Efeu - Die Kulturrundschau

Die Arbeiterklasse unter den Poeten

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24.11.2020. Die SZ huldigt der vor sechzig Jahren gegründeten Oulipo-Bewegung, ganz ohne E. Die taz versinkt mit Sebastian Hartmanns "Zauberberg"-Inszenierung in einem fantastisch verstörenden Traumgestöber. Die FAZ fragt nach der Herkunft der Krefelder Mondrian-Gemälde. Die taz erlebt auch in der Kleinen Galerie in Eberswalde wie sich Walter Womackas Agit-Prop in Hans Tichas Agit-Pop verwandelte. Der Standard erzählt vom rasanten Aufstieg des Malers Amoako Boafo, der es von der Wiener Kunstakademie direkt ins Guggenheim schaffte. Und ZeitOnline lernt den sanften Hauch der westafrikanischen Musikerin Amaarae zu fürchten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.11.2020 finden Sie hier

Literatur

Johanna-Charlotte Horst erinnert in der SZ an die Gründung der französischen Oulipo-Bewegung vor 60 Jahren, die mit ihren rigorosen Regularien und programmatischen Auflagen kühne Sprachexperimente begünstigen wollte. Diese "Arbeiterklasse unter den Poeten lehnt das Modell genialer Inspiration als bürgerlich-repressiv ab. Während das Genie nicht weiß, woher die Ideen kommen, eignen die Oulipoten sich ihre Produktionsbedingungen und -mittel an. Sie verzichten auf die scheinbare Freiheit ungehinderter Kreativität und arbeiten unter selbstgesetzten Einschränkungen. Beim Schreiben drängen sich nun Wörter auf, die unter anderen Umständen nicht in den Sinn gekommen wären." An Georges Perecs unter diesen Umständen entstandenen Roman "La disparition", der komplett auf den Vokal "e" verzichtet, schließt Alex Rühle mit seiner Hommage an, die ihrerseits kein einziges E aufweist.

Weitere Artikel: Für den Standard spricht Sebastian Borger mit Robert Harris über den Zweiten Weltkrieg und die V2, über die er gerade mit dem Roman "Vergeltung" einen historischen Thriller veröffentlicht hat. In der Berliner Zeitung schwärmt der Schriftsteller Peter Wawerzinek von Rom.

Besprochen werden unter anderem Zadie Smiths Essayband "Betrachtungen" (Standard), Margaret Atwoods Gedichtband "Dearly" (Guardian), Elvia Wilks Debütroman "Oval" (Tagesspiegel), Leanne Shaptons "Gästebuch" (Zeit), Helmut Lethens Memoiren "Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug" (FR), Nell Zinks "Das Hohe Lied" (SZ) und Emmanuelle Bayamack-Tams "Arkadien" (FAZ).
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Kunst


Walter Womacka: Am Strand, 1962. Hans Ticha: Kartenspielendes Paar am Strand, 1969. Bilder: Kleine Galerie Eberswalde

Von einer sehr interessanten Ausstellung berichtet Ingo Arend in der taz: Die Kleine Galerie in Eberswalde zeigt den "Staatskünstler" Walter Womacka, verantwortlich für den Brunnen der Völkerfreundschaft am Alexanderplatz oder das Haus des Lehrers, zusammen mit Hans Ticha, der sich im Prenzlauer Berg von der offiziellen Linie fern hielt: "Das Gegenstück zu Womacks berühmtem Paar am Strand heißt bei ihm 'Kartenspielendes Paar am Strand' und stammt aus dem Jahr 1969. Statt der Idylle Womackas, das zukunftsfrohe Paar züchtig in Freizeitkleidung, sieht man ein weniger wohlproportioniertes Paar in Badehose und Bikini, welches gelangweilt Karten spielt. Tichas Figuren orientierten sich an der Bildsprache der Neuen Sachlichkeit, an Oskar Schlemmer und der Pop-Art. Mit seinem Bild  'Der Trommler' von 1981 treibt Ticha seine Abstraktion auf die Spitze. So wie er menschliche Gliedmaßen mit Fahne und Trommel kombiniert, löst sich das hohle Pathos des Systems in unverbundene Bruchstücke auf - aus Agitprop (Agitation und Propaganda) wird eine Art desillusionierter Agit-Pop."

