Efeu - Die Kulturrundschau

Mit der Axt zensiert

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11.11.2020. Die NZZ klickt sich berührt durch die Online-Ausstellung "Hold Still" der National Portrait Gallery, die Britannien beim Brotbacken und Haareschneiden zeigt. Die SZ möchte die Kunst trotzdem lieber wieder im Museum sehen. Die taz erkennt beim Berliner Jazzfest, dass die Avantgarde nicht populärer wird, wenn sie in den hippen Wedding zieht. Die FAZ quittiert mit Begeisterung, dass die Hardrock-Fabrik AC/DC weiter auf Hochtouren läuft. Und Hyperallergic fragt: Warum ist Mary Wollstonecraft nackt?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.11.2020 finden Sie hier

Kunst

Hassan Akkad: Gimba. National Portrait Gallery, London

Marion Löhndorf empfiehlt in der NZZ trotzdem die Online-Ausstellung "Hold Still" der National Portrait Gallery, die berührend intime Bilder von Briten im ersten Lockdown zeige: "Ironisch heißt ein Bild 'Home Office Going Great': Zwei Erwachsene versuchen sich am Laptop zu konzentrieren, während ein Kind lachend auf dem Tisch tanzt. Ein anderes schaut seinem Vater beim Brotbacken zu, dem großen britischen Hobby während der Ausgangssperre. Hausgemachte Haarschnitte gehören zum Repertoire."

Lothar Müller erinnert sich dagegen in der SZ seufzend an die Künstler, die die Kunst aus den Museen zerren wollten, an Marcel Duchamp oder Joseph Beuys. Ihm ist die Exodus-Rhetorik mittlerweile flau geworden, mit der Museen ganz wie Tech-Giganten von der Digitalisierung schwärmen: "Was fehlt, ist das Nicht-Exzentrische, der Gang durch die Gemäldegalerie an einem Regennachmittag, die Abonnementvorstellung im Stadttheater, der Abendvortrag in einer Akademie. Es fehlt all das, wovor die Aufbruchsbewegungen der ästhetischen Moderne in der beruhigenden Gewissheit flohen, dass durch ihre Sezessionsbewegungen kein Museum, kein Theater, kein Konzertsaal und keine Akademie verschwand. Eher kamen neue hinzu. Nun, wo sie der Lockdown geschlossen hat, sind diese Räume zum gelobten Land geworden."

Weiteres: Auf wenig Gegenliebe stößt in den Sozialen Medien die Skulptur, mit der die Künstlerin Maggi Hambling an Mary Wollstonecraft erinnert, berichtet Valentina Di Liscia auf Hyperallergic: Ausgerechnet die 'Mutter des Feminismus' wird als winzige nackte Frau dargestellt! "Die Künstlerin verteidigte im Evening Standard ihr Porträt: 'So weit ich weiß, hat sie doch genau die Figur, die wir alle haben wollen." Im Guardian unterhält sich Sean O'Hagan mit dem Kurator Azu Nwagbogu, der in diesem Jahr das Festival LagosPhoto verantwortet.
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Literatur

Der 1980 verstorbene Schriftsteller Maurice Genevoix, dessen Überreste heute in den Pariser Pantheon umgebettet werden, dürfte selbst in Frankreich nur wenigen bekannt sein, schreibt Marc Zitzmann in der FAZ. In Gallimards "Bibliothèque de la Pléiade" findet man ihn nicht. Geschätzt wird Genevoix, der zwischen 1958 und 1974 die Académie française leitete, vor allem für "Die aus 14", eine schonungslose Schilderung seiner Erlebnisse als Soldat im Ersten Weltkrieg. ": So berichtet Genevoix von Besäufnissen und Übergriffen, empört sich über unfähige Offiziere und gesteht, dass er drei Deutschen in den Rücken geschossen habe. Ein amerikanischer Historiker, der 1929 in einem gut recherchierten Essay dreihundert Kriegsberichte unter die Lupe nahm, bescheinigte 'Ceux de 14' die größte Realitätsnähe. Völlig folgerichtig wurde die Erstausgabe mit der Axt zensiert."

Weitere Artikel: Holger Pauler wirft für die Jungle World einen Blick in die "Exil"-Buchreihe des Dresdner Buchhauses Loschwitz, wo neurechter Kulturpessimismus und Verdruss an der Moderne gepflegt wird. In Intellectures blickt Thomas Hummitzsch gemeinsam mit den Verlegern Kristine Listau und Jörg Sundermeier auf 25 Jahre Verbrecher Verlag zurück. Linus Volkmann spricht im Freitag mit den Cartoonisten Elias Hauck und Dominik Bauer. Der Schriftsteller und Übersetzer Hans-Henning Paetzke schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf den ungarischen Dichter und Orban-Berater Géza Szöcs.

