Efeu - Die Kulturrundschau

Herzklopfen der Freiheit

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14.12.2020. Der große John Le Carré ist tot. Guardian und Welt trauern um den Analytiker des Verrats und Ankläger der Ehrlosigkeit. Die FAZ besichtigt Riken Yamamotos japanische Altstadt am Zürcher Flughafen. Der NZZ bilanziert das Beethoven-Jahr, in dem für ihren Geschmack zu viel gelächelt wurde. Die FR bricht eine Lanze für Normen und Standards. Bellezza und Sprezzatura sind ja schön und gut, stöhnt die Welt über die italienische Oper. Aber wie wäre es mal wieder mit etwas Relevanz?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.12.2020 finden Sie hier

Literatur

John le Carré, 1931-2020 (Foto: Krimidoedel, CC BY 3.0)

Das Annus Horribilis 2020 hat uns nun auch noch den großen John le Carré genommen. Der britische Thrillerautor war "Chronist des Kalten Krieges, Analytiker des Verrats, Ankläger einer schäbigen, ehrlosen Welt", schreibt Holger Kreitling in der Welt. Früher arbeitete Le Carré selbst für die Geheimdienste, über die er dann schrieb und "hat sein Leben lang davon profitiert, von beidem viel zu wissen, von Moral und den Geheimdiensten". Seine Helden "sind tapfere, oft aus Wut und wider besseres Wissen naive Individuen, die gegen die Ambivalenzen des Betriebs rebellieren und denen der Blick für ihre Möglichkeiten abhanden kommt. Sei es Alec Leamas im 'Spion, der aus der Kälte kam', sei es der 'Ewige Gärtner', der 'Nachtmanager', die 'Libelle', der 'Schneider von Panama' und wie sie alle heißen. Georg Büchners 'grässlicher Fatalismus der Geschichte', der dem studierten Germanisten Le Carré natürlich ein Begriff war, paart sich mit den Unbilden des untergegangenen britischen Weltreiches. Aus, vorbei. Verluste überall. Was bleibt, ist Verrat. Bei Graham Greene gibt es Glauben als Trost. Bei Le Carré ist Leere, Ödnis."

"Gut und Böse sind kaum zu unterscheiden", schreibt auch Michael Schmitt im NZZ-Nachruf. "Wankelmut und die politische Logik von Apparaten wie den Geheimdienstabteilungen MI5 und MI6 entstellen jene, die angetreten sind, um das Wertvolle zu bewahren, bis sie ihren Gegnern gleichen; bis die Fronten verwischt sind, und zwar nicht nur, weil Doppelagenten und Überläufer sie durchlöchern." Das Thema seiner Bücher bildeten "die menschlichen und politischen Ambivalenzen des Kalten Kriegs", schreibt Eric Homberger im großen Guardian-Nachruf. "Sein Stil war hart, bar jeden Glamours. Die Kritiker nannten 'Der Spion, der aus der Kälte kam' als erwachsene Antwort auf Ian Flemings 'James Bond'-Romane. Er war mehr als das. Der straffe, komplexe Plot, die beträchtliche erzählerische Gabe und die distinkte Figurenzeichnung machen aus seinen Bucheine denkwürdige literarische Leistung." Natürlich verehrt auch Perlentaucherin Thekla Dannenberg Le Carré, dessen Verzweiflung über den Brexit auch seinen letzten Roman "Federball" durchdrang.

Weiteres: Alexander Kluy erinnert im Standard an die vor 100 Jahren geborene Schriftstellerin Clarice Lispector. Besprochen werden unter anderem J.K. Rowlings unter dem Pseudonym Robert Galbraith veröffentlichter Krimi "Böses Blut" (Berliner Zeitung), Cemile Sahins "Alle Hunde sterben" (Standard), Sarah Andersens Episodencomic "Fangs" (Tagesspiegel), Meiko Kawakamis "Brüste und Eier" (Tagesspiegel), Karin Peschkas "Putzt euch, tanzt, lacht" (Standard) und Sandra Gugićs "Zorn und Stille" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt der Lyriker Jan Wagner über Hölderlins "An Zimmern":

"Von einem Menschen sag' ich, wenn der ist gut
Und weise, was bedarf er? Ist irgend eins
Das einer Seele gnüget? ist ein Halm, ist..."
Archiv: Literatur