Amoako Boafa: Red Ruby. Bild: Rubell Museum

Im Standard erzählt Amira Ben Saoud vom irrsinnigen Aufstieg des ghanainischen Malers Amoako Boafo, der bis voriges Jahr noch ein Student an der Akademie der bildenden Künste in Wien war und heute schon im Guggenheim hängt. Tolle Bilder, meint sie, eine Kombination aus stolzer Blackness, Verletzlichkeit und Egon Schiele: "Doch hat das aktuelle Interesse, besonders in den USA, für die Kunst afroamerikanischer und afrikanischer Künstler auch eine besorgniserregende Seite: Artflipper, also Menschen, die Kunst meistens um läppische Preise direkt aus den Ateliers vielversprechender Künstler kaufen, um sie möglichst schnell mit maximalem Profit bei Auktionen zu verheizen, rochen den Braten. Die Spekulation, die mit den Werken schwarzer Künstler gerade getrieben wird, veranlasste zum Beispiel Christie's bei seiner Online-Verkaufsausstellung 'Say It Loud (I'm Black and Proud)', den Käufern Verträge vorzulegen, mit denen Artflipping verhindert werden soll. Käufer mussten zustimmen, dass sie die erworbenen Werke für die nächsten fünf Jahre nicht bei Auktionen veräußern. Mit dieser Praxis sah sich auch Boafo konfrontiert, oder befeuerte sie." Im Februar ließ er sein eigenes Bild "The Lemon Bathing Suit" für 813.000 Euro kaufen.

In der FAZ rekapituliert Patrick Bahners den Rechtsstreit um vier Mondrian-Gemälde, die im Krefelder Kaiser-Wilhelm-Museum prangen, obwohl der damalige Direktor Paul Wember nie klären konnte, wie er nach dem Krieg an diesen Schatz gelangt ist. Nun fordert der Mondrian Trust die Herausgabe der Werke: "Die Stadt Krefeld lehnt alle Verhandlungen mit den Erben ab, obwohl sie die Gründe, auf die sie ihren Eigentumsanspruch stützt, schon mehrfach korrigieren musste. Alles, was Stadt und Museum je zu den tatsächlichen Umständen von Vorgeschichte und Geschichte des sogenannten Fundes ausgeführt haben, ist entweder nicht zu halten oder nicht zu belegen. Wember behauptete, dass die Bilder schon zum Vorkriegsbestand des Museums gehört hätten. Dass sie in keinem Inventar erwähnt werden und anscheinend nie im Museum gezeigt wurden, erklärte er damit, dass sie 'vergessen' worden seien. 1973 schrieb er in einem Abriss der Geschichte seines Hauses: 'Der Verfasser hat sie erst 1950 unter merkwürdigen Umständen gefunden.'"

Weiteres: Marlene Militz annonciert in der taz die faire Kunstaktion, bei der am Wochenende Bilder von Berliner Künstlerinnen und Künstler versteigert werden, um ihnen direkte Einnahmen zu ermöglichen.
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Film

Netflix im Besonderen, aber auch die Streamingdienste generell stehen für divers breit aufgestelltes Programm, heißt es meist. Eine Studie hat nun festgestellt, dass diese Einschätzung zumindest rein quantitativ nicht wirklich gut begründbar ist, berichtet Philipp Bovermann in der SZ: Der Anteil männlicher Hauptfiguren sei auch nicht signifikant niedriger als bei anderen Programmanbietern. Und zumindest hinter der Kamera deutscher Produktionen finden sich fast schon ausschließlich nur Männer am Drehbuch und in der Regie. "Was die Sichtbarkeit unterschiedlicher Ethnien angeht, sei das Programm der Plattformen zwar 'insgesamt divers', schließlich werde es auf der ganzen Welt produziert. Schaut man sich aber nur die Produktionen eines einzelnen Landes an, 'überwiegt die Sichtbarkeit der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung'. In den deutschen Produktionen etwa seien rund 89 Prozent der Figuren weiß. Menschen mit Migrationshintergrund, die rund ein Viertel der bundesdeutschen Bevölkerung bilden, sind laut Studie deutlich unterrepräsentiert."

