Efeu - Die Kulturrundschau

Ausgefuchster Papierkrieg

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18.01.2021. Die Berlinale findet im März erst einmal nur online und fürs Fachpublikum statt. Der Tagesspiegel fragt sich, für wen dann die Presse berichten soll. Die FAZ sieht immerhin Vorteile fürs Klima. Im DlfKultur berichtet Justo Barranco, wie sich die spanischen Theater ihre Wiedereröffnung erstreikten. ZeitOnline bemerkt, dass die Popmusik den Protestbewegungen keinen Sound mehr liefert.SZ und Standard schreiben zum Tod von Musikproduzent Phil Spector. Außerdem feiert die SZ fünfzig Jahre Hot Pants.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.01.2021 finden Sie hier

Film

Ursprünglich hätte die Berlinale am kommenden Mittwoch in der großen Vorab-Pressekonferenz ihr Programm verkündet. In diesem Jahr, mit einem kurzfristig in den März verschobenen Branchen-Online-Event und einem in den Sommer verlegten Freiluftfestival für die Öffentlichkeit, ist alles anders. Ein guter Anlass, generell einmal Größe und Umfang des Festivals kritisch in den Blick zu nehmen, meint Bert Rebhandl in der FAZ: "Angesichts der enormen Flugbewegungen und der entsprechenden Kohlendioxidbilanz, die das Festival alljährlich mit sich bringt, wird man in Zukunft auch aus klimapolitischen Gründen darüber nachdenken müssen, welche Funktionen sich vielleicht anders erfüllen lassen. Der European Film Market in einer gedrängten Online-Version wird sich notgedrungen als entsprechender Probelauf erweisen." In diesem von der Öffentlichkeit abgeschirmten Bereich trifft sich die Industrie zum Rechtehandel und "ist nicht zuletzt eine wichtige Einnahmequelle für die Berlinale. In diesem Jahr muss das alles im Netz stattfinden. Da geht es nun also gerade darum, Mieten für virtuelle Marktstände auszuhandeln, eine digitale Infrastruktur für Podiumsdiskussionen zu finden und die Streams unabgreifbar zu machen."

Unklar war bislang, wie es mit der Presse steht: Wird diese zum Branchenfestival Anfang März ebenfalls geladen sein? Christiane Peitz vom Tagesspiegel hat nachgefragt: Zwar möchte der Leiter Carlo Chatrian das Angebot auch für Medienvertreter öffnen, aber nur "nach Möglichkeit". Es hängt also im Einzelnen von der Zustimmung der Rechteinhaber ab, ob ein Film bereits im März besprochen werden darf. "In den nächsten Tagen, wenn die technischen Voraussetzungen geklärt sind, soll das Presseangebot verbindlich definiert werden. Privileg oder Bürde? Die Medien werden sich Gedanken über den Umgang mit diesem Angebot machen müssen, denn eine Vielzahl von Produktionen zu sichten, die bis auf Weiteres ausschließlich Marktteilnehmer kennen, ist ein Novum für Filmkritiker. Für wen schreibt die Tagespresse? Bestimmt nicht für die Filmeinkäufer und -verkäufer."

Dass die Netflix-Serie "Bridgerton" einige ihrer Figuren am englischen Hofe des 19. Jahrhunderts von Schwarzen spielen lässt, hält Arabella Wintermayr im Freitag lediglich für gut gemeint, letztendlich aber für zynisch und die "plumpe Demonstration vermeintlicher Wokeness. ... Produktionen wie 'Bridgerton' lassen außer Acht, dass der Diversität nicht damit Genüge getan ist, weiße durch schwarze, hetero- durch homosexuelle oder Cis- durch Trans-Figuren zu ersetzen, solange deren individuelle Geschichten nicht erzählt werden."

Weitere Artikel: Kaspar Heinrich wirft für den Tagesspiegel einen Blick ins Programm des online stattfindenden Max-Ophüls-Festivals. Auf critic.de schreibt Robert Wagner einen Nachruf auf den Filmemacher Jürgen Enz.

