Efeu - Die Kulturrundschau

Höchste, fiebrige Intensität

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02.01.2021. Der Tagesspiegel zählt mit der Künstlerin Birgit Brenner die Sekunden zum Weltuntergang runter - und setzt noch schnell den Hund aus. Transhumanismus ist auch keine Alternative, nehmen die TheaterkritikerInnen aus Michael Maertens Soloperformance am Burgtheater mit. In der taz begibt sich Detlef Diederichsen mit der brasilianischen Musikerin Tuca auf eine durchgedrehte Hochgeschwindigkeitsreise. Die Welt will Cesare Paveses Tagebuchnotizen, in denen er den Faschismus verherrlicht, lieber nicht überbewerten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.01.2021 finden Sie hier

Kunst

"Wir sind so nah am Weltuntergang wie nie zuvor", sagt die Künstlerin Birgit Brenner im Gespräch mit Gunda Bartels (Tagesspiegel) mit Blick auf die 1947 eingerichtete "Doomsday Clock", die angesichts der Klimakrise und atomarer Bedrohungen die Gefahr einer globalen Katastrophe anzeigt. Brenner reagiert darauf mit Videoarbeiten und Zeichnungen: "In farbenfroh getuschten Zeichnungen erzählt Brenner in ihrer Paraphrase der biblischen Schöpfungsgeschichte von einer Frau und einem Mann, die aus ihrem Mittelschichtsleben ins Urlaubsparadies flüchten. Zwar nur per Virtual Reality-Brille, aber nicht ohne den Hund vorher an der Straße auszusetzen. Das ist ein Gag in beißender, für Brenner typischer Lakonie. Ebenso wie der Leberkäs mit Spiegelei, auf den Deutsche auch in den Tropen nicht verzichten mögen. Die zweite Erzählebene besteht aus einer mit elektronischen Störgeräuschen unterlegten Computerschrift. Das ist der Social-Bot der Frau und des Mannes, der deren Zukunftsängste und Existenzzweifel stets mit Wohlfühlgesülze wegzureden sucht. Künstliche Intelligenz, Robotik, Überwachungsstaat. Diese Themen gehören ebenfalls zu Brenners Weltuntergangsszenarien."

Bild: Franz von Defregger. Ruhender weiblicher Halbakt, um 1890, Öl auf Leinwand, 48 x 52,5 cm, Privatbesitz © Tiroler Landesmuseen

In der Gründerzeit gefeiert, dann für seine "bäuerlichen Heile-Welt-Szenen" verpönt und schließlich von Hitler postum vereinnahmt - im Standard freut sich Ivona Jelcic, dass der in Tirol geborene Maler Franz von Defregger in der Ausstellung "Mythos - Missbrauch - Moderne" zumindest teilweise rehabilitiert wird. Auch dank bisher unbekannter Werke: "Der Meister der akademischen Feinmalerei überrascht mit einem freien, offenen Pinselstrich, impressionistisch anmutenden Landschaften, weiblichen Akten, Porträts von Menschen aus fernen Kulturen, Bauerngesichtern, denen nicht Stolz, sondern das karge Leben in die Züge modelliert ist. Niemals geht Defregger dabei so weit wie die Avantgardisten seiner Zeit, wie sich in einem der spannendsten Ausstellungskapitel zeigt, in dem seine bäuerlichen Motive neben solchen von Ernst Ludwig Kirchner oder Vincent van Gogh zu sehen sind, deutlich tritt aber sein Hang zum französischen Stil hervor, er dürfte während seines Paris-Aufenthalts 1863 bis 1865 entstanden sein, blieb der Öffentlichkeit aber weitgehend verborgen."

Weiteres: Das Kunstmuseum Bern und das Stedelijk Museum Amsterdam haben gemeinsam die Arbeit "In the World But Don't Know the World" (In der Welt, aber kennst die Welt nicht) von El Anatsui aus Ghana angekauft, meldet Ingeborg Ruthe in der FR und meint: "Dieses Niederländisch-Schweizer Kunst-Sharing könnte Schule machen, das konventionelle und bürokratisch-juristische Denken in engen Besitz-Strukturen erweitern." Auf Seite 3 der SZ berichtet Andrian Kreye von den Protesten der Bewohner des bayerischen Örtchens Pfaffenwinkel gegen das von dem Maler Bernd Zimmer auf einer Wiese geschaffene Gemeinschaftsmuseum "Stoa169", für das zahlreiche KünstlerInnen Säulen geschaffen haben und noch schaffen werden.

