Efeu - Die Kulturrundschau

Alles leuchtet verlockend

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30.12.2020. Der Modeschöpfer Pierre Cardin ist tot. Die Zeitungen verabschieden einen Pionier, der die Demokratie in die Mode brachte. ZeitOnline erinnert an die türkische Dichterin Semra Ertan, die sich 1982 aus Protest gegen den Rassismus nach Verlesen eines ihres Gedichte in Hamburg auf offener Straße umbrachte. Die FR sieht in Pete Docters Pixar-Produktionen "Soul" pastellenen Künstlerträumen beim Platzen zu. Und die New York Times nippt an den Körperflüssigkeiten von Ulay.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.12.2020 finden Sie hier

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Der Modeschöpfer Pierre Cardin ist tot. Mit seinen futuristischen Entwürfen "brachte er die Zukunft in die Mode", schreibt Marion Löhndorf in der NZZ. "Seine Kleider um- und verhüllten ihre Trägerinnen mit geraden oder symmetrischen, oft dreidimensional in den Raum ragenden Schnitten und starken geometrischen Mustern. Sie gaben den Körpern einen technologischen Zug. Ihr Ideal war, so wenigstens sah es von außen aus, die Maschine. ... Eine seiner wegweisenden Kollektionen trug 1964 den Titel 'Cosmocorps'. Plastikreifen und überdimensionale Capes, fluoreszierende Bodysuits und Hüte, die nur die Augen der Models freiließen, gehörten zu seinen Mode-Ideen, die er in Materialien wie Spandex und Plastik ausführen ließ."

Cardin war nicht zuletzt auch Geschäftsmann, ein Pionier des Prêt-à-Porter, schreibt Jan Kedves in der SZ: "Dass Mode etwas Elitäres haben muss, fand er gar nicht, im Gegenteil: Er erlaubte Firmen, sogar Bratpfannen mit seinem Signet zu verkaufen. Für ihn war das eine Demokratisierung der Mode und eine Beglückung der Menschen, die er aus Traditionen und Abhängigkeiten befreien wollte." So "entwarf er praktische Mode für die moderne, emanzipierte, berufstätige Frau, die um ihre Unabhängigkeit kämpft, die mobil ist, die Auto fährt. Das heißt: Leggins, Plexiglas-Visiere, minikurze Röcke. Elegant, aber nicht kompliziert."

Das ZeitMagazin spendiert eine Bilderstrecke. Viele weitere Bilder liefert Cardins offizieller Instagram-Account. Unter anderem sehen wir ihn dort in Buzz Aldrins Raumanzug, den er als erster Zivilist trug:

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Archiv: Design

Literatur

Leyla Sophie Gleissner erinnert auf ZeitOnline an die türkische Dichterin Semra Ertan, die sich 1982 nach dem Verlesen eines ihres Gedichte aus antirassistischem Protest in Hamburg auf offener Straße umbrachte. Mit "Mein Name ist Ausländer" sind ihre Arbeiten nun erstmals in einer eigenständigen, um biografisches Material ergänzten Publikation veröffentlicht worden. Der Titel des Bandes ist Programm: Ertan "lehrt, dass namenlos zu werden heißt, in gewisser Weise nicht existieren zu dürfen - zumindest nicht schreibend. Denn für das Schreiben braucht es, anders als häufig angenommen, mehr als Stift und Papier. Es braucht jemanden, an die man sich adressiert, eine, mit der man sich beim Schreiben unterhält und die zuhört. Das kann ein einzelnes Paar Ohren sein, oder, wenn man Glück hat, gleich eine ganze Gesellschaft."

Bereits im Juli ist ruth weiss gestorben, die sich bewusst klein schrieb, 1928 in Berlin geboren wurde, mit ihren Eltern 1933 vor den Nazis floh und später dann den Beatniks kräftig Anschubhilfe verpasste. Das Vergessenwerden habe diese ewige Außenseiterin und Wiederentdeckte schon hinter sich, schreibt Benno Schirrmeister in der taz, der sich an Kinnladen nach unten klappende Rezitationen erinnert, mit "Wortinjektionen, wie Sinnsprüche, komplex verwoben in ein großes epigrammatisches Reticulum, das wuchert, wie improvisiert, neue Knospen bildet, unerwartet, nach überall hin offen, wie das Universum, in Versen, deren Rhythmus die Instrumente sanft berührt und vorandrängt, und deren Swing sie weckt und zum Klingen zwingt."

