Efeu - Die Kulturrundschau

Endlich von den Menschen befreit

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31.12.2020. Für die Kultur endet ein hartes Jahr: "Das Theater und die Oper in Italien sterben", sagt der Regisseur Romeo Castellucci in der taz. Aber die arabische Lyrik blüht in Zeiten der Pandemie, hält die NZZ fest. Die taz geht mit Filmen von Philip Scheffner in den poetischen Widerstand. Ebenfalls in der taz erinnert sich Jane Birkin an alte Skandale und einen schüchternen Serge Gainsbourg. Und die SZ träumt von einem autofreien Times Square.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.12.2020 finden Sie hier

Bühne

Für die taz hat Astrid Kaminski bei Kulturschaffenden aus Italien, Berlin und Bangkok nachgehört, wie sie das Coronajahr überstanden haben. "Das Theater und die Oper in Italien sterben", sagt der Regisseur Romeo Castellucci: "Die Künstler und Künstlerinnen, vor allem die jungen, wurden von der Politik aufgegeben, es gibt überhaupt keinen Schutz für sie. Es ist zudem beinahe unmöglich, einen Generationswechsel in den Institutionen zu vollziehen. Die Hürden für die Jüngeren sind viel zu hoch. Eine Förderung zu bekommen ist so gut wie unmöglich. Es gibt in der Politik - sowohl der rechten wie der linken Parteien - kein Bewusstsein für die Kunst des Theaters. Sie ist ein Tauschwert. Direktionsposten werden als politische Geste vergeben, nicht aufgrund künstlerischer Expertise. Das Theater und die Oper in Italien sterben. Und das in einem Land, in dem es in jedem Dorf ein Operntheater gab! Die Scala wird überleben, das war's. Dieser Prozess war schon im Gange, Corona hat ihn beschleunigt. Wir erleben einen künstlerischen Exodus."

Im lettischen Riga soll - auch mit Geld aus Deutschland - ein neues Festspiel-Haus entstehen, meldet Thomas A. Herrig im Tagesspiegel. Immerhin trat hier Richard Wagner seine erste Dirigentenstelle an: "Die Zeit in Riga war für Wagner prägend, besonders im Hinblick auf die Idee vom Gesamtkunstwerk und den späteren Bau seines Festspielhauses in Bayreuth: Ansteigende Anordnung der Sitzplätze, vertiefter Orchestergraben, Halbdunkel im Saal - das sind nur einige der architektonisch-theatralen Gestaltungsprinzipien, die er hier zu schätzen lernte. Doch bevor ihm 1842 mit seiner Oper 'Rienzi, der letzte der Tribunen' der Durchbruch als Komponist gelang, sah er sich gezwungen, Riga wieder zu verlassen."

Weiteres: Die Nachtkritik resümiert das Theaterjahr 2020 in Zeiten der Pandemie und blickt voraus auf das Theaterjahr 2021.
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Architektur

Quelle: 3deluxe

"Die Stadt ist immer noch der bevorzugte Lebensraum der Automobilität", weiß Gerhard Matzig in der SZ und träumt mit der Architektur, Innenarchitektur und Design verbindenden Wiesbadener Designagentur "3deluxe" ein bisschen von der autofreien Innenstadt. Warum nicht direkt mit dem New Yorker Times Square loslegen? "Das Bild vom Times Square, einmal mit Autos wie bekannt, einmal ohne Autos, ist das Wimmelbild der Stunde. Es illustriert, wie von Ali Mitgutsch und M.C. Escher inspiriert, eine ferne Welt, die heiter bevölkert wird von Fußgängern, Bikern, Skatern und Rollern. Von Fitnesssüchtigen und Parkplatzbankhedonisten. Von Gehenden, Laufenden, Stehenden, Sitzenden. Von Kunst und Kommerz - und vor allem: von sehr viel Grün im Asphaltgrau der verdichtet überhitzten Hotspots, die die Städte mittlerweile geworden sind. Das Bild ist das Bild zu einer bemerkenswerten Urbanismusdebatte. Smarte Autos kann man sich auch darin vorstellen."