Besprochen wird der Fotoband "Rückschaufehler" des Fotografen Eiko Grimberg (taz) und die bisher nur digitale Ausstellung zum Paula-Modersohn-Becker-Kunstpreis (taz).
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Literatur

Dass der italienische Schriftsteller Cesare Pavese in seinen Tagebuchnotizen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs Krieg und Faschismus schwelgerisch verherrlicht, ist zum einen keine neue Erkenntnis, schreibt Thomas Schmid in der Literarischen Welt - schon in den frühen 90ern war darüber gestritten worden. Zum anderen dürfe man diese Passagen auch nicht überbewerten, meint Schmid, bleibt dabei argumentativ aber auch ein bisschen dünn: Denn "Pavese sucht stets die andere Seite", so komme es, dass er in seinen Notizen "seinen antifaschistischen Freunden furios widerspricht", was aber "doch nicht für bare Münze genommen werden darf." Immerhin hat Pavese in seinen Romanen nach dem Krieg "die Atmosphäre, den Geruch der unentschiedenen Zwischenzeit von 1943 bis 1945 besser erfasst als andere Autoren. ... Es gibt keine deutschen Romane, die dem Drama dieser zerrissenen, mit Schuld imprägnierten Zeit so nahe kämen wie die Paveses. Weder von Böll noch von Grass, auch nicht von Andersch."

Außerdem: Schriftstellerin Marlene Streeruwitz meditiert im Standard über den Corona-Massentest, dem sie sich mit vielen anderen unterziehen musste. Der Schriftsteller Lukas Rietzschel leistet in der Literarischen Welt Hilfestellung für das Verfassen eines Romans über eine sächsische Mittelstadt. Im Feature für den Dlf wirft Mario Bandi einen Blick auf das literarische Schaffen Andrej Platonows. Die taz bringt Gedichte von Nail Doğan.

Besprochen werden unter anderem Olga Tokarczuks neuer Erzählband (online nachgereicht von der FAZ), J.K. Rowlings unter dem Pseudonym Robert Galbraith veröffentlichter Krimi "Böses Blut" (SZ), Martin Suters und Benjamin von Stuckrad-Barres Gesprächsband "Alle sind so ernst geworden" (Standard), Gabriele Radeckes und Robert Rauhs "Fontanes Kriegsgefangenschaft" (FR), Werner Hamachers "Studien zu Hölderlin" (online nachgereicht von der FAZ), Kathrin Schmidts Gedichtband "sommerschaums ernte" (FAZ) und Ulrich Webers Biografie über Friedrich Dürrenmatt (Literarische Welt).
Archiv: Literatur

Film

Claudia Tieschky hat sich für die SZ unter freiem Himmel mit Bjarne Mädel getroffen. Den Schauspieler kennt man vor allem als norddeutsch-lakonischen Komiker, jetzt legt er mit der ARD-Filmreihe "Feinde" und dem TV-Krimi "Sörensen hat Angst", den es auch als Hörspiel gibt, eine Offensive mit ernsten Rollen vor - eine "Neuentdeckung", schreibt Tieschky: "Die Szenen und die Figuren in seinen aktuellen Filmen sind härter als früher. Das ist möglicherweise genau deshalb so auffällig, weil man die Mimik seiner anderen Rollen noch im Kopf hat. Es ist, als sei etwas erkaltet und dunkler geworden. Sonne ist da keine, Wärme nur kaum. ... Die Tristesse des Verbrechens, die Tristesse der Einsamkeit unter robusten Menschen. Manchmal wirkt 'Sörensen' wie ein melancholischer französischer Film, nur mit Schafen und Deich."

Weitere Artikel: In der Zeit erinnert Ronald Düker an Charles Bronson, der 2021 100 Jahre alt geworden wäre. Die Serienkritikerinnen und -kritiker von ZeitOnline empfehlen Streaming-Alternativen zu Netflix und Co. Besprochen wird die Serie "Liebe und Anarchie" (Freitag).
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Bühne

Bild: Szene aus "Die Maschine in mir". Foto: Marcella Ruiz Cruz

Besonders viel Lust auf Transhumanismus bekommen die TheaterkritikerInnen nicht nach Michael Maertens Solo-Performance "Die Maschine in mir (Version 1.0)", die das Kasino des Burgtheaters am Silvesterabend als Live-Stream zeigte. Dabei hatte sich Maertens bei dem auf der Reportage "Unsterblich sein" des irischen Journalisten Mark O'Connell basierenden Stück mit auf Tablet-Bildschirmen zugeschaltetem Publikum einiges vorgenommen, seufzt Nachtkritikerin Andrea Heinz, fragt sich dann aber bald, worum es eigentlich geht: "Ist Transhumanismus jetzt eine Möglichkeit, die man ernsthaft bedenken sollte? Sollen wir wirklich glauben, dass wir schon längst am Weg dorthin sind, wie einmal vorgeschlagen wird? Weil wir ja unsere Existenz auf Plattformen wie Facebook oder Twitter 'hochladen'? (…) Dafür erfährt man, wieso man das Theater so vermisst - wenn auch leider in der Negation. Der Abend ist im Grunde Frontalunterricht mit technischen Spielereien, Michael Maertens hat kaum eine Chance, zu spielen. Schmerzlich zeigt sich, was abseits aller hohlen Phrasen von menschlicher Nähe (…) und dem Zauber des Theaters wirklich fehlt, was Theater ausmacht: Schauspieler*innen, die spielen; Menschen, denen man beim Menschsein, beim Leben, Leiden, Fühlen, meinetwegen auch beim Sterben zusehen kann."

