Efeu - Die Kulturrundschau

Mutter, gib mir Sonne

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.10.2020. Der Freitag träumt mit Pablo Heras-Casados kampfbereiter Aufnahme von Beethovens Neunter noch einmal den Traum von universeller Solidarität. Im Interview mit dem Van Magazin beklagt der EU-Abgeordneten Romeo Franz den Antiziganismus der Klassikszene. Die Theaterkritiker irren am BE durch Ibsens "Gespenster", die Mateja Koležnik im Dunkeln lässt. Die FAZ fragt angesichts von Philip Grönings Oktoberfest-Simulation: Ist KI der bessere Künstler?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.10.2020 finden Sie hier

Musik

Völlig umgeworfen, geradezu ekstatisch perplex bespricht Stefan Siegert im Freitag eine neue Aufnahme von Beethovens Neunter durch das Freiburger Barockorchester unter Pablo Heras-Casado: So kongenial, so passend zu ihrer Aussage habe man die Symphonie noch nie gehört! Sie klinge hier "schon fast wie befreit vom Alb der Renditen und ihrer Kriege, befreit damit auch von aller Heuchelei." Hier ist nun "Schluss mit der zweihundertjährigen Symphokratie der Streicher", hier werde gleichberechtigt gespielt: "Flöten und Fagotte sind für lange Passagen Hauptdarsteller und dominante Dialogpartner der Streicher, die Blechbläser treten in den Vordergrund, wenn sich das Ideal, das aus Beethoven spricht, kampfbereit zeigt. Die Pauke, für lange Zeit am Katzentisch des Orchesterklangs, wird vor Eintritt der Reprise, in einer martialischen Demonstration bürgerlich-revolutionärer Kraft zur Klangfarbe." Und "bevor es richtig losgeht im berühmten Finale, chillt der Tonsetzer in ewigkeitlich klangschönen Variationen noch einmal den Traum von universeller Solidarität. ... Dann ist die Melodie der Ode da, und es gibt kein Halten mehr." Auf Youtube gibt es Eindrücke von den Aufnahmen:



Für VAN spricht Merle Krafeld mit dem EU-Abgeordneten Romeo Franz unter anderem über Antiziganismus in der Klassikszene, die sich hier als sehr verschlossen erweist, wie ihm zugetragen wurde. Wer sich outet, höre rasche Sätze wie "Ein Zigeuner kann nicht unser Konzertmeister sein", weshalb sich viele Sinti und Roma eher bedeckt halten und "von Anfang an die ethnische Zugehörigkeit verschweigen. Das passiert sehr sehr oft. Im Kunstbereich vermutet man eigentlich eine große Offenheit, aber leider ist der Antiziganismus auch dort stark verbreitet. Es sei denn, ich mache 'traditionelle Musik', Sinti-Jazz oder dergleichen, da unterstellt man, dass mir solche Musik 'im Blut liegt'. So ein positiver Rassismus beschränkt aber auch meine Freiheit. Ich als Sinto kann dann nur diese Musik machen, das wird mir auferlegt. Sobald ich etwas Anderes mache, bringe ich die Landkarte meines Gegenübers völlig durcheinander."

Weitere Artikel: Auch nach Lockdown und Pandemiebestimmungen greift die Klassikszene noch nicht so richtig beherzt ins Digitale, meint Holger Noltze, Professor für Musik und Medien in Dortmund, im VAN-Gespräch, der als Betreiber der Streamingplattform Takt1 aber auch eine gehörige Portion Eigeninteresse im Gepäck hat. Die NZZ hat einen großen Wochenendplausch mit Dieter Meier von Yello geführt. Sehr unterhaltsam ist auch die neue Ausgabe von Jan Müllers Reflektor-Podcast, in dem Yello zu Gast sind. Arno Lücker spricht im VAN-Magazin mit Thomas Posth, Leiter und Gründer des Orchesters im Treppenhaus. Außerdem hat Merle Krafeld für das VAN-Magazin mit der Sängerin Golnar Shahyar gesprochen. Joachim Hentschel wirft für die SZ einen Blick auf die neuesten Veröffentlichungen zu John Lennons 80. Geburtstag.

