Efeu - Die Kulturrundschau

Der hässliche Aschenbecher

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16.12.2020. im Guardian erklärt die Bildhauerin Maggi Hambling, warum ihre Mary Wollstonecraft nackt sein musste. Der Standard lässt sich von Hans Werner Henze zum Tee mit einem Mörder laden. Die Marktkirche von Hannover darf sich ein Fenster von Markus Lüpertz gestalten lassen, die SZ erinnert an all die Architekten, die Veränderungen an ihren Bauten als Gotteslästerung begriffen. Die FAZ huldigt Beethoven.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.12.2020 finden Sie hier

Kunst

Bei einem Treffen mit Guardian-Autor Stuart Jeffries verteidigt die Künstlerin Maggi Hambling die Nacktheit ihrer Skulptur von Mary Wollstonecraft gegen ihre feministische Kritikerinnen: "'Die Figur muss nackt sein, denn Kleider definieren Menschen', sagt sie: 'Zieht man jemandem ein Tweedjackett an, hat man gleich ein Pferd vor Augen, zieht man jemandem historische Kleider an, ist der sofort Geschichte. Das wollte ich bei ihr nicht. Ich wollte, den Geist von Mary Wollstonecraft einfangen und ihren Kampf für die Frauenrechte. Es ist ein Kampf, der andauert und deshalb muss die Figur eine Herausforderung darstellen.'" Außerdem stimme es auch nicht, dass Männer immer angezogen geehrt werden: "Maggie Hambling zählt prompt ihre Lieblingspenisse in der Bildhauerei auf: 'Der Parthenon-Fries. Michelangelos David. Und Shelley, auch wenn seiner eher klein ist.' Sie meint das Shelley-Denkmal in Oxford, mit dem Edward Onslow Ford den toten Körper des ertrunkenen Poeten darstellte. Sie nimmt einen Zug von ihrer Zigarette, stößt den Rauch aus und kichert."

Weiteres: Monopol empfiehlt einen Ausflug nach Bregenz. Dort hat das Kunsthaus wieder geöffnet und zeigt die Märchenwelt, mit der Ashley Hans Scheirl und Jakob Lena Knebl die Hexen und Geistern der Malereigeschichte wiederbeleben.
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Architektur

Die Erben des Architekten Dieter Oesterlen wollten der Marktkirche in Hannover verbieten, ein Kirchenfenster von Markus Lüpertz gestalten zu lassen, weil dies Oesterlens reduktionistischem Wiederaufbau widersprochen hätte. Zum Glück hat das Landgericht Hannover die Architektenerben in die Schranken verwiesen, meint Gerhard Matzig in der SZ: "Die jüngere Baugeschichte ist voller Architekten, zumeist Männern, die jedwede Veränderung am Bauwerk als satanisch abtun und notfalls auch gerichtlich dagegen vorgehen. Richard Meier hat statt eines Tintenfasses nach dem Teufel einmal einen Aschenbecher nach seiner Mutter geworfen. Der hässliche Aschenbecher, ausgesucht von der Mutter, beeinträchtige das von Meier entworfene Haus als Gesamtkunstwerk. Oder Norman Foster: Der wollte auch Grünpflanzen und ein paar Sofas im nach Foster-Plänen umgestalteten Reichstag per Gerichtsurteil verbieten lassen."

Der Standard meldet zudem, dass das österreichische Außenimisterium noch einmal prüft, ob Coop Himmelb(l)au mit seinem geplanten Opernbau in Sewastopol auf der annektierten Krim gegen die EU-Sanktionen verstößt.
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Bühne

Henzes "Das verratene Meer" nach Yukio Mishima. Foto: Wiener Staatsoper

Nach der Streaming-Premiere von Hans Werner Henzes Oper "Das verratene Meer" vermisst Ljubisa Tosic im Standard zwar den "obligaten Fight zwischen Applaus und Buhs" im Publikum, aber eigentlich kam er bei dieser Produktion der Wiener Staatsoper mit Simone Young als Dirigentin auf seine Kosten. Erzählt wird - nach dem Roman von Yukio Mishima - die Geschichte eines freundlichen Seebärs, der nach seiner Heirat vom Stiefsohn gehasst wird: "Die so dichte wie poetische Partitur ist mit ihrer distinguierten Nervosität der Hauptdarsteller des Werks. Das hochkarätige Ensemble vermag die orchestrale Energie allerdings jederzeit hörbar aufzugreifen: Packend und zugleich lyrisch-glanzvoll Vera-Lotte Boecker als Boutiquenbesitzerin Mutter Fusako, die am Ende als Nervenbündel erscheint. Sie wirkt, als würde sie ahnen, dass ihr Neogatte gerade mit seinen Mördern Tee trinkt."

