Efeu - Die Kulturrundschau

Spaltprodukt des Lebens

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06.11.2020. Die taz würdigt die militante Pop- und Punkästhetik, die Heide Stolz schon Mitte der sechziger Jahre vorweg nahm. In der nachtkritik wirft Sarah Waterfeld vom Künstler*innen-Kollektiv Staub zu Glitzer der Kulturszene Systemrelevanz vor. Vielleicht sollten die Theater jetzt mal zurücktreten und ihren elitären Status reflektieren, meint Kampnagel-Leiterin Amelie Deuflhard in Dlf Kultur. Und auch das Van Magazin fürchtet einen Rückzug der Kultur ins elitistische Wolkenkuckucksheim. Zeit online trauert um goldene Kinowochen, die der Pandemie zum Opfer fallen. In der taz erklärt Krimiautor Tom Callaghan, warum die Kirgisen gerade auf die Straße gehen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.11.2020 finden Sie hier

Kunst

Heide Stolz, ohne Titel/untitled, 1967, © und Foto: Nachlass Heide Stolz/Estate of Heide Stolz, DASMAXIMUM Traunreut


In der taz freut sich Katharina J. Cichosch, dass mit der Retrospektive "Heide Stolz. Affären" in der Kunsthalle Darmstadt die 1985 verstorbene Künstlerin und Fotografin endlich wiederentdeckt wird. "Schon visionär, wie sie Mitte der 1960er von Westdeutschland aus eine militante Pop- und Punkästhetik vorwegnimmt, die so erst viele, viele Jahre später im größeren Stile einschlagen wird. Oder die Motive, auf denen [Stolz' Lebensgefährte] Uwe Lausen mit der Flinte auf die gemeinsamen Töchter zielt, die das potenziell tödliche Geschoss interessiert bis belustigt begutachten. Kann mehr Ambivalenz in einem Moment stecken? Wie viel künstlerische Härte muss man gegen sich und andere aufbringen, um eben so ein Foto von den eigenen Kindern zu, nun, schießen?" Beeindruckt hat Cichosch auch ein Interview mit Stolz, die darin ihr Verhältnis von Kunst und Leben auf den Punkt bringt: "'Kunst als Leben' ist eine Lebenslüge: Wer nach dieser Maxime lebt, ist krank. Das Leben ist der Rohstoff, Kunst dessen Durchformung. Isolierte künstlerische Tätigkeit ist Spaltprodukt des Lebens, Kompensation des Mangels an Leben. Eine Art Kaffeeersatz für Leute mit abgestorbenen Geschmacksnerven."

Weiteres: Willkür nennt in der Welt Stephan Berg, Direktor des Bonner Kunstmuseums, die Schließung der Museen im Lockdown. Besprochen werden die Ausstellung "Kontinent - Auf der Suche nach Europa" mit 22 Fotoessays der Fotoagentur Ostkreuz in der Berliner Akademie der Künste (taz), ein Band über die Häuser und Studios von Cy Twombly (FR), die Skulpturen-Schau in Berlins Friedrichswerderscher Kirche (SZ) und eine Ausstellung der geretteten Fresken aus dem Makari-Kloster in der Wolgastadt Kaljasin, das in den dreißiger Jahren zerstört worden war, im Moskauer Architekturmuseum (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Barbara Oertel unterhält sich für die taz mit dem Krimiautor Tom Callaghan, der in Kirgisien lebt, über die großen, teilweise gewalttätigen Demonstrationen dort, die der Regierung Machtmissbrauch, Korruption und Wahlfälschung vorwerfen: "Kirgistan ist ein demokratisches Land, das versucht, jene, die ihre Macht missbrauchen, zur Rechenschaft zu ziehen. Im Gegensatz zu anderen Ländern mit Diktatoren an der Spitze, die hart gegen jeden Widerstand vorgehen, glaubt das kirgisische Volk, dass es das Recht hat zu protestieren. Vergessen wir nicht, dass sowohl der erste als auch letzte Präsident (Sooronbai Dscheenbekow, Anm. d. Red.) ihren Rücktritt damit begründet haben, sie seien nicht dazu bereit, das Blut ihrer Mitbürger zu vergießen. Das Ausmaß an Gewalt hat übrigens auch nichts mit den Ereignissen von 2010 (gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und der usbekischen Minderheit, Anm. d. Red.) gemein. Eine Besonderheit der jüngsten Konfrontation war auch die Art und Weise, wie sich ganz normale Bürger zu sogenannten Volkspatrouillen zusammen getan haben, um Unruhen und Plünderungen zu unterbinden."

