Efeu - Die Kulturrundschau

Unbehagliche Widersprüchlichkeiten

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.10.2020. Die Berliner Zeitung lässt sich mit den Fotos von Askan Sahihi noch einmal von den Energien New Yorks in den Achtzigern mitreißen. Ansonsten ist es ein schwarzer Tag für die Feuilletons: In den Kinos drohen derweil diesen Herbst endgültig die Lichter auszugehen, warnt die SZ. (Constantin-Vorstand Martin Moszkowicz meint allerdings: Alles Panikmache.) Die Theater- und Filmkritiker trauern um Herbert Feuerstein, die Musikkritiker um Eddie van Halen, die Literaturkritiker um Ruth Klüger.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.10.2020 finden Sie hier

Kunst

Ashkan Sahihi: John Cage, New York, 1990. Foto aus dem besprochenen Band


Hanno Hauenstein unterhält sich für die Berliner Zeitung mit dem vor Energie sprühenden iranischen Fotografen Askan Sahihi, dessen Bildband "The New York Years" mit Fotos aus den Achtzigern und Neunzigern gerade erschienen ist und dessen Porträts von Schriftstellern, Künstlern, Musikern und Filmemachern für Hauenstein die ganz besondere Atmosphäre New Yorks in diesen Jahren widerspiegeln: Sie "sind wie tragende Bogenelemente eines kreisförmigen Ganzen: des Mythos New York, wie er in zig Songs, Filmen, Büchern und Bildern bespiegelt wurde, als schillernder Inbegriff eines linksalternativen Kulturlebens. Ein Mythos, der die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts bis ins Mark prägt und dem noch heute jede Großstadt der Welt - inklusive New York selbst - hinterherjagt. 'Es war ein Mythos, der sich selbst fütterte', sagt Sahihi. 'Wenn du in den 80er-Jahren nach New York kamst, war es eine Art Pflicht, ihn zu nähren. Alle wollten was, egal wo du herkamst, ob du Tänzer warst oder Transe, Künstler oder Choreograph, dieser Glutkern an Energie musste dich einfach mitreißen.'"

Besprochen werden außerdem die Artemisia-Gentileschi-Ausstellung in der Londoner National Gallery (NZZ), die Georges-Braque-Retrospektive "Tanz der Formen" im Bucerius Kunst Forum in Hamburg (Welt) und die Hito-Steyerl-Retrospektive in der Kunstsammlung Düsseldorf (Zeit).
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Film

Sollte die Kinos retten: Der neue, wieder verschobene James Bond


Der neue James Bond - und dann heißt er noch, Ironie des Schicksals, "Keine Zeit zu sterben" - läuft nun doch erst im April 2021, auch Denis Villeneuves SF-Blockbuster "Dune" erreicht die Leinwände ein Jahr später als geplant. Die Kinos senden verzweifelt SOS. Cineworld, die zweitgrößte Kinokette der Welt, hat schon mal vorsorglich und bis auf weiteres hunderte Kinos weltweit geschlossen. Sterben die Kinos, sei dies ein Schlag für die urbane Kultur, meint Gerhard Matzig in der SZ, der an die einst treibende Kraft der Kinos in der Entwicklung städtischen Lebens erinnert: Das Lichtspielhaus "ist nicht allein eine Traummaschine, sondern im günstigsten Fall auch eine Raummaschine, die von der Stadt und ihrem Publikum lebt, aber auch für die Stadt bedeutsam ist wie wenig andere Typologien." Denn "schon immer ist das Kino als Ort der Kunst und der Unterhaltung ein Raum der Vielfalt und der Widersprüche. ... Das Kino ist in dieser Sichtweise eine Architektur der Komplexität, die existenziell für den Stadtraum ist. "