Besprochen wird Calixto Bieitos Berliner "Lohengrin"-Inszeneirung, der Reinhard Brembeck in der SZ eine "ungewöhnlichen Ernsthaftigkeit und Spielfreude" attestiert.
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Film

Besprochen werden Steve McQueens "Small Axe" aus seinem Filmzyklus über das Leben der afrokaribischen Community im London der Siebziger und Achtziger (ZeitOnline), die Serie "Ein guter Mensch" (taz), Lisa Charlotte Friederichs "Live" (SZ) und die Serie "The Wilds" (Presse).
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Stichwörter: Mcqueen, Steve

Literatur

Für den Tagesspiegel porträtiert Gunda Bartels den Illustrator Henrik Schrat, der gerade die gesammelten Märchen der Brüder Grimm illustriert. In der FAZ gratuliert Gina Thomas der Schriftstellerin Edna O'Brien zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Jens Malte Fischers Biografie über Karl Kraus (Standard), die Werkausgabe des Horror-Pioniers Arthur Machen (taz), Jonas Eikas "Nach der Sonne" (Jungle World), ein Gesprächsband von Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre (online nachgereicht von der FAS), Marie T. Martins Lyrikband "Rückruf" (Tagesspiegel), Nathaniel Richs New-Orleans-Krimi "King Zeno" (Tagesspiegel) und Kathrin Rögglas Essay "Bauernkriegspanorama" (SZ).
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Musik

Keine Experimente: Ludwig van Beethoven, "wahrscheinlich" heute vor 250 Jahren geboren.

Die FAZ kennt heute nur Beethoven, der morgen vor 250 Jahren getauft wurde, was in Ermangelung eines konkreten Datums als Beethovens Geburtstag gefeiert wird - dass Beethoven heute vor 250 Jahren geboren wurde, sieht Brachmann im Editorial daher als "wahrscheinlich" an. Er würdigt den Komponisten als Streiter für die Kunst, bezweifelt aber, dass Beethoven der große Humanist und Revolutionär war, als der er gerne in Anspruch genommen wird. Vor allem aber war Beethoven für Brachmann der große Vereinfacher: Die Experimente seiner Kollegen habe er zwar "verfolgt und zum Teil reflektiert, doch gelegen war ihm daran, wortlose Diskurse zu gestalten, die nachvollziehbar blieben und zur Beteiligung einluden. Das bedeutete, dass er Motive und Verläufe vereinfachen, plastischer gestalten und aus privatbiografischen Kontexten lösen musste. Sein Anliegen war ein diskurspädagogisches: Teilhabebefähigung der Hörer, Teilhabeerweiterung der Musik. Da durfte das Experiment kein Selbstzweck sein. 'Immer einfacher werden', schrieb er sich selbst als Mahnung in die Skizzen zur neunten Symphonie."

Clemens Haustein sucht in der Sammlung Alexander Melnikov den fürs Beethoven-Spiel am besten geeigneten historischen Flügel. Am besten eignet sich, erfährt Haustein vom Sammler, ein Flügel, "der eine Entwicklungsstufe später gebaut wurde als zur Entstehungszeit des Werkes üblich, schlägt Melnikov vor. So ließen sich die Überforderungen abfedern, die der visionäre Komponist seinem jeweiligen Instrument auflastete. Und man habe sich doch nicht zu weit von der materiellen Basis entfernt, von der Beethoven ausging." Hier spielt Melnikov selbst auf seinen historischen Instrumenten:



Außerdem aus dem Beethoven-Schwerpunkt der FAZ: Malte Boecker dankt dem Geiger Joseph Joachim, der seinen Starruhm im 19. Jahrhundert in den Dienst des zu verfallen drohenden Beethoven-Hauses in Bonn gestellt hat. Insbesondere Russland pflegt Beethovens Musik, weiß Kerstin Holm. Die Frage, ob Beethoven weinkrank war, beschäftigt Daniel Deckers. Jan Brachmann ist ins belgische Mechelen gereist, wo der Name "van Beethoven" herstammt. Andreas Platthaus spricht mit dem Leipziger Gewandhausdirektor Andreas Schulz über die Corona-Trübnis, die es verhindert, Beethoven an seinem Ehrentag mit einem Konzert zu ehren. Bernhard Richter und Claudia Spahn schreiben über die Hoffnungen, die Beethoven seiner fortschreitenden Taubheit wegen auf die Medizin gesetzt hat (einen digitalen Band zum Thema haben die beiden Mediziner im übrigen auch veröffentlicht).

Aus anderen Medien: Judith von Sternburg spricht in der FR mit dem Beethoven-Biografen Jan Caeyers. Frederik Hanssen blickt für den Tagesspiegel zurück, was das Beethoven-Jahr 2020 an neuen Erkenntnissen gebracht hat - auf die im Vorfeld vollmundig angekündigte, per Algorithmus fertig komponierte Zehnte musste man bislang jedenfalls verzichten. Im Standard bespricht Karin Krichmayr Mikael Ross' biografischen Comic über Beethoven.

Weiteres: Im Tagesspiegel spricht Katja Schwemmers mit Jane Birkin. In der taz gratuliert Julian Weber Patti Smith zum Erhalt des Beethovenpreises 2020. Besprochen werden die Compilation "Café Exil - New Adventures In European Music 1972-1980" mit Musik, die David Bowie in Iggy Pop in ihrer Berliner Zeit gehört haben könnten (Tagesspiegel, SZ), ein neues Album von Boomtown (NZZ) und ein neues Solo-Album von Paul McCartney (Welt).
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