Gerrit Bartels berichtet im Tagesspiegel vom Instagram-Bohei, das Christian Krachts Meldung, er habe mit "Eurotrash" eine Fortsetzung zu "Faserland" fertiggestellt, ausgelöst hat. Harald Wieser schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf den Verleger Helmut Lotz.

Besprochen werden Esther Safran Foers "Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind" (Berliner Zeitung), Don DeLillos "Die Stille" (Standard), der von Michael Büsselberg herausgegebene Band "Sie wollen uns erzählen" mit Comic-Adaptionen von Tocotronic-Songs (taz), Serhij Zhadans Gedichtband "Antenne" (SZ), Robert Harris' "Vergeltung" (Welt), Helen Weinzweigs "Von Hand zu Hand" (Dlf Kultur), Cornelia Funkes neuer "Reckless"-Band (FAZ) und Ursula Poznanskis Fantasythriller "Cryptos" (Tagesspiegel).
Archiv: Literatur

Bühne

"Die arrivierte Kulturszene ist so was von krank und kaputt", empört sich in der nachtkritik Sarah Waterfeld, Mitglied des Künstler*innen-Kollektiv Staub zu Glitzer, das 2017 die Volksbühne besetzte. Kritische Theater wie das BE, die Volksbühne oder das Maxim Gorki, die derzeit gerne ihre Systemrelevanz betonen, funktionieren sehr gut in ausbeuterischen Zusammenhängen und lassen sich dabei sogar gern von kapitalistischen Institutionen wie der Deutsche Bank Stiftung, der Allianz Kulturstiftung oder der Aventis Foundation finanziell unterstützen, schreibt sie. Ein Beispiel: "Das 'Brechttheater' Berliner Ensemble lässt sich eine 'Exzellenz-Reihe' von der Deutschen Bank finanzieren. Brecht dürfte im Grab rotieren. Karen Breeces Stück 'Auf der Straße', das im Rahmen dieser Reihe herauskam, handelte von Wohnungslosigkeit. 'Echte Wohnungslose' wurden aufgefahren, ihre individuellen Lebenswege nachgezeichnet, während unerwähnt blieb, dass die Deutsche Bank heute etwa in Los Angeles aufgrund ihrer brutalsten Entmietungsstrategien als 'Slumlord' gilt. ... Indem Theater solche Gelder nehmen und somit zwangsläufig bestimmte Zusammenhänge unerwähnt lassen, sind sie unbedingt als 'systemrelevant' zu betrachten. Das ist jedoch anders zu verstehen, als sich so manche Theaterschaffenden vermutlich zugestehen möchten."

Im Interview mit der FR fordert Rainer Pudenz, Chef der Frankfurter Kammeroper, mehr Geld vom Staat für die freien Künstler und empört sich, dass die Oper als von der Politik als Unterhaltung eingestuft wird: "Es ist respektlos und obszön." Weniger Klagen der Kulturszene wünscht sich im Interview mit Dlf Kultur dagegen Amelie Deuflhard, Künstlerische Leiterin von "Kampnagel" in Hamburg: "'Ich finde natürlich auch, dass Theater superwichtige Orte sind, aber vielleicht sollten wir mal ein bisschen zurücktreten und uns nicht so hyperüberschätzen.' Die Pause sollten die Theater nicht 'zum Jammern' nutzen. Die Theater gehörten zu einer 'sehr privilegierten Seite. Wenn ich mir anschaue, wie es Solokünstlern geht. Da gibt es ganz viele, die keine Einkünfte haben und immer wieder mit kurzfristigen Hilfen leben müssen. Wenn ich mir anschaue, wie es den Menschen geht, die in Restaurants arbeiten, die alle auf Kurzarbeit sind ... Die Theater sollten die Zeit nutzen, um ihren 'elitären Status' zu reflektieren und sich die Fragen stellen, wie man sie demokratisieren, ein diverseres Publikum aufbauen und sie weiter für die Gesellschaft öffnen könnte."

Weitere Artikel: Der Vertrag von BE-Leiter Oliver Reese wird bis 2027 verlängert, meldet der Tagesspiegel. Doris Meierhenrich nimmt für die Berliner Zeitung Teil an einer VR-Exkursion im "Unreal Theater" des Theatermachers Arne Vogelsang.

