Efeu - Die Kulturrundschau

Notfalls auch in Sanskrit

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08.12.2020. Mustergültig findet die Welt, wie klug und ehrlich das Stuttgarter Lindenmuseum seine ethnologische Sammlung aufarbeitet. Nach Erich Wolfgang Korngolds Oper "Die tote Stadt" taumelt sie in einem freudianischen Klangrausch. Die NZZ verliebt sich in Winterthur in ein Krokodil aus Holz. Louise Glück erklärt in ihrer Nobelpreisrede ihre Poetologie. Zum vierzigsten Todestag von John Lennon erinnert die SZ an den Schläger und Hamburger Kiezrocker, der er war, bevor er ein Hippie wurde.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.12.2020 finden Sie hier

Bühne

Burkhard Fritz in Korngolds "Die tote Stadt". Foto: Paul Leclaire / Oper Köln

Als reinsten "freudianischen Klangrausch" erlebt Manuel Brug in der Welt Erich Wolfgang Korngolds Oper "Die tote Stadt", die in der Weimarer Republik der Sensationserfolg schlechthin war und genau hundert Jahre nach seiner Uraufführung wieder in Köln gespielt wurde, in der Inszenierung von Tatjana Gürbaca: "Es braucht nur wenige Takte der unruhevoll brodelnden, dabei geheimnisvoll wispernden, wohlig leuchtenden, trennscharf schillernden Musik und eine aus Déjà-vu-Versatzstücken abgründiger Träume zusammengebaute Atmosphäre - und schon ist klar: 'Die tote Stadt', das am 4. Dezember 1920 gleichzeitig in Köln und Hamburg uraufgeführte Erfolgsstück des damals 23 Jahre alten Korngold, ist die visionäre Vorwegnahme der filmischen Psychosen und glühenden Krimi-Melodramen von Brian de Palma oder David Lynch."

Besprochen werden Verdis "Simon Boccanegra" als Live-Premiere in der Oper Zürich und als Stream auf arte (und mit einem "von himmlischem Licht erfüllten" Christian Gerhaher in der Titelrolle, wie Lotte Thaler in der FAZ jubelt, NZZ) und Martin Schläpfers Mahler-Chroeografie an der Wiener Staatsoper (FAZ).
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Kunst

Schild der Arawe in West New Britain Province. Foto: Lindenmuseum
Hans-Joachim Müller ist in der Welt voll des Lobes für den klugen und ehrlichen Umgang des Stuttgarter Lindenmuseum mit seiner kolonialen Raubkunst. Als Pionierleistung in der ethnologischen Museumspraxis feiert er die digitale Präsentation der Sammlung, mit der eine mustergültige Datenbank entstanden sei: "Der kooperierende Alltag zwischen ehemaligen Tätern und Opfern ist auch mit guten Vorsätzen nicht so ohne weiteres zu haben. Aber es verdient schon allen Respekt, wie umsichtig Stuttgart die komplizierten Annäherungsprozesse einleitet und darauf achtet, dass die Stücke auch wirklich in die Hände der indigenen Bevölkerungsgruppen gelangen - und nicht zuletzt in die Köpfe und Herzen des eigenen Museumspublikums. Die Begleittexte der digitalen Sammlung sind, wenn man so will, postkoloniale Pädagogik vom Feinsten. Und genauer kann man es nicht sagen, als es die Hinweise bei der einen oder anderen problematischen Erwerbung tun: juristisch wohl nicht anfechtbar, aber die Frage nach der Moral oder Amoral des ehemaligen Sammlerverhaltens bleibe natürlich bestehen."

Nicht nur Schwänze, sondern auch Brüste: Annette Messager: Gonflés, degonflés, 2005. Foto: Albertina Modern / Sammlung Essl


Die Wiener Museen dürfen wieder öffnen. Im Standard zeigt sich jedoch Katharina Rustler milde enttäuscht von der Ausstellung "The Essl Collection" in der Albertina Modern, die gerade rechtzeitig fertig wurde Wo bleibt die Überrauschung? "Eine Hauptattraktion der Schau sind die überlebensgroßen, fast nackten Päpste des Bildhauers Virgilius Moldovan. Umzingelt werden sie von hysterisch lachenden Männern des Malers Yue Minjun sowie einer roten wurstförmigen Sitzskulptur von Franz West. Dass sich das Ganze vor den 'Riesenschwänzen' (Zitat Schröder) des Duos Gilbert und George abspielt, komplettiert das Gesamtbild brachial-blasphemischer (männlicher) Körpersprache. Ab hier taucht der Phallus immer wieder auf: sei es bei Jonathan Meeses Propagandist, dem sogar Penisse aus Kopf und Rücken wachsen."