Weiteres: In der NZZ schreibt Gabriele Detterer einen Nachruf auf den im Alter von 88 Jahren an den Folgen einer Corona-Infektion gestorbenen Architekten Luigi Snozzi, der zu den Erneuerern der Tessiner Architektur gehörte.
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Film

Die Berliner Zeitung druckt einen von Jim Quilty für das Goethe-Institut verfassten Text über das Metropolis Art Cinema in Beirut, das nicht nur mit der Finanzkrise des Landes, der Corona-Pandemie und den Folgen der großen Explosion im Hafen der Stadt im August zu kämpfen hat, sondern auch damit, dass zuvor bereits eine Kinokette die Räumlichkeiten aufgekündigt hatte, in denen das Kino sein Programm zeigt. Die Betreiberin Hania Mroué reagiert mit einer mobilen Aufführstrategie: "Während der Solidaritätsfonds des Libanons Mittel für eine einjährige Unterstützung des Kernteams der Stiftung zur Verfügung stellt, ermöglichte der Internationale Hilfsfonds, die Ausrüstung anzuschaffen, die zur Umsetzung des neuen mobilen Kinoprojekts 'Metropolis on Wheels' benötigt wurde. ... Nun kommt es darauf an, das Metropolis vom klassischen Kinobetrieb zu wesentlich flexibleren Vorführungsmethoden umzurüsten. 'Die Tatsache, dass wir derzeit keinen Veranstaltungsort in Beirut haben, ist auch eine Chance, neue Regionen zu erkunden', sagt Mroué. 'Wir wollen Vorführungen in den Vierteln Beiruts veranstalten, wo die Leute sonst nicht unbedingt ins Kino gehen.'"

"Revision" von Philip Scheffner

Zurück im Lockdown-Online-Modus: Das Berliner Kino Arsenal zeigt in seinem virtuellen Saal 3 im Januar eine Retrospektive mit den Essayfilmen Philip Scheffners, die uns Ekkehard Knörer in der taz sehr ans Herz legt: Filme wie "Havarie" (unsere Kritik), "Revision" (unsere Kritik) oder "Der Tag des Spatzen" (unsere Kritik) "verdanken sich stets einer Suchbewegung, gründlicher, oft jahrelanger Recherche. Es ist zu Beginn immer offen, was herauskommen, wie die Sache ausgehen, was sich an Sachverhalten, an geklärten, aber auch an ungeklärten Fragen ergeben wird. ... Scheffner hält nicht allein die Funde, sondern ebenfalls die Irrwege fest. Es liegt darin ein Beharren auf der Komplexität der Verhältnisse und ein nicht zuletzt poetischer Widerstand gegen das politische Thesenstück. So konzeptuell genau und geschlossen die Filme stets gearbeitet sind: Die Wunden, von denen sie handeln, lassen sie offen und lassen darum die, die sie sehen, auf Dauer nicht los."

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel hat Lena Schneider die Schriftstellerin Christa Kozik besucht, die neben vielen Kinderbüchern in der DDR auch zahlreiche DEFA-Drehbücher verfasst hat. Rückblickend fühlt sich dieses Coronajahr 2020 so an, als sei man George Clooney in "Up in the Air" (unsere Kritik von vor zehn Jahren), meint Dirk Peitz auf ZeitOnline. Urs Bühler erklärt in der NZZ, warum der deutsche Silvester-Dauerbrenner "Dinner for One" gerade in diesem Jahr einen ganz besonders sinnvollen Jahresabschluss darstellt. Die SZ-Kritikerinnen und -Kritiker küren ihre "Magic Moments" des Filmjahrs 2020. Besprochen wird George Clooneys "The Midnight Sky" (Freitag, FAZ).
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Kunst

Gemeinsam mit der deutschen Künstlerin Michaela Rotsch plant der irakische Künstler Kadir Fadhel ein "Zentrum für Turbulenzforschung" in der Innenstadt Bagdads - mit dem Ziel vor Ort eine künstlerische Vorstellung von Stadt zu schaffen, schreibt Marina Klimchuk in der taz: "Bewohner*innen und Studierende der Universität am Ort werden in einem mobilen Glaskubus in der Innenstadt Bilder für Rohstoffe, die ihnen fehlen - oder Elektrizität - zusammentragen. Diese sollen dann künstlerisch weiterverarbeitet werden. Langfristig ist 'Turbulenzforschung' als künstlerisches Projekt gedacht, das Bagdad prozesshaft aus ganz unterschiedlichen Richtungen erforschen wird. Wie mit Geige und Säge auf dem Tahrirplatz widmen sich Rotsch und Fadhel auch hier der wiederkehrenden Frage: Wie kann Kunst in Bagdad jenseits der Vereinnahmung durch Politik Situationen neu in den Blick nehmen und Handlungsfähigkeit zeigen?"

