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19.01.2021. Die Feuilletons feiern die vor hundert Jahren geborene Patricia Highsmith, die sich die Freiheit nahm, böse zu sein. Der Guardian stöbert beglückt in den Archiven des Fotografen Todd Webb, der in den später fünfziger Jahren Afrika im Aufbruch dokumentierte. Im Kampf gegen Smart-City-Pläne und die Infantilisierung des öffentlichen Raums setzt die FAZ auf das Neue Europäische Bauhaus. Le Monde erinnert an die vergebliche, aber wohltuende Wut des Filmemacher Jean-Pierre Bacri. Die Jungle World genießt Urlaub in Polen.
Heute wäre die Thriller-AutorinPatricia Highsmith 100 Jahre alt geworden. Als Pionierin des Genres, die sich frei machte vom Whodunnit, würdigt sie Jürgen Kaube in der FAZ: "Es gab keine Vorbilder für das, was sie tat." Und "sie nahm sich die Freiheit, bösezusein", schreibt Katharina Granzin in der taz und arbeitet sich zunächst an Highsmiths zwischenmenschlichen Defiziten ab, deren Summe längst Legende ist, bevor sie auf Highsmiths Werke zu spechen kommt: Um zu ihrem "konsequent amoralischen Erzählmodus" zu gelangen, musste Highsmith lange an ihrem Schreiben arbeiten: Wohl auch eine Folge von Highsmiths langer Psychoanalyse, mutmaßt Granzin: Dem Analytiker mag es "nicht gelungen sein, die mit ihrer Sexualität hadernde Jungschriftstellerin zu einer heteronormativen, verheiratetenamerikanischenDurchschnittsfrau zu machen. Aber dass die 'talentierte Miss Highsmith' die Dämonen, die in ihr schlummerten, so weit an die Oberfläche brachte, um literarisch damit spielen zu können, war ein möglicherweise unbeabsichtigter, aber im Nachhinein doch ziemlich segensreicher Nebeneffekt."
Wie Highsmith ihre Dämonen aufs Papier brachte, hat sich Maike Albath für die SZgenauer angesehen: "Highsmith, die eine große Dostojewski- und Kierkegaard-Leserin war, durchleuchtet in jedem ihrer Romane die changierenden Abstufungen von Gut und Böse. Dabei schaut sie aus einer kühlen Halbdistanz auf ihre Figuren, ihre Sprache ist temperiert und präzise, der Wechsel von langsamen Szenen und rasanten Höhepunkten mit äußerster Ökonomie gestaltet, die Aufmerksamkeit für Details wie Schlangenledergürtel, Golfschläger oder Whiskeysorten groß. Und im Untergrund wütet das Begehren. 'Es fällt einem auf, dass das Sexleben alles bestimmt', hielt sie am 28. März 1948 nach einem Besuch in einer Schwulenbar fest."
Weitere Würdigungen verfassen Jan Wilm (NZZ), Nadine Lange (Tagesspiegel) und Gerrit Bartels (Tagesspiegel). Sylvia Staude bespricht in der FR den Storyband "Ladies" mit frühen Kurzgeschichten. Auch die Rundfunkanstalten sind fleißig: Online finden sich beim NDR neben Hörspielbearbeitungen von "Der Junge, der Ripley folgte" und "Der Fremde im Zug" auch ein Radiofeature über Highsmiths letzte Lebensjahre in der Schweiz. Dlf Kulturlässt Highsmiths letzte Katze an die gemeinsame Zeit mit der Schriftstellerin denken und bietet ein Hörspiel von Highsmiths "Der Schrei der Eule". Und der BRliest uns Highsmiths "Das Zittern des Fälschers" vor.
Weiteres: Sandra Beck befasst sich auf 54books mit dem Verhältnis zwischen Kriminalliteratur und Paranoia. ZeitOnlinebringt einen Auszug aus Viktor Martinowitschs in Belarus beschlagnahmten Roman "Revolution". Besprochen wird unter anderem Kaśka Brylas "Roter Affe" (FAZ).