Außerdem: Marie Schmidt liest für die SZ die neue Ausgabe der Zeitrschrift Text+Kritik, die der Feuilletonistin Gabriele Tergit gewidmet ist. In der Welt wirft Tilman Krause vorab einen Blick aufs literarische Jahr 2021, das gleich vier Jubilare aufweist: Heinrich Mann (150. Geburtstag und 70. Todestag), Gustave Flaubert (200. Geburtstag), Fjodor Dostojeweski (200. Geburtstag) und Marcel Proust (150. Geburtstag).

Besprochen werden unter anderem Ralph Hammerthalers "Kosovos Töchter" (taz), Darcy van Poelgeests und Ian Bertrams Science-Fiction-Comic "Little Bird" (Tagesspiegel), Jan Koneffkes "Die Tsantsa-Memoiren" (FR)  und Ingeborg Villingers Biografie über Gretha Jünger (FAZ).
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Kunst

Bild: Ulay, Water for the Dead Them Family Portrait, 1992, polaroid polacolor, Frankfurt, studio 80 x 58 cm. Courtesy ULAY Foundation.

Gemeinsam mit seiner Frau Lena Pislak und der Direktorin der Ulay-Stiftung, Hana Ostan Ozbolt, wirkte Ulay noch bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr an der großen, derzeit geschlossenen Retrospektive im Amsterdamer Stedelijk Museum mit, weiß Nina Siegal in der New York Times, die hier weit mehr als den Lebenspartner von Marina Abramovic kennenlernt: "In den frühen 1990er Jahren kehrte Ulay zur fotografischen Arbeit zurück, um sogenannte 'Fotogramme' zu produzieren. Dafür verwandelt er einen Galerieraum in eine Art Dunkelkammer, legt ein Stück lichtempfindliches Papier auf den Boden, bittet Probanden, sich auf das Papier zu legen, und flutet den Raum dann kurz mit Licht. Sein 2012 entstandenes 'Sweet Water Salt Water' ist eine Serie von Polaroids eigener Körperflüssigkeiten, wie Tränen und Schweiß, in Trinkgläsern. Er sammelte sie, während er sich einer Behandlung wegen Lymphdrüsenkrebs unterzog, von dem er 2011 erfuhr."

Weiteres: Im Standard berichtet Olga Kronsteiner von einem absurden Streit um pornografische Arbeiten von Arnulf Rainer: Seine Frau, vor der Rainer die Arbeiten aus Sorge, sie werde eifersüchtig, versteckte, behauptet nun, es handle sich um Fälschungen. Für die taz spaziert Katrin Bettina Müller durch Schöneberg und Mitte zum Jugendmuseum, der Klosterruine und dem Humboldt Forum, wo sie schließlich ein "preußisches Hochgefühl" ergreift. In der FAZ gratuliert Stefan Trinks dem Maler Imi Knoebel zum Achtzigsten. Besprochen wird der in der Edition Fondation Cartier erschienene Bildband "Rural" mit Fotografien des ländlichen Frankreichs von Raymond Depardon (taz).
Archiv: Kunst

Musik

Im FAZ-Gespräch blickt Michael Traub, der Manager des hr-Sinfonieorchesters, auf das zurückliegende Horrorjahr 2020 und dessen Herausforderungen zurück. Gerald Felber schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Komponisten Paul-Heinz Dittrich. Die SZ-Popkritiker rufen ihre Lieblingsalben des Jahres aus. Besprochen wird eine CD-Ausgabe mit Aufnahmen des Perkussionisten Erwin Ditzner (FR).
Archiv: Musik
Stichwörter: Popkritik

Film

Alles ist erleuchtet: der neue Pixar-Film "Soul" (Disney)

Bitter findet es FR-Kritiker Daniel Kothenschulte, dass mit Pete Docters neuer Pixar-Produktion "Soul" jetzt ein Film in den Nischen der Onlinevideotheken seine Premiere feiert, der unter normalen Bedingungen zweifellos das ganze Kinojahr gekrönt hätte: In Cannes, wo er wohl leicht die Goldene Palme gewonnen hätte, wäre er gelaufen, jetzt bleibt nur die Online-Nische: "Wie viele haben in diesem Jahr ihre lange erarbeiteten Kinoträume begraben müssen? Und tatsächlich, welch traurig-schöne Ironie dabei: Genau davon handelt dieser Film - von lebenslang gehegten Künstlerträumen, die von einem Augenblick auf den Nächsten zerplatzen können." Denn die Hauptfigur - ein New Yorker Musiklehrer - stirbt unversehens und landet dort, wo man die Seelen der Zukunft fürs irdische Dasein wappnet und zwar "in einer wahren Bildungslandschaft mit neoklassizistischen Pavillons. ... Alles leuchtet verlockend in pastellenen Neonfarben, besonders die Geister großer Geistesgrößen."