Weiteres: Dringender denn je findet Carmela Thiele in der taz die Kunst der Valie Export, die in der Kunsthalle Baden-Baden gerade die "Fragmente der Bilder einer Berührung" zeigen würden, wenn sie denn könnte. Die Berliner Zeitung meldet, dass die Sammler-Familie Bastian ein umfangreiches Beuys-Konvolut nach Dresden gibt, offenbar weil ihr "Engagement" dort mehr gewürdigt werde.
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Literatur

Das Nobelpreiskomitee hat Louise Glücks' Nobelpreisrede online gestellt, in dem sie eine Art Poetologie ihres eigenen Schaffens entwirft: "Die Gedichte, zu denen ich mich mein ganzes Leben am glühendsten hingezogen gefühlt habe, sind Gedichte jener Art, die ich als Gedichte intimer Auslese oder Verschwörungen beschrieben habe. Gedichte, zu denen der Zuhörer oder Leser einen essenziellen Beitrag leistet, als Adressat einer vertrauensvollen Ansprache oder eines Aufschreis, manchmal als Mitverschwörer. 'Ich bin niemand', sagt Emily Dickinson. 'Bist auch Du niemand? / Dann gibt's von unsereins ein Paar - verrate es keinem...' Oder T.S. Eliot: 'Lass uns nun gehen, du und ich / Wenn der Abend sich gegen den Himmel ausbreitet / wie ein Patient, betäubt, auf einem Tisch'. Eliot beschwört da keine Pfadfinder-Kohorte. Er bittet den Leser um etwas. Anders als, sagen wir etwa, Shakespeares 'Soll ich dich einem Sommertag vergleichen': Shakespeare vergleicht da nicht mich mit einem Sommertag. Es ist mir gestattet, atemberaubender Virtuosität zu lauschen, aber das Gedicht bedarf nicht meiner Gegenwart."

Dass "Das Literarische Quartett" zu einer bloßen Plauderei fernab literaturkritischer Standards verkommen sei, wie es zuletzt wieder häufiger hieß (etwa hier), kann Jürgen Kaube in der FAZ so zugespitzt nicht stehen lassen. Ihn stört am Format in seiner aktuellen Gestalt eher anderes: Früher gab es neben schlicht mehr Zeit pro Buch auch einfach mehr Fachkompetenz vor der Kamera. "Die kleinen Abschweifungen - über Lektoren, das Übersetzen, Gattungsfragen, Vorbilder und dergleichen - machten, neben dem verlässlichen Streit und dem spürbaren Vergnügen Marcel Reich-Ranickis an seiner Rolle, den Reiz des Ganzen aus." Heute aber werde "so gut wie nicht verglichen, die Bücher werden gelesen, als seien es außer der 'Blechtrommel' die einzigen Romane überhaupt. ... Romane erscheinen nicht als Lösungen von Problemen, die sich ihren Autoren gestellt haben, sondern als Erzähleinfälle."

Besprochen werden unter anderem Nadeschda Mandelstams "Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe" (taz), Maryse Condés autobiografische Schriften (FR), Tom Barbashs "Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens" (SZ), Monika Marons Erzählung "Bonnie Propeller" (FR), Sigrid Damms "Goethe und Carl August" (FR), Gwen de Bonneval und Hervé Tanquerelles Comic "Grönland Odyssee" (Tagesspiegel) und Friederike Mayröckers Gedichtband "da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete" (FAZ).
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Architektur

In der NZZ stellt Sabine von Fischer ein Vorzeigeprojekt aus Winterthur vor, das nachhaltig gebaut und sozial durchmischt im Industriegebiet Lokstadt entsteht. Es heißt Krokodil, ist aber hell, freundlich und einladend. Und vor allem aus Holz gebaut: "Das Holz ist überall, ausser an den Fassaden, wo man es von weit her sehen würde. Mitten im Wohnraum aber oder in der Ecke eines Zimmers stehen die Riesenpfosten, fast wie weitere Mitbewohner, und prägen die Innenräume genauso wie die Türen und Fenster. Sie setzen Akzente und fassen den Raum in jeder Wohnung auf andere Art, denn kaum ein Grundriss wiederholt sich in diesem Riesenhaus. 'Es gab wahnsinnig viel zu tun, aber es war eine tolle Arbeit', berichten die Architekten. Baumberger & Stegmeier aus Zürich und KilgaPopp Architekten aus Winterthur, die das große Projekt gemeinsam bearbeiteten, behielten jede der über 2000 Stützen im Augenwinkel. So steht nun jede von diesen in der fertigen Wohnung auch genau da, wo sie zur Gliederung der verschiedenen Wohnzonen beiträgt."