Weitere Artikel: Jan Feddersen erinnert in der taz an Helga Feddersen, die vor 30 Jahren gestorben ist und der der NDR gerade eine große Hommage gewidmet hat. Dominik Straub berichtet im Standard von den Plänen der italienischen Kulturpolitik, den Cinecittà-Studios in Rom wieder zu altem Glanz zu verhelfen. Willi Winkler (SZ) und Oliver Rasche (Welt) schreiben Nachrufe auf Karl Dall.

Besprochen werden Ron Howards "Hillbilly Elegy" (FR) sowie ein Band mit den Schriften von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub (FAZ).
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Bühne

Traumgestöber: Sebastian Hartmanns "Zauberberg"-Inszenierung. Bild: Deutsches Theater

Von zwei Stunden "verstörendem Traumgestöber" berichtet eine überwältigte Eva Behrend in der tazSebastian Hartmann hat für das Deutsche Theater den "Zauberberg" inszeniert, und zumindest die Livestream-Premiere erscheint Behrendt als "performatives Gesamtkunstwerk", das mit wenigen Passagen aus Thomas Manns Mammutroman auskomme: "Tilo Baumgärtels animiertes Bergpanorama, zackiger als jedes irdische Gebirge, verspricht ein Game, das einen das Gruseln lehren könnte. Dazu Sturmgeräusche, das Knirschen schwerer Schritte im Schnee, der weiß geschminkte Kopf von Markwart Müller-Elmau, der jetzt schon den Kriegs-Epilog murmelt, und dann, überblendend, die ebenfalls geweißte Linda Pöppel, deren künstlich verzerrte Stimme über das Wesen der Zeit nachdenkt: 'Kann man die Zeit erzählen?'"

Weiteres: Im Tagesspiegel notiert Sandra Luzina, dass der Berliner Ballettchef Johannes Öhman auf die Rassismusvorwürfe reagiert, die Ballerina Chloé Lopes Gomes gegenüber einer Trainingsleiterin erhebt.
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Musik

Hin und weg ist SZ-Kritiker Joachim Hentschel von der amerikanischen Folkmusikerin Adrianne Lenker, die zwar in Fotos und Videos gerne Waldeinsamkeitsmotive und verschrobene Nachdenklichkeit inszeniert, was oft nichts Gutes ahnen lässt. Doch um "Achtsamkeitslyrik" geht es hier nicht, versichert Hentschel: "Ihre Songs malen oft mächtige, krasse, mitunter blutige Bilder, schweifen vom Buchstäblichen direkt ins Mythische und erfinden dabei ihre jeweils eigene, schräge Logik. Und sie formen sich von selbst zu sonderbaren musikalischen Klumpen, die mit den Schemata des scheckheftgepflegten Indie-Folk wenig zu tun haben. Als ob Emily Dickinson oder Sylvia Plath in richtig tollen Bands gesungen hätten." Wir hören rein:



Ganz andere Richtung: die westafrikanische Künstlerin Amaarae, bei deren nur vordergründiger Niedlichkeit ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt dahinschmilzt. Deren Musik hat eher nur entfernt "mit dem lukrativen Afrobeats-Taumel von Burna Boy und Co zu tun. Amaarae verortet sich stattdessen im nigerianischen Alté, einer Art Indiepopszene, die sich mit emanzipatorischen Absichten gegen die konservativ geprägte Mehrheitsgesellschaft des Landes (sowie Amaaraes ghanaischer Heimat) positioniert. ... Amaaraes Humor kann gemein sein, ihr Ton scheinbar unvermittelt vom Verzweifelten ins Angriffslustige kippen. Der sanfte Hauch ihrer Stimme ist ein unberechenbares Instrument." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Im Standard porträtiert Stefan Ender Igor Levit. Die FAS hat Karen Krügers Porträt der Rapperin Myss Keta online nachgereicht. Nadja Dilger berichtet in der Berliner Zeitung von den American Music Awards. Florian Amort hat für die FAZ der neuen, ihn klanglich voll überzeugenden Orgel im Wiener Stephansdom einen Besuch abgestattet.

Besprochen werden eine Aufführung von Klaus Langs "Tönendes Licht" durch die Wiener Symphoniker mit Wolfgang Kogert (Standard), eine Box mit Joni Mitchells Frühwerk (Tagesspiegel) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine neue CD von Quatuor Ardeo (SZ).
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