Efeu - Die Kulturrundschau

Das Material ist die Message

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17.11.2020. In der NZZ protestiert der Architekturhistoriker Bernd Nicolai gegen Pläne des Pharmakonzerns Hoffmann-Laroche, in Basel die Ikonen der Schweizer Industriemoderne zu schleifen. Der Guardian erklärt, warum heutige Bauten immer hässlicher werden. Die taz feiert die Arbeit der Kommunalen Galerien in Berlin und besonders die deutsch-türkische Ausstellung "Shifting Patterns" in der Galerie Nord. In der NZZ überlegt David Grossman, was Menschen zu Soldaten des Bösen macht. Der Standard fragt, wie bieder sex-positiver Rap ist.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.11.2020 finden Sie hier

Architektur

Das dritte Hochhaus für Hoffmann-La Roche. Bild: Herzog & de Meuron


Als beispiellose Tabula-rasa-Aktion und überholte Machtgeste wertet der Architekturhistoriker Bernd Nicolai den Plan des Pharamkonzerns Hoffmann-La Roche, für ein drittes Hochhaus von Herzog und de Meuron auf seinem Campus in Basel sämtliche Gebäude bis auf das Direktionsgebäude zu schleifen, darunter bedeutende Bauten von Otto Rudolf Salvisberg wie das elegante Betriebsgebäude Bau 27: "Dank seiner konsequent funktionalistischen Gestaltung wurde Bau 27 zu einer Ikone der Industriearchitektur des Neuen Bauens. Als eines der am häufigsten publizierten Gebäude von Salvisberg prägte es entscheidend das Bild der Schweizer Moderne und wurde auf breiter Ebene international noch in den fünfziger Jahren bis hin nach Japan rezipiert. Salvisberg optimierte die vorbildlichen Konstruktionen der Van-Nelle-Fabrik in Rotterdam (1926-1931) und der Boots Factory in Nottingham (1931-1933) und ging weit über das Stütze-Last-System mit starken Unterzügen des Bauhausgebäudes oder der Geschäftsbauten Erich Mendelsohns hinaus." In der FAZ weist Matthias Alexander darauf hin, dass auch dem Zürcher Schauspielhaus der Abriss droht.

Neue Bauten in London werden immer hässlicher, stellt Rowan Moere im Guardian etwa bei Blick auf das Ilona Rose House fest, und das liegt auch, aber nicht nur an der Gier der Immobilienentwickler, die ihre Geschossnutzen maximieren und Ausgaben minimieren wollen: "Es ist komplizierter. Ein wichtiger Faktor sind auch moderne Konstruktionstechniken, die verschiedene Komponenten eines Gebäudes in einzelne Systeme aufgliedern. Bei älteren Gebäuden, egal ob viktorianisch oder brutalistisch, sind die einzelnen Komponente bis zu einem gewissen Grad miteinander verbunden und aufeinander bezogen, so dass etwa die Holzarbeit eines Fenstersrahmen sich in der From der Griffe wiederfinden oder die Proportion eines Balkons verbunden ist mit der eines Fahrstuhls. Moderne Gebäude werden aus fabrikfertigen Paketen zusammengesetzt, meist erst in einem Blind Date auf der Baustelle."

Als Zukunft des Einfamilienhaus feiert SZ-Kritiker Gerhard Matzig den Bau, den der Architekt Stephan Rauch in Landsberg am Lech für seinen Familienverbund ersonnen hat. Im Tagesspiegel staunt Frederik Hanssen über den Optimismus, mit dem Herzog und de Meuron die von ihnen entworfene Shoppingmall auf dem ehemaligen Tacheles-Gelände in Berlin vermarkten.
Archiv: Architektur

Kunst

Gülsün Karamustafa / Galerie Nord
Die tolle Arbeit der Kommunalen Galerien in den Berliner Bezirken wird viel zu selten gewürdigt, befindet Ingo Arend in der taz. Die Ausstellung "Shifting Patterns | Dönüşen Paternler" in der Galerie Nord zeige etwa sehr schön anhand deutsch-türkischer Künstlerinnen, wie sich Migration auf die Kunst auswirke: Zum Beispiel bei Gülsün Karamustafa: "Die 1946 in Ankara geborene Künstlerin ist eine der Pionierinnen der türkischen Konzeptkunst. Seit einigen Jahren bewegt sie sich zwischen Berlin und Istanbul. In ihrer 'Vulnerable'-Serie hat sie zarte Objekte wie Federn, Papierblüten oder eine Haarschleife auf die Spitzen kleiner Scheren gespießt. Karamustafa erzählt keine Migrationsgeschichte, sondern findet ein Symbol für das allgemeine Gefühl von Verletzlichkeit. Es ist dieses Gespür für das Hybride, Verwundbare und Zerbrechliche, der Verzicht auf alles auftrumpfend Deklaratorische, welches die zwanzig, höchst unterschiedlichen Positionen und Künstlerinnen dieser klug komponierten Schau verbindet: Das Material ist die Message."

