Efeu - Die Kulturrundschau

Stark in der Einsamkeit der Position

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09.11.2020. Der Standard ruft die dämonische Heiterkeit der Lyrikerin Tamar Radzyner in Erinnerung. Die Welt lernt die Sinnstiftung von Pierre Soulages zu schätzen. In der taz spricht Regisseur Leo Khasin über antisemitische Mobber in der Schule und seinen Film "Das Unwort". Die SZ verkraftet mit der FC Bayern World auch die Rückkehr des Ornaments in die moderne Stadt. Die FAZ verabschiedet den Filmemacher Fernando Solanas, der das Kino zur revolutionären Praxis machte und nun dem Coronavirus erlag. Der Freitag tröstet sich mit Lilith Stangenbergs Album "Orphea".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.11.2020 finden Sie hier

Kunst

Pierre Soulages: Peinture 293 × 324 cm, 1994. Bild: Frieder Burda Museum / Albertina Wien

Wenn es eine Ausstellung gäbe, die man sich gerade jetzt ansehen müsste, dann wohl die große Schau, die das Frieder Burda Museum dem französischen Maler Pierre Soulages widmet. Welt-Kritiker Hans-Joachim Müller zumindest erkennt in den Bildern des Hundertjährigen eine Malerei, die vom Zwang zur Erklärung oder Weltauslegung befreie: "Das ist stark. Stark im Gestus unbeirrbarer Verweigerung. Stark in der Einsamkeit der Position. Zumal in Wochen und Monaten, in denen der Bedarf an Verstehen und die Proliferation an Verstehens-Offerten ja immens ist. Was soll man tun? Wem folgen? Wie leben? Wie soll man sich schützen? Wem soll man glauben? Ausgerechnet einem Schwarzmaler, wo man von den Schwarzsehern doch wirklich genug hat?"

Weiteres: Axel Christoph Gampp blickt in der NZZ mit Rembrandt auf den Orient. Besprochen wird eine Ausstellung der Künstlerin Natascha Ungeheuer in der Berliner Galerie Brockstedt (Tsp).
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Literatur

Die 1991 gestorbene Lyrikerin Tamar Radzyner sollte unbedingt wiederentdeckt werden, schreibt Richard Schuberth im Standard. Lediglich ein vor ein paar Jahren erschienener, schmaler Band belegt die Arbeit der polnischen Dichterin, die im Ghetto von Lodz Widerstand leistete, drei KZs überlebte, sich später am polnischen Staat stieß und nach Wien emigrierte, wo sie unter anderem für Georg Kreisler schrieb. "Mit ironischer Selbstdistanz beschreibt sie sich als schwärende gesellschaftliche Wunde und erlangt fragile Souveränität in der Verweigerung jeglicher Affirmation. Die dämonische Heiterkeit ihres Pessimismus mochte Rationalisierung ihrer Ohnmacht sein, doch allemal besser als die leichter vermarktbaren Poseure der Entfremdung, die selbst Negativität noch in Kunsthandwerk verwandeln. Ohne Ruhm und ohne Dank hat Tamar Radzyner Dichtung von überzeitlicher Größe verfasst."

Weitere Artikel: Jørgen Sneis und Carlos Spoerhase erinnern in der FAZ an den Nobelpreis für Knut Hamsun vor hundert Jahren. Der Schriftsteller Peter Wawerzinek schickt der Berliner Zeitung Notizen aus Rom. Einigen deutschen Comics gelingt es tatsächlich, auch in den USA ein Publikum zu finden, berichtet Lars von Törne im Tagesspiegel.

Besprochen werden unter anderem Olga Grjasnowas "Der verlorene Sohn" (NZZ), Elena Ferrantes "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" (Standard), Helmut Lethens Autobiografie "Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug" (Zeit), Volker Kutschers Krimi "Olympia" (Berliner Zeitung), der von Rita Mielke herausgegebene, von Hanne Zeckau illustrierte "Atlas der verlorenen Sprachen" (Freitag), Elif Shafaks "Schau mich an" (FR), der vom VLab Berlin herausgegebene Textband "Ist Zuhause da, wo die Sternfrüchte süß sind" über viet-deutsche Lebensrealitäten (Berliner Zeitung) und Maggie O'Farrells "Judith und Hamnet" (Berliner Zeitung, SZ)

In der online nachgereichten "Frankfurter Anthologie" schreibt Oliver Vogel über Elke Erbs "Schone den Wicht":

"Mein Lieber,
Du bist kein reißender Wolf.
..."
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Bühne

Florale Muster für die Dame, Tigerprint für den Herren: Heike M. Goetzes Inszenierung der "Geschichten aus dem Wiener Wald" am Hamburger Schauspielhaus. Foto: Arno Declair