In der FAZ verbindet Niklas Maak große Hoffnungen mit dem Neuen Europäischen Bauhaus, dessen Start gestern von der EU-Kommission bekannt gegeben wurde. Schön, dass Brüssel nicht auf die Smart-City-Visionen privater Anbieter setzt und auch der Ästhetisierung des Grünen sowie der Infantilisierung des öffentlichen Raums etwas entgegenhält: "Beachtlich ist, wie hier von höchster europäischer Stelle anerkannt wird, dass unsere Städte aktuell eher ein Abbild der Interessen einer um Profitmaximierung bemühten Baulobby sind als Räume, bei deren Gestaltung das Wohlbefinden von Bürgern und Natur oberste Priorität hätte. Darauf, dass Städte ökologischer werden müssen, kann man sich schnell einigen. Bemerkenswert ist, wie häufig die Worte 'Inklusion' und 'Ästhetik' fielen. Hier wird das NEB-Projekt interessant - auch, weil die Fallen eines 'New Green Deal' sichtbar werden. Der Umbau des Pariser Zentrums zur autofreien Öko-Stadt etwa macht das Leben für all die Privilegierten, die dort leben, noch idyllischer... Die Verrammelung der Plätze, auf denen eben noch Gelbwesten demonstrierten, mit Bächlein und Bäumen, wirkt auch wie eine grüne Mauer gegen die Leute aus der Banlieue, gegen künftige Demonstrationen - und gar nicht 'inklusiv'."
Retro-Perfektion: Die Moynihan Train Hall in New Yorker. Foto: Luca Blair / SOM Hin und weg ist Verena Harzer in der taz von New Yorks neuem Bahnhof, der Moynihan Train Hall, die eine neue Ära des öffentlichen Fernverkehrs in den USA einläuten soll. Die vom Architekturbüro Skidmore, Owings & Merrill umgebaute Posthalle ist eine Erweiterung der Penn Station, die bisher nicht mehr als ein unterirdischer Haltepunkt war: "Dem Grand Central, der New Yorker Bahnhofsikone, die seit 1991 eine reine Pendlerstation ist, ist die neue Halle nicht ganz unähnlich. In beiden Bahnhöfen ist der Boden mit Tennessee-Marmor ausgelegt. In beiden Bahnhöfen wird die Mitte der Haupthalle von einer Uhr dominiert, beide Bahnhöfe sind ähnlich hoch und groß. Doch während die massive Säulenhalle des Grand Central in warmen Goldtönen gehalten ist, dominiert in der luftigen Moynihan Train Hall ein kühler Mix aus Nostalgie und Moderne. Drei grau gestrichene Stahlträger spannen sich über die ganze Breite der Halle. Sie tragen vier fast 30 Meter hohe Glaskuppeln und erinnern an die Stahl-Glas-Konstruktionen europäischer Bahnhöfe aus dem 19. Jahrhundert."
In der FAZ ärgert sich Dietmar Dath über Dünkel und Ignoranz der Kunstwelt, die den Arbeiten des Gu Zheng Wei alias Guweiz aus Singapur nichts abgewinnen kann: "Diese Sorte Kunst, nämlich Erzählgrafik diesseits von Comic und Manga, die auf Tableaux (statt in Bildsequenzen) detailliert durchdesignte Figuren in spekulative Welten stellt, wird in der galeriengestützten Kunstwelt oft als Gebrauchskitsch abgetan, weil sie zwar das Computerspielwesen, Filmplakate, Plattencover und die Buchumschläge heutiger populärer Phantastik dominiert, aber nichts zu einer visuellen Tradition beiträgt, die das Zeichnen und Malen vom Gegenständlichen zur Abstraktion und nebenher auf zahllose Irr- und Abwege geführt hat." Als würde man Alfred Döblin vorwerfen, filmisch zu schreiben, meint Dath.
Weiteres: FAZ-Kritikerin Ursula Scheer reist mit dem Maler William Turner an den Rhein ins Jahr 1817.
Im Standardrätselt Ljubisa Tosic über die Ankündigung der Wagner-Festspiele, dass der Wiener Gesamtkunstwerker und Opernliebhaber Hermann Nitsch in Bayreuth eine konzertante Version der "Walküre" in noch zu klärender Form aufführen soll. Außerdem annonciert der Standard die Streaming-Pläne der Staatsoper. Für den Tagesspiegelverschafft sich Gunda Bartels ein Stimmungsbild von den zwischen Verzweiflung und Kampfesmut schwankenden Berliner BühnenkünstlerInnen: "Dass so renommierte Musikkomödianten wie die Geschwister Pfister aber durch Corona so in Geldnot geraten, dass sie Hartz IV beantragen mussten, ist dann doch ein Schock."