Weiteres: Im Tagesspiegel gratuliert Christiane Meixner dem Fotografen Jim Rakete zum Siebzigsten und dem Künstler Imi Knoebel zum Achtzigsten. Die Monopol-Redaktion hat ein paar Ausstellungs-Highlights zusammengetragen, die trotz des Corona-Jahres zu sehen waren. Der Guardian wirft einen Blick auf ein kunstreiches Jahr 2021 - mit Ausstellungen unter anderem zu Rodin, Helen Frankenthaler oder Jean Dubuffet.
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Design

Donna Schons schreibt in der taz einen Nachruf auf den Modedesigner Pierre Cardin (weitere Nachrufe hier).
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Stichwörter: Modedesign

Literatur

Nahrain al-Mousawi wirft für die NZZ einen Blick in die arabische Literaturwelt in der Coronapandemie. Einige Autoren tappen zwar in die Schnellschuss-Falle, eine derart umfassende, in ihren Konsequenzen noch nicht ganz fassbare Krise zu frühzeitig in eine literarische Form bringen zu wollen. Aber es gibt Ausnahmen, "insbesondere die Lyrik hat sich auf das Thema eingelassen, denn sie erlaubt einen unmittelbaren Zugriff auf die verwandelte Lebenswelt. So schreibt der ägyptische Dichter Alaa Janib von stillen Geisterstädten, wo 'nur noch die Lampen sprechen', während der Libanese Jaudat Fakhreddin die Straße, an der er wohnt, aufatmen sieht, weil sie endlich von den Menschen befreit ist: 'Die Straße ergeht sich, wie es ihr gefällt / empfängt die Sonne mit offenen Armen / und die Häuser stehen zur Seite / Schatten kränklicher Vorahnung.' Die in den vergangenen Monaten entstandenen Werke vermitteln tiefgreifende Veränderungen - Quarantäne, Isolation, Tod, permanente Verunsicherung - durch Alltagsgeschichten; radikale Existenzbrüche gehen einher mit dem graduelleren Wandel von Lebensumständen und Gewohnheiten."

Weitere Artikel: Alexander Brüggemann erinnert im Tagesspiegel an das Ende von Bill Wattersons meisterlichem "Calvin & Hobbes"-Cartoon vor 25 Jahren (die Verleger des Comics posten auf Twitter übrigens täglich einen Cartoon). In der Welt sucht Mladen Gladic mit Jack Kerouac die Langeweile. Auf Intellectures kürt Thomas Hummitzsch die 20 besten Indie-Bücher des Jahres: Ulrike Almut Sandigs "Monster wie wir" hat ihm in diesem Segment am besten gefallen. Nur im Print der SZ zu finden ist Burkhard Müllers jährliches literarisches Neujahrsrätsel.

Besprochen werden unter anderem Emma Flints "In der Hitze eines Sommers" (FR) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Sheddad Kaid-Salah Ferróns und Eduard Altarribas "Professor Albert und das Abenteuer der Relativitätstheorie" (SZ).
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Musik

Jane Birkin, die gerade ein neues Album veröffentlicht hat, plaudert in der taz unter anderem über alte Skandalzeiten an der Seite ihres damaligen Lebensgefährten Serge Gainsbourg. Dessen Anrüchigkeit war in erster Linie lancierte Fassade, stellt sie klar: "Er schrieb skandalöse Songs wie 'Je t'aime …moi non plus' und machte mit mir gewagte Fotos. Doch er hat weder mich noch andere zu irgendetwas gezwungen. Ich ließ mich gerne nackt fotografieren. ... Serge war ganz bestimmt kein Pädophiler. Er hat Charlotte abgöttisch geliebt und sie mit diesem Lied auf ein Podest gestellt - ohne unzüchtige Hintergedanken. Ich habe Serge stets als einen tadellosen Mann und Vater erlebt. Im Alltag entsprach er überhaupt nicht seinem Krawallmacher-Ruf. Er war eigentlich schüchtern." Ein Stück aus Birkins neuem Album:



Außerdem erklärt das Pitchfork-Team, wie Musik dabei half, dieses verflixte Jahr über die Bühne zu bekommen.
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