Besprochen werden Margaret Atwoods "Die Füchsin" mit gesammelten Gedichten (SZ), Joanne K. Rowlings Märchen "Der Ickabog" (Berliner Zeitung), Michael Jordans Comic "Warum wir müde sind" (Tagesspiegel), Aravind Adigas "Amnestie" (FR), Maria Attanasios "Der kunstfertige Fälscher" (online nachgereicht von der FAZ), Frieda Ellmans Neuübersetzung von Jan Morris' "Rätsel. Betrachtung einer Wandlung" (taz) und Francis Ponges "Le Soleil / Die Sonne" (FAZ).
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Bühne

Die Nachtkritik lädt für heute Abend zu einer Online-Konferenz über das "Postpandemische Theater". In der FAZ annonciert Simon Strauß die zweite Folge der Theaterserie "Spielplanänderung", in der es um Deborah Feldman und den "Dibbuk" geht.
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Film

Ralf Schenk erklärt in der Berliner Zeitung, warum Kurt Maetzigs geplante DEFA-Verfilmung von Eduard Claudius' Roman "No Pasarán" letztendlich doch nicht zustande gekommen ist.

Besprochen werden die schwedische Netflix-Serie "Liebe und Anarchie" (Berliner Zeitung) und der Netflix-Horrorfilm "His House", dessen Genre-Mechanismen Regisseur Remi Weekes laut Standard-Kritiker Jens Balkenborg "kapert und ein Geflüchtetendrama als tiefenpsychologischen Schocker erzählt."
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Stichwörter: Horrorfilm, Netflix, Defa, Schenk, Ralf

Musik

Lars Fleischmann resümiert in der taz das Jazzfest Berlin, das coronabedingt zwar vor Ort stattfand, aber nur von (immerhin in ansehnlicher Menge einschaltendem) Internet-Publikum verfolgt wurde. Ein wenig stört er sich allerdings am Hauptspielort, nachdem das Haus der Kulturen der Welt in diesem Jahr ausfiel: "Hier, in einem ehemaligen Krematorium, das heute 'silent green Kulturquartier' heißt, sollte nun die große Öffnung hin zur angestammten Bevölkerung getätigt werden. Nur entstand dabei lediglich eine Blase innerhalb des Stadtteils - ersichtlich am Line-up, das keinerlei Angebote an (post-)migrantische Kids und Jugendliche bereithielt. Oder soll im Zuge der Quartiersentwicklung Klientelpolitik für zukünftige Gentrifizierer gemacht werden? Avantgarde-Jazz wird ja nicht deswegen ansprechender und populärer, bloß weil er mitten im Wedding stattfindet." Kurz und bündig schreibt auch Jan Wiele zum Festival und empfiehlt Arte, wo sich die Auftritte noch ein Jahr lang abrufen lassen sollen.

Auch Malcom Youngs Tod vor drei Jahren und die Nahezu-Ertaubung des Sängers Brian Johnson bringt eine schon oft in Nachrufen verabschiedete Hardrock-Fabrik wie AC/DC nicht zum Verstummen. Diese Woche erscheint das neue Album "Power Up", das zur allgemeinen Freude schon wieder keine Überraschungen und Experimente bietet. "Es klingt, als wäre nie etwas gewesen. Druckvoll, effizient und kompakt gehen die Musiker nach wie vor zu Werke", begeistert sich Edo Reents in der FAZ und schwärmt weiter: Die Songs "gleichen einander wie ein Ei dem anderen; wir haben es hier mit dem homogensten Album zu tun, das AC/DC je gemacht haben." Tatsächlich lassen sich die hier versammelten Stücke "nur in Spurenelementen von alten Aufnahmen unterscheiden", schreibt auch Christian Schröder im Tagesspiegel. Wir hören rein:



Weitere Artikel: Maik Bierwirth erzählt in der Jungle World die Geschichte der Band Badfinger und deren vor 50 Jahren erschienenen Song "Without You". Karl Fluch erinnert im Standard an Mamie Smiths Album "Crazy Blues", das vor 100 Jahren erschienen ist und für Fluch zu den "Geburtsstunden der Popmusik" zählt.


 
Besprochen werden Keith Jarretts "Budapest Concert" (NZZ), Saults Album "Untitled (Rise)" (FR) und neue Popveröffentlichungen, darunter Chilly Gonzales' "A very chilly Christmas" (SZ).
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