Wie geht es nun weiter? Philipp Bovermann, Tobias Kniebe und Susan Vahabzadeh haben für die SZ in Erfahrung gebracht, dass die hiesigen Kinos und Verleiher nun auf deutsche Publikumsware wie den neuen Eberhofer-Krimi "Kaiserschmarrndrama" setzen. Den hatte die Constantin erst verschoben. Dass die Blockbuster nun das Jahr 2020 fliehen, ist jedoch "'ein Erdrutsch für die Branche, dadurch gibt es in den nächsten Monaten kaum noch Konkurrenz', sagt Constantin-Vorstand Martin Moszkowicz am Telefon aus Los Angeles, wo er unverdrossen internationale Projekte vorantreibt. 'In dem Vakuum, das der Bond-Film hinterlassen hat, werden wir jetzt eine ganze Reihe von Titeln starten, die wir eigentlich erst 2021 bringen wollten.' ... 'Das Kino verschwindet nicht und es stirbt auch nicht, das halte ich alles für Panikmache', sagt Moszkowicz mit Blick auf den deutschen Markt. Die Amerikaner seien in der Bredouille, weil New York als zweitwichtigster Regionalmarkt mit 25 Millionen Einwohnern von Amts wegen derzeit geschlossen sei, andere Metropolen ebenso."

Besprochen werden Bertrand Bonellos "Zombi Child" (taz, SZ), Todd Haynes' "Vergiftete Wahrheit" (taz, Berliner Zeitung), Jean Paul Salomés Gaunerkomödie "Eine Frau mit berauschenden Talenten" mit Isabelle Huppert (ZeitOnline, Tagesspiegel, Berliner Zeitung) und die auf AppleTV gezeigte Serie "Tehran" (taz).
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Architektur

Niklas Maak begutachtet für die FAZ staunend das monumentale, 300 Millionen Euro teure neue Haus von Rem Koolhaas für den Springer Konzern: "Hier ist ein Prototyp für eine Arbeitswelt der Zukunft entstanden, eine Stadtmaschine des Digitalzeitalters, wie es sie noch nicht gab", meint er. Ob Springer aber die Versprechen einhalten kann, die in dem Bau liegen? "Jetzt schon jedenfalls treiben die neuen Internetarbeiter wie Plankton durch die Riesenräume, lassen sich mal hier nieder, plaudern und versenden mal da etwas. Es hängt aber letztlich nicht an der Architektur, sondern an den Arbeitsverträgen, ob das freie Herumtreiben ohne festen Schreibtisch ein prekäres von unterbezahlten und ausgebeuteten Mitarbeitern ist oder ob man hier, gut abgesichert und daher 'angstfrei', wie Steinmeier anmahnte, wirklich freier arbeiten kann." (Erstaunlich, dass niemandem auffällt, wie bedrohlich dieser schwarze Block von außen wirkt, neben dem ja auch noch die riesige alte Springer-Zentrale steht: Bild.)
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Literatur

Widerständige Stimme der Erinnerung: Ruth Klüger, 2016. (Bild: Amrei-Marie, CC BY-SA 4.0, zugeschnitten)

Die Feuilletons trauern um die Shoah-Überlebende, Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger. Ihr Memoir "weiter leben. Eine Jugend" zählt für Paul Jandl von der Welt zu den großen Werken der Erinnerungsliteratur an den Holocaust. Dass Klügers "diagnostischer Blick nicht nur auf die eigene biografische Umgebung fiel, sondern die Kollektive der Macht ebenso im Visier hatte wie die Rolle der Opfer, macht 'weiter leben' zu einer wichtigen politischen Analyse." Auch "ihre Analysen zu Arthur Schnitzler und Thomas Mann, zur Lyrik und zum speziellen Blick schreibender Frauen sind getragen von der Idee, dass kühle Zurückhaltung zu nichts führt." Darauf verweist auch Hubert Spiegel in der FAZ: Den lakonischen Buchtitel ihrer Autobiografie erklärte sie einmal so, dass weiter leben nichts bedeute außer "'dass das Weiterleben von alleine kommt und man nichts dazu tun muss, außer dem Umgebrachtwerden zu entgehen. Die Möglichkeit, getötet zu werden, haftet nämlich unsereinem nachher auch in Friedenszeiten im Hinterkopf.' Sätze wie diese gingen ihr scheinbar unbekümmert über die Lippen. Ungeheures war ihr geläufig geblieben. Warum, so schien ihr Blick im Gespräch manchmal zu sagen, sollte ich das zartfühlender, schonender formulieren? Mich hat ja auch niemand geschont."