Und in der FAZ meint Simon Strauss: "Maertens Performance dauert knapp fünfzig Minuten, und am Ende ist man viel weniger von dem fasziniert, was sie behandelt, als von dem, was ihr fehlt. Da steht ein Schauspieler am Silvesterabend und tut alles dafür, sein Publikum zu erreichen, irgendwie doch eine Reaktion zu bekommen auf sein Spiel. Es ist der verzweifelte Versuch eines Theaterdarstellers, sein Selbstbewusstsein nicht zu verlieren, das von der Wirkung lebt, die er unmittelbar erzeugen kann."

Weiteres: In der Jungle World erinnert Robert Zwarg an die 2014 verstorbene amerikanische Komikerin Joan Rivers, die schon früh in ihren Shows mit Geschlechterrollen und Schönheitsnormen abrechnete. Der Guardian wirft einen Blick auf das Bühnenjahr 2021.
Archiv: Bühne

Musik

Für die taz recherchiert Detlef Diederichsen die Hintergründe zu Tucas in den Siebzigern in Brasilien erschienenen, eher als obskur geltenden Album "Dracula, I Love You", das jetzt - wenngleich offenbar eher zweifelhaft legal - liebevoll wiederveröffentlicht wurde. Zu hören gibt es darauf Abenteuerliches, nämlich "eine durchgedrehte Hochgeschwindigkeitsreise durch etliche Stile, Techniken und Traditionen, kurze Stücke, deren Charakteristik sich immer wieder wandelt, Batucada-Beats, funky Beats, kurze Orchestereinwürfe, ungewöhnliche Harmonien, hyperaktiver Scat-Gesang, leidenschaftliche Balladen, höchste, fiebrige Intensität, Musik, die sofort anzieht, der man aber Zeit geben muss, um wirklich zu verstehen, was da los ist."



Die taz plaudert mit Helge Schneider, der sich alternative Corona-Konzepte für Konzerte auch weiterhin nicht vorstellen kann: "Ich bin schon genug vor Autos aufgetreten. Auf jeder Autobahnraststätte. Aber das macht einfach keinen Spaß. Mein Beruf ist ja abhängig von den Reaktionen des Publikums, weil ich kein Konzert reproduziere, sondern weil ich improvisiere. Bei Leuten mit Maske sehe ich aber keine Reaktion, und deswegen kann ich auch nicht vor Autos auftreten. Obwohl ich Autos ja sehr gut finde. Ich grabe gerne für jemanden einen Garten um. Aber meine Kunst ist keine Dienstleistung."

Weitere Artikel: Den Verlagen klassischer Musik, die wirtschaftlich von Aufführungen abhängig sind, droht eine erhebliche finanzielle Krise, schreibt Max Nyffeler in der FAZ: Da 2020 noch die Tantiemen für 2019 ausgezahlt wurden, wird sich wohl erst 2021 zum handfesten Krisenjahr auswachsen. Im Freitag erinnert Jude Rogers an die Komponistin Wendy Carlos, über die gerade eine englischsprachige, von der Künstlerin allerdings abgelehnte Biografie erschienen ist. Ljubiša Tošic spricht für den Standard mit dem Wiener Pianisten Markus Gottschlich über dessen neue Aufnahmen "Found Sounds". In der SZ schreibt Felix Stephan einen Nachruf auf den Rapper MF Doom. In der FAZ zeichnet Cornelius Dieckmann den Lebensweg des vor 90 Jahren in Berlin geborenen Rock-Impresarios Bill Graham nach. Rainer Praetorius stürzt sich für die "Lange Nacht" des Dlf Kultur in fünf Jahrzehnte Pop- und Rockmusik.

Besprochen werden Alex Ross' Buch "Die Welt nach Wagner" (SZ), das bei Arte online stehende Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker unter Kiril Petrenko (Tagesspiegel) und das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker unter Riccardo Muti (Standard).
Archiv: Musik