Architektur

Japanische Swissness: Riken Yamamotos Flughafen Zürich. Foto: RY

Ausgerechnet auf dem Gipfel der Corona-Pandemie wird an Zürichs Flughafen das größe Gebäude der Schweiz fertig: "The Circle". Der japanische Architekt Riken Yamamoto hat ihn als eine Art "verpixelten Bumerang" entworfen, wie Ulf Meyer in der FAZ schreibt, der Dichte und Eleganz verbinden will. Yamamoto sieht darin offenbar ein Beispiel der Swissness, die Schweizer darin den Inbegriff der Japanness: "Der 'Circle' ist eine neue Art von Stadt, ein kosmopolitaner Knotenpunkt des Konsums, an dem Menschen aus der ganzen Welt zusammenkommen. Wie in den Altstädten der Schweiz sollen die Räume flexibel nutzbar sein - eine 'Altstadt mit neuer Technik', wie Yamamoto es nennt. Yamamoto adaptiert dafür mittelalterliche Stadtstrukturen, um Dichte attraktiv zu gestalten... Er ähnelt einer japanischen Metropole, denn seine große Form entsteht aus lauter kleinen Elementen. Doch etwas Entscheidendes fehlt der Neustadt am Flughafen natürlich: Bewohner."

Normierung genießt unter Individualisten einen schlechten Ruf, aber in der Architektur ergibt sie sehr viel Sinn, versichert Robert Kaltenbrunner, der in der FR eine Lanze für standardisierte Verfahren bricht: "Man nehme einigermaßen runde Steine von einem Flussufer. Ein zweijähriges Kind wird zwei Steine hoch bauen können; ein dreijähriges mit weiter entwickelter Hand-Augen-Koordination schafft drei. Es braucht Erfahrung, um bis zu acht Steinen zu kommen. Und nur mit enormer Geschicklichkeit und einer Menge von Trial-and-Error-Versuchen bringt man es auf mehr als zehn. Fingerfertigkeit, Geduld und Erfahrung stoßen irgendwann an Grenzen. Machen Sie jetzt dasselbe Experiment mit Lego-Bausteinen. Sie können viel höher bauen - und wichtiger noch: Ihr dreijähriges Kind kann ebenso hoch bauen wie Sie. Warum? Dank Normierung. Die Stabilität resultiert aus der standardisierten Geometrie der Einzelteile. Der Vorteil, den die Geschicklichkeit verschafft, schrumpft gewaltig."
Archiv: Architektur

Bühne

In der Welt verliert Manuel Brug allmählich die Geduld mit Europas Opernbetrieb. Nach den öde-einfallslosen Inszenierungen in Leipzig und Zürich hat sich nun auch seine letzte Hoffnung erledigt: Die Inaugurazione der Scala in Mailand, traditionell die letzte Eröffnung der Saison wurde abgesagt. Statt Riccardo Chailly mit Donizettis "Lucia di Lammermoor" gab es einen Opernabend auf arte aus der Konserve: "Er hätte ein viel gesehenes Manifest für die Relevanz der Gattung Oper werden können. Aber er präsentiert nur wort- und sinnfrei altmodische Tradition im scheinbar modernen, völlig austauschbaren Videoanimationskleid. In Italien, dem Land, das die Oper erfunden hat, verharrt diese als Kunstform eben bis heute im Dekorationsstatus. Es geht um Bellezza und Sprezzatura, nie um Relevanz für die Gegenwart."

Weiteres: Für die Geschichtsbücher hält Simon Strauß in der FAZ fest, dass in der Spielzeit 2018/19, der letzten vor Corona, in Deutschland 65.995 Bühnenvorstellungen stattfanden, mit rund 35 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern. Nachtkritiker Janis El-Bira tummelte sich auf dem digitalen Festival zur Wiedereröffnung der Berliner Prater-Bühne. Besprochen werden Jonas Knechts Inszenierung der "Lächerlichen Finsternis" nach Wolfram Lotz am Theater St. Gallen (NZZ) und und das Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music im digitalen HAU (BLZ).
Archiv: Bühne

Film

Andreas Busche (Tagesspiegel), Daniel Kothenschulte (FR) und Jenni Zylka (taz) berichten von der Verleihung des Europäischen Filmpreises, bei der Thomas Vinterbergs "Rausch" als bester Film und Paula Beer als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde. Fabian Tietke (taz) und Hannes Soltau (Tagesspiegel) schreiben Nachrufe auf Kim Ki-Duk (weitere Nachrufe bereits hier).

