Stau, wo auch schon Audi und Mercedes so gewaltbereit wie ratlos herumstehen. Der neue 4er wird von BMW raubtierhaft, auf Beute lauernd inszeniert. Er sagt, was sonst Greta Thunberg sagt: 'I want you to panic.'"
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Film

Wenn der Vater mit der Tochter einmal ausgeht: Rashida Jones und Bill Murray in "On the Rocks"

17 Jahre nach "Lost in Translation" hat Sofia Coppola mit "On the Rocks" wieder einen Film mit Bill Murray gedreht - eine lakonische Komödie über eine Vater-Tochter-Beziehung, in der zwischen Murray und der von Rashida Jones gespielten Tochter nicht alles zum Besten steht. Ein Film von "wohliger Vertrautheit", schreibt Barbara Schweizerhof in der Presse, die sich fast in "Lost in Translation" zurückversetzt fühlt. Was auch daran liegt, dass keiner so brillant melancholisch abhängt wie Murray: "Er kann seine Kunst ausspielen, jede Anstrengung im Schauspiel verschwinden zu lassen." Klar, alles wieder smooth und "wunderbar sentimental", schreibt auch Christiane Peitz im Tagesspiegel. "Aber warum nur arbeitet sich Sofia Coppola immer wieder an solchen Figuren wie diesem hoffnungslosen Narzissten und Übervater ab? Warum bleibt Laura so blass, so defensiv? ... Murrays Sottisen, etwa die, wonach Männer seit Urzeiten vor allem Frauen begehren, die von kleiner Statur sind, glatte Haut, große Brüste und keinen Bart haben, werden als geschliffene Pointen präsentiert. Coppolas Drehbuch gönnt Laura nicht eine einzige gewitzte Replik."

Besprochen werden außerdem Eliza Hittmans "Never Rarely Sometimes Always" (FAZ, FR, Tagesspiegel, unsere Kritik), Oskar Roehlers Fassbinder-Film "Enfant Terrible" (Zeit, Freitag, Standard, mehr dazu bereits hier) und Joanna Hoggs' "The Souvenir" (Tagesspiegel).
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Kunst

Kader Attia, Culture, Another Nature Repaired, 2014-2020. Courtesy of the artist and Galerie Nagel Draxler, Foto: Kader Attia, © 2020 ProLitteris, Zurich


Narben zeugen für die einen von Verletzungen, für die anderen sind sie Schmuck. Aber wie man auch mit ihnen umgeht, "es geht doch immer darum, das eigene Erscheinungsbild mit den Normen der sozialen Einheit, der man zugehört, in Einklang zu bringen", lernt Gabriele Detterer (NZZ) in Kader Attias Ausstellung "Remembering the Future" im Kunsthaus Zürich. In einer Videoinstallation befasst sich Kader Attia "aber noch mit einer anderen Form von Narbe: nämlich mit dem kolonialen Erbe. ... Was aber hat nun die Forderung nach der Rückgabe ritueller Artefakte an die Herkunftsländer mit der Narbenthematik zu tun? Verfolgt man die im Video dargelegten Meinungen, stellt man sich die Frage, ob die Restitution der Kulturgüter das in der Kolonialzeit begangene Unrecht und Verbrechen wiedergutmachen oder nur oberflächlich vernarben lassen soll. Sichtbare Narben jedenfalls können eine notwendige Erinnerungskultur fördern, summieren sich gar zu Erinnerungskapital für künftige Zeiten."

Harald Hauswald, Prenzlauer Berg, 1985. Foto: Harald Hauswald / OSTKREUZ / Bundesstiftung Aufarbeitung / C/O Berlin


Auch Gustav Seibt ist ganz hingerissen von den Fotos des ostdeutschen Fotografen Harald Hauswald, die derzeit im c/o Berlin zu sehen sind. Worüber sich die DDR-Bonzen damals so aufregten, dass sie Hauswald unter Beobachung stellten, kann der SZ-Kritiker allerdings nicht verstehen: "Wie alle die großen Fotokünstler, die die letzten Jahre der DDR vornehmlich in Schwarz-Weiß begleitet haben - voran Roger Melis, der vor einem Jahr seine Werkschau in Berlin-Schöneweide erhielt -, nutzt Hauswald die tausend Stufen Grau des Altbauverfalls für schönste Grisaillen. Er zeigt einen öffentlichen Raum fast ohne Öffentlichkeit. Da er gern am Werktag unterwegs ist, sind die oft leeren Straßen vor allem von Kindern, Alten und jungen Müttern bevölkert. Die Alten sind noch alt wie früher, düster-still gebeugt und verhutzelt, nicht so bunt und fit wie heute."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel führt Christiane Meixner in das Programm des Europäischen Monats der Fotografie in Berlin ein, Udo Badelt empfiehlt besonders eine Ausstellung der Fotografien des ostdeutschen Fotografen Roger Melis 1982 in Paris. Der Umgang mit der geplanten, jetzt erst mal abgesagten Philip-Guston-Ausstellung (unsere Resümees) ist "ein kunstwissenschaftlicher Offenbarungseid", meint Marcus Woeller in der Welt.

Besprochen werden eine Ausstellung der Fotografien von Ruth & Lotte Jacobi im Willy-Brandt-Haus in Berlin (Berliner Zeitung), Sven Marquardts Porträtserie von 26 Tänzerinnen, Tänzern und Akrobaten des Friedrichstadt-Palastes (Tsp., Berliner Zeitung) und die Schau "Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht" im Mainzer Landesmuseum (Welt)
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