Weiteres: Daniel Zylbersztajn-Lewandowski berichtet in der taz vom Entsetzen, das die Künstlerin Maggi Hambling mit ihrer verfehlten Statue für die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft in London hervorgerufen hat (mehr hier). Stefan Trinks freut sich in der FAZ über den Erwerb eines Selbstbildnis der frühklassizistischen Malerin Marie-Guillemine Benoist durch die Kunsthalle Karlsruhe. Besprochen wird die Wagenbach-Reihe zu digitalen Bildkulturen (Tsp).
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Literatur

Im großen NZZ-Gespräch mit David Grossman geht es unter anderem auch um seinen neuen Roman "Was Nina wusste", eine fiktionale Aufarbeitung und Ausschmückung des Lebens von Eva Panić-Nahir, eine Überlebende aus Titos Gulag, die schließlich nach Israel auswanderte. Unter anderem schreibt Grossman über die Foltereien, die sie durchstehen musste. "Das Böse ist sehr kreativ", ist ihm dabei aufgegangen. "Die Menschen sprechen über die Banalität des Bösen und zitieren dabei natürlich Hannah Arendt. Aber ich denke, wir missverstehen, was sie gesagt hat. Denn das Böse ist letztlich nicht banal. Das Böse weiß, wie es die Neigung der Menschen zur Banalität nutzen kann, zur Routine, zum Klischee. Ich fand nochmals eine neue Bestätigung, wie groß die Versuchung für manche Menschen ist, ein Soldat des Bösen zu werden. Gutes zu tun, erfordert viel mehr Mühe."

Der Schriftsteller und Verleger Thomas Hoeps ärgert sich auf 54books sehr über den wirtschaftlichen Druck, den der floriererende Digitalhandel mit Second-Hand-Büchern auf Neuerscheinungen ausübt, und fordert Maßnahmen: "Bedingungen für den gewerblichen Wiederverkauf einzuführen, wie es Ulf Erdle und andere mit der Einrichtung von 'Schonfristen' für Neuerscheinungen oder der Erhebung von Zweitverwertungsabgaben fordern, werden das Grundproblem mangelnder Honorierung der Autor*innen sicher nicht lösen. Und es wirkt vielleicht sogar nur wie ein Abwehrkampf in aussichtsloser Stellung. Aber dem Lurch das zu entreißen, was uns zusteht, ist nicht zuletzt auch eine Frage der Selbstachtung."

Weitere Artikel: Aldo Keel erinnert in der NZZ an das Hin und Her im Zuge von Alexander Solschenizyns Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis. Im Freitag schreibt Kirsten Reimers über die Krimis der Kanadierin Louise Penny. Für die Berliner Zeitung spricht Cornelia Geißler mit Anja Kampman, deren 2018 erschienener Roman "Wie hoch die Wasser steigen" in den USA gerade für den National Book Award nominiert wurde. In der SZ schreibt der Schriftsteller Joachim Lottmann über das still gewordene Wien im Total-Lockdown. Roswitha Budeus-Budde erinnert in der SZ an die Pumuckl-Erfinderin Ellis Kaut, die heute vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden unter anderem neue Krimis von Erich Plamondon und Denise Misa (Perlentaucher), Sabine Peters' "Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt" (taz), Nell Zinks "Das Hohe Lied" (Zeit), Mike Knowles' Krimi "Tin Men" (Freitag), Barack Obamas Memoir "Ein verheißenes Land" (Tagesspiegel), Heinz Budes, Bettina Munks und Karin Wielands Hausbesetzer-Roman "Aufprall" (FAZ), Julie Birmants und Clément Oubreries Comic "Isadora" (taz), Rachildes erstmals auf Deutsch vorliegender Roman "Monsieur Venus" aus dem Jahr 1885 (Berliner Zeitung), die Neuausgabe von Colin Dexters Inspector-Morse-Krimis (Tagesspiegel), Steven Price' "Der letzte Prinz" (SZ) und Marie-Claire Blais' "Drei Nächte, drei Tage" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Enttäuscht berichtet Michael Bartsch in der Nachtkritik vom Festival für junge europäische Regie "Fast forward", das auch als Online-Programm hinter seinen Möglichkeiten zurückblieb, wie er feststellt. In der SZ empiehlt Dorion Weickmann Comics von Maurane Mazars, Julie Birmant und Clément Oubrerie, die Tanz, Fantasie und Choreografie in Zeichnung übersetzen. In der FAZ resümiert Simon Strauß die zeitungseigene Veranstaltung "Spielplanänderung" an der Berliner Volksbühne.
Archiv: Bühne
Stichwörter: Birma