Besprochen werden Frank Castorfs Inszenierung von Walter Braunfels' Oper "Die Vögel" an der Bayerischen Staatsoper in München, noch einen Monat im Stream zu sehen (Standard), und der dreiteilige Bühnenkrimi "Tödliche Entscheidung" am Theater Osnabrück, der hier gestreamt wird (taz).
Archiv: Bühne

Musik

Der zweite Kultur-Lockdown hat im Betrieb, anders als im März, zu erheblicher verbaler Aufrüstung geführt, beobachten Hartmut Welscher und Christian Koch vom VAN-Magazin. Die einstige Ambiguitätstoleranz habe man "geopfert, offenbar in der Annahme, nur so dringe man mit den eigenen Anliegen durch. ...  Die Idee, nur über die Abwertung des Anderen den Wert des Eigenen behaupten zu können, gewinnt an Raum. Dies führt in der Kulturszene bisweilen zu nebulösen Sinnsprüchen der Selbstüberhöhung, wie der von der 'Kultur als Säule der Demokratie'. In medialen Betrachtungen erlebte dabei ein antiquiertes Kulturverständnis Renaissance: Hier die disziplinierte E-Kultur, die sich an Regeln hält, dort die Pop- und Clubkultur, oder 'die Jugend', die es nicht tut. Unter der Oberfläche breitet sich so das Bild von der elitären Hochkultur weiter aus. ... Der größte pandemische Schaden für die Kultur wäre ihr Rückzug ins elitistische Wolkenkuckucksheim." Das VAN-Magazin hat außerdem Stimmen aus dem deutschen Klassikbetrieb zum zweiten Shutdown ihres Betriebs eingeholt.

Weitere Artikel: In der SZ verneigt sich Helmut Mauró tief vor dem Pianisten Daniil Trifonov, der mit "Silver Age" gerade ein neues Album veröffentlicht hat: "Der Begriff des Genies scheint angebracht." Justin Kelly unterhält sich in VAN mit dem Solo-Oboisten Titus Underwood von der Nashville Symphony in Tennessee. Im ZeitMagazin plaudert Ulf Lippitz mit der Kuratorin Margot Anderson, die im Arts Centre in Melbourne über Kylie Minogues gesammelte Bühnenoutfits wacht. Der Elektro-Musiker Stefan Betke alias Pole hat die Zeit im Lockdown produktiv genutzt, sagt er im NZZ-Gespräch. Samir H. Köck spricht für die Presse mit Elvis Costello. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker über Anna Amalia von Braunschweig-Wolfenbüttel. Christian Schröder schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf den Uriah-Heep-Musiker Ken Hensley. Jan Brachmann ruft in der FAZ dem Komponisten Faustas Latėnas nach.

Besprochen werden das neue Album von Kylie Minogue (Standard, mehr dazu bereits hier), Tomoko Sauvages Album "Fischgeist" (taz) und Oneohtrix Point Nevers neues Album "Magic", das eine Art Radiosender-Durchlauf simulieren soll, was Daniel Gerhardt (ZeitOnline) im Werkkontext "sinnfällig" findet und bei taz-Kritiker Lars Fleischmann den Befund "fast schon anbiedernde Durchhörbarkeit" zeitigt, der sich beim ersten Reinhören zumindest auf Anhieb nicht gleich bestätigen will:

Archiv: Musik

Film

Vom ursprünglich anvisierten Programm her hätten wir gerade goldene Kinowochen erlebt, seufzt Anke Sterneborg auf ZeitOnline: "Allein die Vielfalt relevanter Themen, die in dieser Auswahl der Filme, die heute nicht starten können, verhandelt werden, erzählt vom ungeheuren Verlust für den öffentlichen Diskurs, der derzeit von der Pandemie vereinnahmt wird." Aber auch ganz konkret droht Kahlschlag: "Für die angekündigten neuen Unterstützungsgelder, die bei Betrieben mit weniger als 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern 75 Prozent des Umsatzes des Vorjahres ersetzen sollen, gibt es derzeit noch nicht mal Antragsformulare. Erschwerend kommt hinzu, dass überhaupt noch geklärt werden muss, wie sich dieser Subventionssonderfall im Ausnahmezustand mit geltendem EU-Recht verträgt. ... Einzelkinos wie das Potsdamer Thalia oder das Berliner Filmkunst 66 brauchen schnelle, unbürokratische Hilfen genauso wie die mittelgroßen Unternehmen."

Weitere Artikel: Urs Bühler porträtiert in der NZZ den italienischen Filmpublizisten Giona A. Nazzaro, der künftig das Filmfestival von Locarno künstlerisch leiten wird. In der NZZ erinnert Marion Löhndorf an Steve McQueen, der vor 40 Jahren gestorben ist. Für die SZ spricht Rainer Gansera mit dem Schauspieler und Regisseur Louis Garrel über dessen bei uns auf DVD veröffentlichten Film "Ein treuer Mann".

Besprochen werden die von Arte online gestellte Serie "The Pleasure Principle" (Presse) und Ciro Guerras auf DVD erschienene Verfilmung von J. M. Coetzees "Waiting for the Barbarians" (Tagesspiegel).
Archiv: Film