Besprochen werden Steve McQueens für die BBC produzierte Film-Anthologie "Small Axe", die in der westindischen Londoner Community der 70er und 80er angesiedelt ist (Standard) und neue DVDs, darunter Clint Eastwoods "Richard Jewell" (SZ, unsere Kritik hier).
Archiv: Film

Kunst

In der FAZ-Reihe zu den Lieblingsausstellungen der Redaktion erinnert Andreas Kilb an die große Manet-Schau 1983 im Grand Palais in Paris.
Archiv: Kunst

Musik

Einen bewusstseinserweiternden und von Grenzerfahrungen durchsetzten Trip hat Daniel Gerhardt mit Nils Frahms auf ein bewusst intimistisches Setting setzenden Konzertfilm "Tripping with Nils Frahm" letztendlich doch nicht erlebt. Aber immerhin ist dem Freitag-Kritiker über den Wohlklang-Liebling des Prenzlauer Bergs, diesen " besten Langweiler im erweiterten Popbetrieb" doch einiges klar geworden: "Süßer Schmerz tropft aus seinen Melodien, Aufbau und Wendungen seiner Stücke rufen bewährte Effekte ab. Menschen hören ihn, weil er Wehmut und Spektakel in ungefährlichen Verhältnissen portioniert. Frahm ist nicht der Trip, sondern der Notfallkontakt." Doch sieht Frahms von allerlei aufgetürmten Gerätschaften umsäumte "spannender aus, als sie klingt. Womöglich liegt darin auch ihr Reiz für das Publikum begründet. ... Nüchterner Erkenntnisgewinn nach 90 Minuten Tripping with Nils Frahm: Wo Hipster und Biedermeier das Gleiche wollen, baut dieser Mann seine Maschinen auf."

Die NZZ hat Eleonore Bünings Rückschau auf das Beethoven-Jahr 2020 online nachgereicht. Die Kritikerin, deren eigenes Buch über Beethoven mit etwas Vorlauf zum Jubeljahr erschienen ist, sieht vor allem viel Menschelei am Werk: Es wird "gelächelt. Egal, wie die Wetterlage auch wird: Siebenhundert zwergengroße Beethoven-Figuren aus Kunststoff, mit denen der Event-Künstler Ottmar Hörl den Bonner Münsterplatz bevölkert hatte, grinsen jetzt in den Schaufenstern und Vorgärten der stolzen Geburtsstadt um die Wette. Die Stieler-Beethoven-Parodie, welche Nigel Buchanan für den Titel des Spiegel-Magazins entworfen hat, blickt nicht erhaben über uns hinweg - sie lächelt uns influencer-mäßig an, offenherzig, wie unser aller beste Freundin aus dem Shopping-Kanal. ... Und der deutsche Schirmherr des Beethoven-Jahres 2020, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (oder vielmehr: sein Redenschreiber), vernahm in den Anfangstakten der 5. Sinfonie wieder einmal das 'Herzklopfen der Freiheit', obgleich doch hier nur eine Chiffre aus der barocken Figurenlehre herbeizitiert wird, die vor Beethoven schon viele andere verwendet hatten."

Dass das mit dem Komponistentitan und den Medien des Jahres 2020 nichts hat werden können, rechnet uns - online nachgereicht - auch Christian Wildhagen in der NZZ vor: "Hat man denn allen Ernstes geglaubt, dieser kantige und widerborstige Solitär, der seit gut zweihundert Jahren die Musikgeschichte überstrahlt, ließe sich so mir nichts, dir nichts von der Verwertungsmaschinerie unseres medialen Zeitalters vereinnahmen? Ausgerechnet er, der Unbequeme, der bevorzugt mit überlebten Konventionen brach?"

Weitere Artikel: In der SZ-Reihe mit Kulturschaffenden über ihre Lage in der Coronakrise sinniert heute Rammstein-Keyboarder Flake über die Schönheit Berlins in den frühen Morgenstunden und die Routine im Studio. Amira Ben Saoud plaudert im Standard mit dem Elekro-Musiker und Krimi-Autor Christopher Just. Andrian Kreye schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Countrymusiker Charley Pride. Einer seiner vielen Nummer-Eins-Hits war dieser hier:



Besprochen werden Adrianne Lenkers "Songs & Instrumentals" (FAZ) und Été Larges Aufname "When the Birds Upraise Their Choir" mit einer Komposition von Luise Volkmann (Zeit).
Archiv: Musik