Verdächtig war ihr "die 'Museumskultur', die laut Klüger rund um den Holocaust herrscht und die unter den Tätern und den überlebenden Opfern zu wohlfeilen Gefühlen führen kann", hält Paul Jandl in der NZZ fest: "Als Überlebende wollte sie für die Lebenden schreiben, wollte die Ambivalenzen und Transformationen der eigenen Empfindungen teilen. Es hatte etwas lebenslang Emanzipatorisches, sich den Blick auf die eigene Biografie zurückzuerobern." Ins Klischeebild der nachsichtigen Überlebenden mit dem Herzen aus Gold wollte Klüger sich nicht fügen, schreibt Maria Sterkl im Standard: "Sie gestand, den heutigen Wiener Kindern gegenüber 'unvernünftige Ressentiments' zu empfinden, weil sie im Prater herumtollen und Museen besuchen dürften, dass die Nachkommen der damaligen Täter heute Freiheiten genießen, die ihr als Mädchen nur deshalb genommen wurden, weil sie Jüdin war. Diese Ehrlichkeit, dieser helle Verstand, der die unbehaglichen Widersprüchlichkeiten ausleuchtete, verbunden mit der seltenen Gabe, dafür die passenden sprachlichen Nuancen zu finden - das alles machte Klügers Werk außerordentlich."

In der taz erinnert sich Felix Zimmermann an seine letzte Begegnung mit Klüger. Weitere Nachrufe in Berliner Zeitung, SZ, ZeitOnline und Tagesspiegel. Der BR hat eine Lesung mit Klüger aus dem Jahr 2011 wieder online gestellt.

Weitere Artikel: Die FAS hat ihr Gespräch mit Sigrid Nunez, deren Buch über Susan Sontag gerade auf Deutsch erschienen ist, online nachgereicht. Gerrit Bartels hat sich für den Tagesspiegel mit Heinz Bude, Bettina Munk und Karin Wieland getroffen, die mit dem Roman "Aufprall" ihre Zeit in der Westberliner Hausbesetzerszene der 80er verarbeiten. Oliver Ristau berichtet im Tagesspiegel, wie das Hamburger Comicfestival Corona trotzt. Coronabedingt kann es dieses Jahr keine große Zeremonie für den Literaturnobelpreis geben, der heute um 13 Uhr verkündet, schreibt Roman Bucheli in der NZZ und glossiert, dass der Preis dann ja eigentlich passenderweise an Elena Ferrante gehen müsste (der Perlentaucher hinter diesen Zeilen würde für diese goldene Gelegenheit ja Thomas Pynchon vorschlagen).

Besprochen wird unter anderem Hiromi Gotos "Chor der Pilze" (FAZ). Die Zeit eröffnet ihre Literaturbeilage mit einem Erzählband der Tennisspielerin Andrea Petkovic.
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Bühne

Herbert Feuerstein, 2005. Foto von Elke Wetzig (elya) - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0
Herbert Feuerstein ist gestorben. Er war einem großen Publikum vor allem aus den Shows von Harald Schmidt bekannt, neben dem er sich mühelos behaupten konnte. Auf Zeit online würdigt Georg Seeßlen den Kabarettisten und Schauspieler: "Was verband den Humor der Neuen Frankfurter Schule und der Gründer der Satire-Zeitschrift pardon, die einst so wichtig war für den kleinen Widerstand, den man an seinem Kiosk zeigen durfte, mit dem deftigen, aber durchaus Mainstream-kompatiblen Witz der amerikanischen Zeitschrift Mad? Was eine serielle TV-Unverschämtheit wie 'Schmidteinander' mit einer liebevoll klamottigen Genre-Parodie wie 'Der Schuh des Manitu'? Was verband Generationen, Szenen, Anschauungen, Geschmäcker, Kontinente, Erwartungen an das Komische? Was Märchenstunde und Pop-Poesie? Die Antwort ist immer: Herbert Feuerstein. Ein Kerl, der nie ganz die Mitte der Bühne besetzte, dafür aber immer passte, einer, dessen Komik immer am besten funktionierte, wenn er nicht eine krachende Pointe servierte, sondern mit stoischer Mine irgendwo eins draufsetzte, und einer, der es gewohnt war, die schwere Arbeit des Komischen im Hintergrund zu betreiben."