Besprochen werden Sebastián Muñoz' bei der Edition Salzgeber als VoD zu sehender "Der Prinz" (SZ), Martin Scorseses für Netflix gedrehte Doku-Serie "Pretend it's a City" über Fran Lebowitz (online nachgereicht von der FAZ) und die Serie "The Third Day" (Freitag).
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Bühne

Ausgerechnet das schwer von der Pandemie betroffene Spanien ist europaweit das einzige Land, in dem die Theater weiterhin geöffnet haben. Im Interview mit Janis El-Bira im DlfKultur erzählt der Kulturjournalist Justo Barranco von La Vanguardia, dass dem ein Kampf vorausging: "Im April, also einen Monat nach Beginn der Krise, gab es eine Intervention des ehrlich gesagt etwas unerfahrenen Kulturministers. Der wollte wohl ein bisschen klug daherkommen und zitierte einen Satz von Orson Welles: 'Erst das Leben, dann die Theater und das Kino.' Das war natürlich überhaupt nicht der richtige Moment, das zu sagen. Denn was er meinte, war: Es gibt jetzt kein Geld für die Kultur. Der Kultursektor reagierte darauf mit einem Streik."

Weiteres: Mit der Videoreihe EcosaloonTV bereitet die Nachtkritik auf ihre Livestream-Diskussion zum klimaneutralen Theater vor.
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Stichwörter: Pandemien

Literatur

Im Standard berichtet der Schriftsteller Franzobel von seiner Reise nach Südamerika, wo er sich an die Spuren des Konquistadoren Hernando de Soto heftete, über den er in seinem neuen Roman "Die Eroberung Amerikas" schreibt. Der Schriftsteller Rainer Merkel empfiehlt im Freitext-Blog von ZeitOnline für Coronazeiten das ziellose Umherschweifen nach situationistischem Vorbild. Die Leseplattform Wattpad könnte zum Verkauf stehen, meldet Fridtjof Küchemann in der FAZ. Dlf Kultur und NDR bringen große Literatur-Features zum (morgigen) 100. Geburtstag der Krimi-Autorin Patricia Highsmith.

Besprochen werden unter anderem Julia Decks "Privateigentum" (taz), David Schalkos "Bad Regina" (Tagesspiegel), René Goscinnys Comic-Frühwerk "Valentin" (Tagesspiegel), Julia Phillips' Romandebüt "Das Verschwinden der Erde" (Zeit), Alena Schröders Romandebüt "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid" (Tagesspiegel), Michael Maars "Die Schlange im Wolfspelz" über "das Geheimnis großer Literatur" (NZZ), Lukas Bärfuss' Essayband "Die Krone der Schöpfung" (online nachgereicht von der FAZ), Peter Fabjans "Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard" (SZ) und neue Hörbücher, darunter Fernando Pessoas "Taperecordings eines metaphysischen Ingenieurs" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Mathias Mayer über Friedrich Dürrenmatts "Spielregeln":

"Im Unerbittlichen
fordere nicht Unerfüllbares
..."
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Design

In der SZ gratuliert Tanja Rest den Hot Pants zum Fünfzigsten: Mal galten sie als herabwürdigend, mal als befreiend, schreibt sie, "je nachdem, woher das Wechselwindchen des Zeitgeistes gerade pustet." Doch "eine Neuerfindung waren sie streng betrachtet nicht. Die Dreißigerjahre hatten mit den kurzen Höschen bereits das Showbusiness ausstaffiert (Marlene Dietrich in 'Der blaue Engel') und sie davon abgesehen am Strand und beim Sport verortet. Neu waren 1971 nur zwei Aspekte: der Kontext und die Materialien. Lurex, Stretch-Samt und Strick schmiegten sich um die Pobacken der Damen wie eine zweite Haut (der Reißverschluss saß, um von dieser Attraktion nicht abzulenken, diskret an der Seite). Wie gemacht waren die Höschen damit für den Dance Floor, zierten aber auch die Hintern urlaubender Stars wie Elizabeth Taylor, Raquel Welsh und Jackie Kennedy Onassis."
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Kunst

Im SZ-Interview mit Catrin Lorch fordern die Museumsdirektorin Susanne Gaensheimer und die Sammlerin Julia Stoschek eine Öffnung der Museen, die Gaesnheimer zufolge immerhin Orte seien, an denen die Menschen sich geschützt aufhalten können und die der Reflexion und der Begegnung dienen: "Die Kunst ist ein Gegenüber, das die Ereignisse spiegelt und zum Nachdenken anregt. Das trägt man dann weiter, man spricht darüber mit der Familie, mit Freunden und Kollegen, es bilden sich unterschiedliche Haltungen heraus. Das Museum ist eben wichtig für die Meinungsbildung in einer Demokratie."