Mit einem großen Essay für das Blog Eskalierende Träume würdigt André Malberg die Zusammenarbeit des Regisseurs Alfred Vohrer und des Komponisten Peter Thomas im Winnetou- und Wallace-Kino der 60er - beide zwei Verrückte ihres Fachs, die mit irrem Witz an ihre Arbeit gingen. Dabei stößt Malberg auch auf "Der Hund von Blackwood Castle" von 1968, ein "Prunkstück humoristischer Avantgarde", das "den treibenden musikalischen Groove endgültig über interne Logik hinaus in die Welt einstürzender Kulissen, Kinoillusionen und von Decken plumpsender Plastikskelette übersteigert." Mit Helge Schneider im Geiste verwandt, "versteift sich dieses Unikat schelmisch auf dekonstruktivistischen Brachialhumor, der allen make believe sperrangelweit aufsprengt. Thomas' Musik leistet dabei treffliche Schützenhilfe: Sie ist fiepende Störfrequenz, ein schamlos anspukendes Heulen." Wir hören rein:



Weitere Artikel:  Kathleen Hildebrand spricht für die SZ mit Arte-Filmchef Andreas Schreitmüller, der nach fast 30 Jahren beim deutsch-französischen Kultursender in Rente geht. Rainer Knepperges spendiert uns auf New Filmkritik (allerdings schon vor ein paar Tagen) eine neue Lieferung seiner Collagen-Essayreihe "Auge und Umkreis". Das BFI blickt zurück auf die Filmschaffenden, die 2020 gestorben sind. Besprochen werden ein Arte-Porträt über Frank Capra (FR) und die Netflix-Serie "Bridgerton" (Welt, FAZ).
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Bühne

In der Neuen Musikzeitung reist Dieter David Scholz mit dem von Christian Bührle, Markus Kiesel und Joachim Müller herausgegebenen Prachtband "Prachtgemäuer" zu Wohn- und Wirkungsstätten Richard Wagners in Zürich, Luzern, Tribschen und Venedig. Die nachtkritik streamt "Complete Works: Table Top Shakespeare: At Home" der britischen Künstlerguppe Forced Entertainment heute ab 18 Uhr. Besprochen wird das pünktlich zum heutigen Todestag von Heiner Müller von Frank M. Raddatz herausgegebene Müller-Lexikon "Der amerikanische Leviathan", in dem Standard-Kritiker Ronald Pohl lernt, dass der Dramatiker bereits die "ökologische Wende" im Blick hatte.
Archiv: Bühne

Architektur

Narkomfin-Haus. Quelle:Wikipedia Ludvig14 - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0. 

In der FAZ atmet Kerstin Holm auf: In Moskau werden jährlich zahlreiche Baudenkmäler abgerissen, das von dem Avantgarde-Architekten Moisey Ginzburg in den Zwanzigern für das für das sowjetische Finanzministerium entworfene Narkomfin-Kommunehaus ist nun allerdings originalgetreu von dessen Enkel Alexey Ginzburg renoviert worden: "Nach den Säuberungen (…) und nach der Kriegs- und Nachkriegszeit zogen unter Nikita Chruschtschow neue Bewohner ins Narkomfin-Haus, die dort Kommunalwohnungen einrichteten und es durch Umbauten entstellten. Die schwarzen Rundpfeiler, auf denen der Baukörper ruht, wurden durch Lagerschuppen im Erdgeschoss unsichtbar gemacht, am Gemeinschaftsflügel verschwand die untere Hälfte der Glasfront, in die Halle wurden zusätzliche Etagen eingezogen. Die Bausubstanz verkam. In den neunziger Jahren war der Beton durch Wasserschäden fleckig, Rohre und Leitungen lagen blank, die Wände bröckelten, in den Rissen wucherte Unkraut. Aber während westliche Architekten Alarm schlugen und verlangten, die Ikone zu retten, schien die Moskauer Stadtverwaltung abwarten zu wollen, bis das Gebäude unrettbar verloren wäre, um das Grundstück lukrativ neu zu bebauen."
Archiv: Architektur