Besprochen werden die auf Arte gezeigte Musikerdoku "Laurel Canyon" (FAZ) und neue Alben von Nils Wogram (FR) und den Idles (Jungle World), sowie das angeblich in den 70ern aufgenommene, von der DDR-Führung unter Verschluss gehaltene Album "Ich, Sigmund Jähn" der Sängerin Charlie Keller - was natürlich alles nur ein netter Retro-Gag ist (taz). Wir hören rein:

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Literatur

Die SZ tut sich auch weiterhin schwer mit dem Literaturnobelpreis für Louise Glück (unser Resümee). Heute wirft Marie Schmidt einen Blick auf Glücks Naturgedichte, denen "man mit dem nimmermüden deutschen Willen zur Ideologiekritik" zwar vielleicht zu sehr auf die Pelle rückt. Freude am Pastoralen will sich dennoch nicht einstellen: "Die Auflösung der Dichterin im dichterischen Akt, 'calm meeting calm, detachment meeting detachment': das ist die poetische Haltung, die im Epidemie- und Trump-Wahljahr, dem Jahr der Ungewissheit und maximalen Aufgeregtheit, den berühmtesten Literaturpreis der Welt bekommen hat. Ist das noch Eskapismus oder schon ein suizidaler Zug der Institution, die ihn vergibt?"

Im Standard tadelt Ronald Pohl die SZ für ihre gestern auch auf Social Media mit einiger Irritation zur Kenntnis genommenen Texte über Louise Glück: "Eine Frau, die sich mit introvertierter Dichtung obendrein den Verwertungsgesetzen des Marktes entzieht, erntet Spott: Wiederum wird die Auszehrung des Literaturbetriebes deutlich - auch im internationalen Maßstab. Poesie soll nur dann vor den Vorhang gebeten werden, wenn sie sich voller Diensteifer der Politik zur Verfügung hält. Spurlos vergessen scheint, dass Poeten und Lyrikerinnen wie Wisława Szymborska und Tomas Tranströmer zu den wichtigsten Nobelpreisträgern der vergangenen 20, 30 Jahre zählten. ... Man darf die Nachfahrin von Sylvia Plath und Anne Sexton gedankenlos schmähen. Der Clou dabei: Ihrem Werk wird die Ignoranz, die ihm die Kommentatoren ungeniert entgegenbringen, noch selbst zur Last gelegt." In der Literarischen Welt sieht Michael Krüger Glücks Auszeichnung auch als "Ehrung für die lange Reihe von Dichterinnen, die die reiche amerikanische Poesie von Beginn an bis heute geprägt haben."

Weitere Artikel: Dorothea Westphal hat für Dlf Kultur ein großes Gespräch mit Thomas Hettche über dessen buchpreisnominierten, heute in der taz besprochenen Roman "Herzfaden" geführt. In der FAZ porträtiert Gerhard Gnauck den ukrainischen Autor Artem Tschech, der in seinem Buch "Nullpunkt" seine Kriegserfahrungen im Osten des Landes verarbeitet. Susanne Lenz spricht in der Berliner Zeitung mit dem Schriftsteller Dmitrij Kapitelman, der im Alter von acht Jahren nach Deutschland kam, über seine Diskriminierungserfahrungen. Mara Delius hat für die Literarische Welt die Buchwerkstatt von Gerhard Steidl besucht. Die Literarische Welt hat Schriftstellerinnen und Schriftsteller gefragt, wie sie die Rolle des Schreibens in einer Zeit der Pandemie und im Angesichts der Zuspitzungen des US-Wahlkampfs sehen. Außerdem hat die Literarische Welt Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach ihren skurrilsten Erlebnissen auf der Frankfurter Buchmesse gefragt. Der Buchhändler und Buchblogger Florian Valerius schwärmt in der Literarischen Welt von der Lesecommunity auf Instagram. Jan Süselbeck schreibt in der taz einen Nachruf auf Ruth Klüger (weitere Nachrufe hier). Lutz Herden trauert im Freitag um den Schriftsteller Günter de Bruyn (weitere Nachrufe bereits hier).