Film

Patrick Heidmann spricht für ZeitOnline mit der Schauspielerin Beanie Feldstein, deren neuer Film "All about a Girl" gerade per VoD gestartet ist. Besprochen werden Edoardo Pontis "Du hast das Leben vor Dir" mit Sophia Loren (SZ, mehr dazu bereits hier) und die Serie "Das Damengambit" (Tagesspiegel).
Archiv: Film
Stichwörter: Loren, Sophia

Musik

Standard-Kritiker Karl Fluch nervt es gewaltig, wie im Rap das für ihn nach "Sittenwächterei" riechende Schlagwort "sex-positiv" verteilt wird, wenn eben auch mal Frauen derbe über Sex singen, was sie im übrigen schon in frühesten Blues- und seligen Rock'n'Roll-Zeiten taten: "Schon die gewählte Nomenklatur zeigt die Anmaßung, festlegen zu wollen, was zulässig ist und was pfuigack. ... Geilheit allein reicht nicht, sie muss schon politisch korrekt sein und den Amtsweg gehen, sonst gibt es auf die Finger. Die Kunst selbst belastet sich mit derlei Kram kaum. Hip-Hop berichtet aus dem Leben, nicht aus dem Proseminar. Und im Leben ist das Mojo recht gleichmäßig verteilt."

Jesper Klein berichtet in der FAZ von der digital stattgefundenen Heidelberg Music Conference, wo der Klassikbetrieb über die eigene Relevanz und Zukunft diskutierte. An Ideen und Tatendrang herrschte kein Mangel, erfahren wir, und um sie umzusetzen, führt an einem harmonischen Verhältnis zwischen Analog und Digital kein Weg vorbei: "Schließlich hat der Frühjahrs-Lockdown vor Augen geführt, wie im digitalen Raum zwar kreative Lösungen gefunden werden können. Doch dass Analoges und Digitales in puncto ästhetischen Mehrwerts Hand in Hand gehen, geschieht bisher nur in Einzelfällen. Juri de Marco vom jungen und digital kompetenten Stegreif-Orchester gibt unumwunden zu: Es waren Notlösungen. Mit dem Erforschen des digitalen Raums einher geht der Wunsch, nicht klassikaffine Zielgruppen zu erreichen. Der Entwurf des neuen, relevanten und sozialen Konzerts denkt das Publikum als aktiven Bestandteil mit. In jedem der in Zufallsgruppenarbeit modellhaft entwickelten Projekte konnte es interagieren bis kuratieren."

Weitere Artikel: Für die Welt spricht Manuel Brug mit der Mezzosopranistin Elina Garanca über ihre neue Lied-CD (mehr dazu bereits hier). Für eine taz-Reportage hat sich Sabine Seifert umgesehen, wie Berliner Chöre mit dem momentanen Kultur-Lockdown und dem Problem des Probens umgehen. Im Tagesspiegel schildert Frederik Hanssen die Lage freischaffender Musiker in der Coronakrise. Für die SZ porträtiert Andrian Kreye den afrikanischen Jazzpianisten Nduduzo Makhathini, für ihn "als Virtuose und Komponist eine Figur von beeindruckendem Format". Wir hören rein:



Besprochen werden Rudolf Buchbinders Diabelli-Projekt (NZZ), ein Buch über die Geschichte der Punkband Dead Moon (Jungle World) und ein Konzertmitschnitt von Konstantin Wecker (FR).
Archiv: Musik