Und hier: Schmidt und Feuerstein in "Dr. Basedows Augen"



Weiteres: In der nachtkritik erinnert sich der Ostberliner Theatermacher Reinhard Gröber an seine letzte Inszenierung vor der Wende am Landestheater Parchim. Besprochen werden eine Aufführung der "Lady Macbeth von Mzensk" am Staatstheater Wiesbaden (FR) sowie eine "Walküre" an der Deutschen Oper Berlin und Luca Francesconis Heiner-Müller-Oper "Quartett" an der Staatsoper Berlin (beide Zeit).
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Musik

Achtung, es wird laut:



Die schönste Nachrufüberschrift hat heute die FAZ: Jan Wiele trauert um "Edward mit den schnellen Händen", Gitarrenlegende Eddie Van Halen also, dem wildesten Saiten-Solo-Derwisch seit Strom durch Gitarren fließt. Seine Technik des Tappings ist bis heute unerreicht. Er hatte entscheidenden Anteil bei der Transformation des noch am Blues orientierten Hard Rock von Led Zeppelin in Richtung 80s-Metal, erinnert Julian Weber in der taz: Seine "Spezialität war das Spielen mit beiden Händen am Gitarrenhals. Zudem vollführte er bei extremen Tempi effekthascherische Vollbremsungen, ließ durch komplexe Phrasierungstricks Melodien zerschellen, nur um im nächsten Moment durch niedertourige Heul- und Splittereffekte anderswo im Lied anzuknüpfen." Das Solo-Stück "Eruption", das wir oben eingebunden haben, ist hierfür das Paradebeispiel. Aber auch Michael Jackson griff für "Beat It" gerne auf Eddies Fingerfertigkeiten zurück, schreibt Jakob Biazza in der SZ: "Alles, was die Gitarre damals konnte, ist in diesen wenigen Takten. Und einiges, was sie so vorher noch nicht konnte."

Joachim Hentschel denkt auf ZeitOnline versonnen an manche Knoten in den Stimmbändern zurück, die er Eddie van Halen zu verdanken hat: Dessen Soli "konnte man nicht so leicht mitsingen. Denn sie klangen so: Uuurrrooaaah-nääälilälilälilälilä! Wää-liuuuwäääh-uooo-auschmnu! Brrrmm-öööh!" Diese Musik war "ein grandioses Sich-selbst-Ausliefern an alle denkbaren Launen des Schalls. Ein Herausfordern der kosmischen Vibrationsgewalt, eine sonische Gewitter- und Skulpturkunst, mit einem Handgelenk in der Hölle, mit dem anderen dennoch fest im Koks- und Bumsrock seiner fantastillionenfach verkaufenden (und verkauften) Rampensaugruppe Van Halen." Kein Wunder bei solchen kosmischen Enthusiasmuskaskaden, dass Van Halen im 80s-Klassiker "Zurück in die Zukunft" einen denkwürdigen Auftritt hatte: In den unschuldigen 50ern dient deren Science-Fiction-Musik als sonische Waffe eines Außerirdischen:



Weitere Artikel: Edo Reents schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Reggaesänger Johnny Nash. Besprochen werden Chris Frantz' Buch "Remain in Love", in dem der Drummer der Talking Heads deren Bandgeschichte aufrollt (Standard), ein Konzert des Zafraan Ensemble (NMZ) und Arurmukhas wiederveröffentlichte Soundcollage "14.11.90 - ein akustisches Psychogramm" über die Räumung der besetzten Häuser in der Ostberliner Mainzer Straße im November 1990 (taz). Und das Logbuch Suhrkamp präsentiert die neue Folge aus Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte":

Archiv: Musik