Besprochen werden unter anderem Christine Wunnickes "Die Dame mit der bemalten Hand" (FR), Helena Janeczeks "Das Mädchen mit der Leica" (online nachgereicht von der FAZ), Ralf Rothmanns Erzählungsband "Hotel der Schlaflosen" (FR), Ilja Leonard Pfeijffers "Grand Hotel Europa" (SZ) und Szczepan Twardochs "Das schwarze Königreich" (FAZ).
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Bühne

Szene aus den "Gespenstern". Foto: Matthias Horn


Bigotterie und Lebenslügen kennzeichnen Henriks Ibsens "Gespenster", die Mateja Koležnik am Berliner Ensemble inszeniert hat. Ihre Bühne bleibt dunkel, aber das passt, meint Rüdiger Schaper im Tagesspiegel. "Im Haus der Witwe Alving wirken Lampen wie Fremdkörper. Das Bühnenbild von Raimund Orfeo Voigt und Leonie Wolf führt ein Eigenleben. Von meist unsichtbaren Arbeitern bewegt, entstehen immer neue Innenräume eines labyrinthischen Gefängnisses. Seine Insassen stehen auf einsamen Inseln, wie Möbel - kaum Berührung, geredet wird in Monologen, jeder leidet für sich allein. Ob das Koležniks Interpretation der 'Gespenster' geschuldet ist oder der Corona-Kontaktsperre auf der Bühne, lässt sich kaum entscheiden. Auch das Virus ist ein Gespenst, ein Wiedergänger. So oder so, dieser Ibsen trifft einen Nerv."

Auch taz-Kritikerin Simone Kaempf zerrt der Abend mit seiner "monotonen Vergeblichkeitsstimmung" an den Nerven. "Die Vergangenheit ist den Figuren ein Gefängnis und die Enge ist ihnen anzusehen. Ihr inneres Volumen an Hoffnung, Erfahrung oder Schmerz packt der Abend als reine Last statt als Chance. Dabei fing es so spielerisch an mit sich bewegenden Räumen, Wänden, Türen. Noch die allerhellsten Sätze streicht die Regisseurin. Osvalds Ausruf, 'Mutter, gib mir Sonne' ist als großer Verzweiflungsruf in die InszenierungsGeschichte eingegangen. Aber hier bleibt er katzbuckelig stumm, im morphium-angeturnten Delirium erliegt er in letzten Zuckungen vor der Tür. Sonnenlicht dringt auch jetzt nicht ein."

Kein Licht am Ende des Tunnels sieht auch Simon Strauß (FAZ). Immerhin: Corinna Kirchhoff als Witwe Alving, das lohnt den Gang ins Theater, findet er. Nachtkritiker Christian Rakow meint: "Neunzig Minuten lang kann man dieser statischen Etüde gut folgen. Der Abend scheint wie gemacht für ein Publikum, das unter Vorgängerintendant Claus Peymann das Berliner Ensemble als Ort klarer Stückumsetzungen ohne regietheatrale Mätzchen lieben gelernt hat." Und in der Berliner Zeitung lobt Doris Meierhenrich die Inszenierung als "nüchternes, scharfes, zugiges Schwellentheater".

Szene aus Touch". Foto: Sigrid Reichnichs


Falk Richter eröffnet die Intendanz von Barbara Mundel an den Münchner Kammerspielen mit "Touch", einem Textbrocken aus Beobachtungen zum Corona-Lockdown, zu Rassismus, Kolonialismus und Raubbau an der Natur, den er zusammen mit der Choreografin Anouk van Dijk inszenierut hat: "In 'Touch' erfahren die Richter-Themen Einzelkämpfertum und Disconnected-Sein eine Renaissance und neue Brisanz. Der Text entwirft einen Blick aus der Zukunft zurück auf unsere jüngste Vergangenheit und lässt sozial Deprivierte, Hypersensitive und Shutdown-Hysteriker einzeln an die Rampe treten", resümiert eine erschöpfte nachtkritikerin Sabine Leucht diesen "manchmal wild assoziierenden Text, der auch deshalb ermüdet, weil man ja gerade noch mitten drinsteckt in dem ganzen Corona-Wahnsinn und noch gut in Erinnerung hat, was einem hier wieder und wieder um die Ohren gehauen wird."

"Das kann man am Ende abnicken", seufzt auch Egbert Tholl in der SZ, "schließlich sind alle Aspekte scheußlicher Realität berührt worden, aber dieses Nicken ist dasselbe wie das eines sozialdemokratischen Publikums nach dem Besuch einer Kabarett-Veranstaltung wie etwa hier in München in der Lach- und Schießgesellschaft."