Beeindruckend gespenstisch fand Nachtkritikerin Katrin Ullmann Heike Goetzes live gestreamte Inszenierung von Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" im Hamburger Schauspielhaus. Die Austauschbarkeit der Figuren ließ Ullmann schaudern: "Zunächst wortlos gehen und stehen sie, wiegen sich in den Hüften, setzen sich auf die Bänke, waschen sich ruhig, ziehen Schweinehälften zur Seite, verhaken sich im Geäst der herabhängenden Bäume, stellen sich kurz zueinander, bevor sie sich wegdrehen und auf die Bänke sinken lassen. Nicht nur ihre Körper und - mit brav geknoteten Tüchern - ihre Köpfe sind verhüllt, sondern - und, das macht das Alptraumhafte aus - mit dünnen, gemusterten Tüchern auch ihre Gesichter. Ihrer Mimik, ihres Ausdrucks beraubt, scheint es, als wären diese Figuren allesamt Schaufensterpuppen, die sich selbstständig gemacht haben."

Besprochen werden Anna-Sophie Mahlers dokumentarischer Theaterabend "whistleblowerin/elektra" am Neumarkt Theater Zürich, wo noch gespielt werden darf (Nachtkritik) und und Sascha Meys Inszenierung von Robert Seethalers Erfolgsstoff "Der Trafikant" vor fünf KritikerInnen am Theater Pforzheim (Nachtkritik).
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Architektur

"Häuser sollen wieder schön sein" erkennt SZ-Kritiker Gerhard Matzig beim Blick auf die neoreaktionäre Protzfassade der neuen "FC Bayern Welt", für die der Architekt Andreas Hild das Ornament ins heutige Bauen zurückkehren lässt: "Das jetzt interpretativ reanimierte Sgraffito, das man sowohl als computergestütztes Hightech-Produkt, aber auch als Handwerk begreifen kann, ahmt die Plastizität des Vorgängerbaus geschickt nach, ohne kopistisch zu wirken. Das Sgraffito lässt dabei seine Dreidimensionalität, die es unterscheidet von reiner Fassadenmalerei, nur ahnen. Explizitheit meidet es. Im Ergebnis schmückt das Haus die Straße, erinnert an den Reichtum früherer Fassadenkunst - und ist doch vergegenwärtigend. Es ist ein souveränes Haus, das sich vor der Baugeschichte verbeugt und dennoch sein eigenes Baujahr aufruft. '2020' ist auf der Fassade zu lesen."
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Stichwörter: Hild, Andreas, FC Bayern, Schmuck

Film

ZDF-Film "Das Unwort"

Ein jüdischer Schüler beißt einem muslimischen Schüler ins Ohr. Vorausgegangen waren dem antisemitische Tiraden, das sich anschließende Treffen zwischen Eltern und Pädagogen eskaliert. Lose basierend auf Roman Polanskis "Gott des Gemetzels" ist dies die Prämisse des prominent besetzten ZDF-Fernsehfilms "Das Unwort". Anders als es die Werbetexte zum Film stolz verkünden, ist dieser jedoch alles andere als "präzis und pointiert", schimpft Alan Posener in der Welt: Vielmehr lenke der Film "immer wieder von der Hauptsache ab: dass Juden, eine winzige Minderheit, in Deutschland wieder diskriminiert werden. Hauptsächlich von Muslimen." Und die Hoffnung, die in diesem Film liege, wie der Werbetext verspricht? "Hoffnung worauf? Dass Juden und Muslime ihre dummen Streitigkeiten beenden und uns Biodeutsche - uns Eichmänner mit dem gesunden Menschenverstand und dem Feueralarm - damit in Ruhe lassen? ... Dass ausgerechnet dieser Film am 9. November ausgestrahlt wird, ist ein trauriges Zeugnis öffentlich-rechtlicher Realitätsverniedlichung."

Erica Zingher hat für die taz mit Regisseur und Drehbuchautor Leo Khasin gesprochen, der mit diesem Film eigene Ängste aus Schulzeiten verarbeitet hat. Ihn ärgerte vor allem auch das Verhalten einer Berliner Schulleitung, die antisemitische Mobber eher in Schutz nahm als die jüdischen Kinder. "Die Argumentation von diesem Direktor ist immer so eine leichte Ausrede: Ich kann nichts für die Probleme auf der Welt. Ich versuche sie zwar zu lösen, aber irgendwo gibt es Grenzen. Mich hat das geärgert. Hinter so einer Haltung steckt oft, so scheint mir, dass jüdische Schüler einem Schulleiter eher egal sind. Das klingt jetzt vielleicht perfide: Aber es gibt an einer Schule vielleicht drei jüdische Schüler und im Gegensatz dazu 200 muslimische Schüler. So ein Schulleiter muss natürlich zusehen, wie er mit der größeren Gruppe klarkommt. Da wird dann vielleicht leichter gesagt: Na gut, die drei jüdischen Schüler, besser, wenn sie weg sind. Problem gelöst."