Weiteres: In der taz feiert Katharina J. Cichosch den "Atlas of Brutalist Architecture", der ein maximal breites Spektrum an brutalistischen Bauten zeige: "Nicht nur erschlagend oder kühl modernistisch, sondern auch aberwitzig, fantastisch, organisch anmutend, postmodern, wild verspielt oder gar neofolkloristisch wie im Kosovo oder in Mexiko." Für die FAZ besichtigt Laura Helena Wurth den von der OMA-Architektin Ellen van Loon entworfenen Neubau des exklusiven Brighton Colleges.
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Stichwörter: Winterthur, Brutalismus, Kosovo

Film



Der malayisische Rapper und Filmemacher Namewee hat schon häufiger den Zorn der Behörden seines Heimatlandes auf sich geladen, weil er angeblich den Islam beleidigt haben soll. Nun wurde sein neuer Film "Babi" ("Schwein", in Malaysia ein Schimpfwort für Nicht-Muslime) gleich vorsorglich verboten, obwohl die Chancen gut stehen, dass er  - von einem Trailer, siehe oben, abgesehen - noch nicht einmal existiert, berichtet Marco Stahlhut in der FAZ. Alles nur eine groß angelegte Troll- und Provoaktion? "Namewee prahlte auf seinen Social-Media-Konten damit, der Film erhalte mehr Nominierungen für Preise als irgendein anderes seiner Werke. Das führte zu einer Flut von englischsprachigen Artikeln." Angebliche Festivaleinladungen und -auszeichnungen entpuppen sich rasch als zumindest dubios. Auch das Golden Horse Festival in Taiwan, das den Film angeblich für die beste Filmmusik nominiert haben soll, "kann trotz wiederholter Nachfragen nicht bestätigen, dass irgendeine offizielle Person des Festivals den Film 'Babi' auch gesehen hat. ... Sky Films, als Verleiher des Films in Namewees Wahlheimat Taiwan benannt, kommuniziert nur per G-Mail-Adresse."

Weitere Artikel: Nadine Lange wirft für den Tagesspiegel einen Blick ins Programm des Filmfestivals Cottbus, das ebenfalls digital stattfindet. Besprochen werden Ryoo Seung-wans auf DVD veröffentlichter Actionthriller "Battleship Island" (SZ) und die Netflix-Komödie "ÜberWeihnachten" mit Luke Mockridge (Berliner Zeitung).
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Musik

Heute vor 40 Jahren wurde John Lennon Opfer eines Attentats. In der SZ erinnert Willi Winkler an den Musiker und Sänger, dessen Jugend als berüchtigter Schläger und dessen wilde Zeit als Hamburger Kiezrocker so gar nicht zum Hippie-Image der späten Beatles und des Solo-Lennon passen wollen: "'Yesterday' und 'All You Need Is Love' und das alles - können solche Töne lügen? Ja. Das ganze Maharishi-Meditieren, die Urschrei-Therapie, die Pillen, das Saufen, LSD und Heroin ist ja gut und schön, wäre aber nichts als tönendes Erz oder eine klingende Schelle, wenn dahinter nicht der John Lennon verborgen wäre, der ganz andere Töne kennt, der ins Universum hinaustreibt und von seinem Schmerz singt und von seiner Freude, notfalls auch in Sanskrit. ... Wer ihm wirklich half, das war die japanische Fluxuskünstlerin Yoko Ono. Auf der Suche nach einem Mäzen lauerte sie dem berühmtesten Brillenträger der Welt auf, der seinerseits darauf brannte, aus dem Beatles-Gefängnis auszubrechen." In der NZZ schreibt Ueli Bernays vor allem über die psychischen Krisen des Attentäters.

Weitere Artikel: Für mehrere hundert Millionen Dollar hat die Universal Music Group die Autorenrechte an allen bisherigen (nicht aber den künftigen) Songs von Bob Dylan gekauft, meldet Benjamin Fischer in der FAZ. Moritz Fehrle von der SZ geht im Kultur-Lockdown auf der virtuellen Gaming-Plattform "Fortnite" Konzerte schauen.

Besprochen werden Bad Bunnys Album "El Ultimo Tour del Mundo" (ZeitOnline), DJ Blackpowers EP "BLP2020: King of the Night" (Freitag) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine CD mit italienischen Weihnachtskonzerten des Concerto Copenhagen mit Lars Ulrik Mortensen (SZ). Wir hören rein:

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