Weiteres: Die nachtkritik streamt live am Sonntag ab 19 Uhr Christopher Rüpings "Früchte des Zorns" vom Schauspielhaus Zürich in Kooperation mit dem Baltic House Festival St. Petersburg. Weitere Streamingtipps bietet die neue musikzeitung.

Besprochen werden außerdem Tschaikowskys "Eugen Onegin" am Münchner Gärtnerplatztheater (nmz), Nikolaus Habjans Inszenierung von "Der Leichenverbrenner" nach einem von Franzobl bearbeiteten Roman von Ladislav Fuks am Wiener Burgtheater (nachtkritik), Sebastian Baumgartens Inszenierung der "Mutter Courage" am Düsseldorfer Schauspielhaus (nachtkritik) und Jeremy Nedds "Star Magnolia" nach den Werken der Sci-Fi-Autorin Octavia E. Butler am Zürcher Theater Neumarkt (NZZ).
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Film

Für die NZZ ist Marc Vorsatz zur schwedischen Insel Fårö gereist, die Ingmar Bergman für einige Filme als Kulisse diente. Im Filmdienst-Essay staunt Till Kadritzke über das emotionslose Affektkino, das sich ihm in den verqueren Bildern von Christopher Nolans "Tenet" (unsere Kritik) darbietet. In der FAZ gratuliert Maria Wiesner Amos Gitai zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Todd Haynes' "Vergiftete Wahrheit" (Freitag), Tate Taylors Thriller "Code Ava" mit Jessica Chastain (Berliner Zeitung), David Attenboroughs auf Netflix gezeigte Naturdoku "A Life on Our Planet" (NZZ), die dritte Staffel von "Berlin Babylon" (FR) und die Netflix-Serie "Emily in Paris", nach der gerade ganz Paris verrückt ist (SZ).
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Kunst

Der Filmregisseur Philip Gröning hat ein paar tausend Bilder vom Münchner Oktoberfest aus dem Netz eingesammelt und sie einer Künstlichen Intelligenz übergeben, die daraus ihr eigenes Oktoberfest und Bierzeltinneres geschaffen hat. Das Ergebnis zeigt FAZ-Kritiker Claudius Seidl, dass die KI möglicherweise der bessere Künstler ist, weil sie ohne Erinnerung arbeitet und daher auch nicht kopiert. Spielen Menschen mit den digitalen Möglichkeiten, fehlt ihren Bildern oft "das Unberechenbare, das Unbeherrschte und Unverstandene", so Seidl. "In den Räumen, welche Grönings Künstliche Intelligenz geschaffen hat, gibt es überhaupt nur Vorgefundenes, nur sperriges Material - Inszenierungskunst und Gestaltungswille werden im Grunde nur gebraucht in dem Moment, da sich entscheidet, welche Bilder eingespeist werden."

Elke Buhr unterhält sich für monopol mit der italienischen Fotografin Letizia Battaglia, die lange den Kampf gegen die Mafia fotografisch dokumentierte. Wichtige Arbeit gewiss, "aber letztlich liebe ich mehr meine Fotos von Kindern. In den Aufnahmen dieser Mädchen mit dem ernsten, tiefen Blick finde ich mich am meisten wieder. Ich liebe auch mein Porträt von Pasolini, das ich noch in Mailand gemacht habe, ich habe ihn immer verehrt. Die 19 Jahre, die ich versucht habe, gegen die Mafia zu kämpfen, haben mich nicht bereichert. Sie haben mir nur Schmerz bereitet. Ich glaube, ich bin noch nicht mal daran gewachsen."

Weitere Artikel: Am 23. Januar 2020 soll es so weit sein, Corona hin oder her: Dann soll das neue Kunstmuseum Francois Pinaults in Paris eröffnet werden. Pinault konnte sich für seine Sammlung die Bourse de Commerce sichern, die von Tadeo Ando denkmalgerecht saniert und umgebaut wird, berichtet Marcus Woeller in der Welt. In der taz-Serie "Alte Meister" betrachtet Tal Sterngast heute die Ikone "Das Heilige Antlitz Christi" in der Berliner Gemäldegalerie.

Besprochen werden Lukas Becks Fotoband "Wien pur" (Standard), die Ausstellung "Beton" des Malers Ralf Kerbach in der Berliner Galerie Poll (Berliner Zeitung) und die Isa-Genzken-Schau im Kunstmuseum Basel (FAZ).
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