Fernando Solanas ist dem Coronavirus erlegen. Der argentinische Filmemacher nutzte in den Sechzigern das Kino als unmittelbaren Ausdruck revolutionärer Praxis, würdigt Bert Rebhandl in der FAZ den Verstorbenen. Sein viereinhalbstündiger Agitprop-Dokumentarfilm "Die Stunde der Hochöfen" von 1968 "suchte nach Möglichkeiten, wie ein Land der Dritten Welt sich aus der Schuldknechtschaft befreien konnte, die an die Stelle direkter kolonialer Ausbeutung getreten war." Mit der Grupo Cine Liberación begab er sich auf die Suche nach einem "Dritten Kino", "eine Analogiebildung zu der Dritten Welt, die sich damals dem amerikanisch dominierten Westen und dem 'kommunistischen Lager' gegenübersah. Das Dritte Kino wollte die Beschränkungen des Zweiten überwinden, für das vor allem Jean-Luc Godard als Beispiel diente: das tief in das hegemoniale System verstrickte Autorenkino in Europa."

Außerdem: Bei der Viennale wurde Jasmila Žbanićs Film "Quo Vadis, Aida?" über das Massaker von Srebrencia aufgeführt, berichtet Michael Martens in der FAZ, der sich schwer vorstellen kann, dass dieser "bis an die Grenze des Erträglichen" gehende Filme in Serbien je gezeigt werden wird. Für die SZ wirft Fritz Göttler einen Blick auf Horrorfilme von Frauen, darunter Natalie Erika James' "Relic" und Romola Garais "Amulet". Bert Rebhandl schreibt in der FAZ einen Nachruf auf Fernando Solanas.

Besprochen werden Craig Zobels auf DVD erschienener, satirischer Thriller "The Hunt", der selbst Donald Trump auf die Palme brachte (taz), Óskar Thór Axelssons auf DVD erschienene Serie "Himmelstal" (taz), "The Good Lord Bird" mit Ethan Hawke (WamS), die Netflixserie "The Queen's Gambit" (NZZ) und Ron Howards TV-Film "Rebuilding Paradise" über den Brand in Kaliforniem im Jahr 2018 (FAZ).
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Musik

Als Nebenprodukt zu Alexander Kluges und Khavns Film "Orphea" ist auch ein von Lilith Stangenberg eingesungenes Album "Orphea - Lovesongs from Hell" entstanden, das sich Jenni Zylka vom Freitag gerne angehört hat: "Während Khavn die integrierte Rhythmusmaschine wie ein lockeres Gebiss klappern lässt und Tasten so herzlich drückt, dass sie quäken, kreist Stangenbergs Stimme mit Eifer und Aufrichtigkeit um die Liebe, die Einsamkeit und das Drama. ... Die Ernsthaftigkeit, mit der hier Easy Listening verdüstert und die Themen des antiken Stoffes verarbeitet sind, ist charmant: Wer sagt denn (siehe das zweifelhafte Wissen über Orpheus' Talent), dass anrührende Musik durch technische Brillanz bestechen muss?" Wir hören rein:



Weitere Artikel: Auch die große Digitaloffensive des Jazzfests Berlin (mehr dazu hier) kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass so ein Event online einfach mal so gar nicht dasselbe ist wie ein Festival in echt, seufzt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel: "Binge Watching mag seine vergnüglichen Seiten haben - ein Jazzmarathon, bei dem man sich nicht einmal in die Zuschauer im Saal versetzen kann, trägt masochistische Züge." Heinrich Thüer erinnert in der taz an den Auftritt der britischen Band Wire 1978 im Ratinger Hof in Düsseldorf, womit Punk in der Bundesrepublik engültig angekommen war.

Besprochen werden die Wiener Uraufführung von Sofia Gubaidulinas Orchesterwerk "Der Zorn Gottes", bei dem laut FAZ-Kritiker Florian Amort "eine Art Klang-Aureole des thronenden Christus, der am Jüngsten Tag zu Gericht sitzt und über die Menschen richtet" zu erleben war, eine Hommage-Compilation zu Ehren von Marc Bolan und T. Rex (FR), das neue Album von All diese Gewalt (Jungle World), das auf DVD veröffentlichte Kantatenprojekt der Bach-Stiftung Sankt Gallen (FAZ), die "Joni Mitchell Archives Vol. 1" (FAZ), Florian Webers "La traversée" (FAZ) und Michael Rothers "Dreaming" (FAZ). Wir hören rein:

Archiv: Musik