Weiteres: Für die Great British Art Tour des Guardian untersucht die Museumskuratorin Katier Herbert das Chiaroscuro von Frank Gascoigne Heath' Gemälde "A Game of Cut-Throat Euchre". Im Standard schreibt Katharina Rustler zum Tod des Künstlers Hans Staudachers, Österreichs wichtigstem Vertreter des Dadaismus und der art informel.
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Stichwörter: Stoschek, Julia

Architektur

Zumindest äußerlich findet Matthias Alexander den Erweiterungsbau der Württembergischen Landesbibliothek sehr gelungen, bei dem die Architekten Lederer Ragnarsdóttir Oei, kurz LRO, mit dem Willen zur Eleganz Stil- und Materialzitate aus verschiedenen Epochen amalgamieren: "Äußerlich ist es ein typisches Werk des Büros, das vor allem südlich der Mainlinie mit etlichen herausragenden Projekten hervorgetreten ist: Es nimmt den Betrachter durch eine wohlproportionierte, abwechslungsreich geschichtete Hauptfassade von subtil gebrochener Symmetrie und kunstvoller Materialkombination für sich ein. Mit dem sägezahnartigen Reihung von acht ganzen und zwei halben Giebeln, den Ochsenaugen des Vortrags- und Ausstellungssaals und den Fenstern der übrigen Geschosse werden die Grundfiguren der Geometrie - Dreieck, Kreis, Rechteck - durchgespielt."
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Musik

Die Protestbewegungen der letzten zehn Jahre haben die Popmusik überholt und diese in ihren Windschatten gestellt, schreibt Tobi Müller auf ZeitOnline: Protest formiert sich heute eher via Social Media, denn über einen eigenen Sound. "Black Lives Matter verfügt zwar über die besten Popverstärker, seit Beyoncé schon 2016 in der Pausenshow des Super Bowl mit BLM Solidarität gezeigt hat. Aber selbst diese Bewegung hat keinen spezifischen Sound hervorgebracht. Pop kann sozialen Bewegungen nur noch hinterherrufen, die Musik hat sich von der Avantgarde zur Derrieregarde entwickelt."

Der Musikproduzent Phil Spector ist im Gefängnis gestorben, offenbar an Covid-19, wie einigen Meldungen zu entnehmen ist. Spector hat so ziemlich alles produziert, was heute Patina in Pop und Rock hat, und dabei den Stil der "Wall of Sound" kreiert. Zweifellos war er "eine der wichtigsten Figuren der Popmusik des 20. Jahrhunderts", schreibt Karl Fluch im Standard. Er "war ein genialer Visionär mit einer schweren Beeinträchtigung auf zwischenmenschlicher Ebene. Das äußerte sich in einem für Amerika oft so typischen Waffenfetischismus, der sein Schicksal besiegeln sollte. Das Gericht sah es 2009 als erwiesen an, dass er die Schauspielerin Lana Clarkson 2003 erschossen hatte." Im Studio war er "ein paranoider Wahnsinniger", der aus Musikern und Gerät das Letzte rausholte, schreibt Willi Winkler in der SZ: "Mehrmals soll er im Lauf seiner jahrzehntelangen Karriere im Studio geschossen haben, wenn die Musiker nicht den Sound zustande brachten, der ihm vorschwebte."

Weitere Artikel: Für britische Musiker ist der Brexit eine Katastrophe, schreibt Hanspeter Künzler in der NZZ: Wer künftig ohne Guerillamethoden - also ohne Visum - aufs europäische Festland kommen und dort Tourneen bestreiten will, darf sich auf empfindliche Mehrkosten und einen ausgefuchsten Papierkrieg gefasst machen, denn für jedes europäische Land gelten fortan eigene Bestimmungen. Für den Tagesspiegel porträtiert Georg Rüdiger die Geigerin Franziska Pietsch. Besprochen werden die Compilation "Café Exil - New Adventures in European Music 1972-1980" mit Musik, die David Bowie und Iggy Pop beim Billardspielen in ihren Berliner Jahren gehört haben könnten (taz), und das neue Album der Sleaford Mods (Tagesspiegel).
Archiv: Musik