Der Schauspieler, Autor und Filmemacher Jean-Pierre Bacri ist gestorben, der zusammen mit seiner Gefährtin Agnès Jaoui einige fürs französische Kino sehr untypische Filme gemacht hat, wohl auch weil die beiden aus dem Boulevardtheater kommen. Philippe Ridet schreibt in Le Monde: "Was von ihm bleibt, ist das Bild eines Mannes, der von einer vergeblichen, aber wohltuenden Wut beseelt ist, ein schwankender, manchmal mitleiderregender Charakter, den er im Laufe von etwa sechzig Filmen und zwanzig Theaterstücken, die er zusammen mit seinem Alter Ego Agnès Jaoui machte, immer mehr verfeinerte." Hier der Nachruf in Marianne.
Auf Youtube kann man seltsamer- und wunderbarerweise gerade Alain Resnais' Musical "On connait la chanson" (mit englischen Untertiteln) sehen, in dem Bacri eine der Hauptrollen spielt:
Jürgen Moises schreibt in der SZ einen Nachruf auf den bulgarischen Filmemacher, Schriftsteller und MusikerMarranGosov, der in den 60ern und 70ern in München Gammlerkomödien gedreht hat: "Dass er zu seiner Blütezeit ein angesehener Regisseur in München war, zu dem junge Filmemacher wie Rainer WernerFassbinder oder KlausLemke aufsahen, ist heute kaum noch bekannt. ... Gosovs erster abendfüllender Spielfilm war der 1967 von RobHouver produzierte 'Engelchen oder Die Jungfrau von Bamberg'. Ein respektlos-frecherSchwabing-Film." Im Dlf Kulturspricht Gosov-Archivar Bernhard Marsch.
Außerdem: David Steinitz schmunzelt in der SZ darüber, dass GeorgeClooney und LauraDern in jungen Jahren in dem offenbar nicht rundum gelungenen Horrorfilm "Grizzly 2" mitgespielt haben. Besprochen werden DariusMarders "Sound of Metal" (Freitag) und die Serie "Your Honor" mit BrianCranston (FAZ, ZeitOnline).
Wolf-Dieter Vogel ärgert sich in der taz darüber, dass die US-Modemarke CarolinaHerrera Muster aus mexikanischenindigenenKulturen für ihre neue Kollektion aufgegriffen hat, ohne dies vorab zu klären und der Kreativchef Wes Gordon sich nun darauf beruft, mit den eigenen Entwürfen eine Hommage erstellt zu haben. "Gordon hätte auch sagen können: 'Wenn wir die kreativen Arbeiten der Indigenen einfach kopieren, ohne diese zu informieren und einzubeziehen, fällt für uns mehr ab.' Außerdem kann er sich so mit seiner Chefin Herrera als innovativerModeschöpfer verkaufen, während die tatsächlichen Designer einmal mehr unsichtbar blieben." Hat Mode denn je etwas anderes gemacht, als vorgefundene Muster zu variieren? Die Times stellt neue und alte Entwürfe nebeneinander.
Für die Jungle Worldbegibt sich Lars Fleischmann mit dem Comeback-Album der Gruppe Urlaub inPolen auf ausgedehnte Reisen unter der brennenden Sonne: "Getrieben vom motorischen Schlagzeugspiel und dem Wüstenromantik versprühenden Bass ist der Song 'Impulse Response' die perfekte Hintergrundmusik, um durch die Mojave-Wüste Kaliforniens und Nevadas zu fahren. Das Ziel kann eigentlich nur Las Vegas heißen, die Metropole wird aber stilbewusst links liegen gelassen. Klar, dem Classic Rock wird seine Reverenz erwiesen, doch noch bevor einem langweilig werden könnte, reißt die Gitarre das Ruder rum. Nun reist man Richtung Area 51. Wo gerade noch ZZ Top lauerten, grüßt es nun lässig aus dem Space Age." Wir hören rein:
Außerdem: Julian Weber (taz), Alexis Petridis (Freitag), Michael Pilz (Welt), Harry Nutt (FR), Dirk Peitz (ZeitOnline) und Edo Reents (FAZ) schreiben Nachrufe auf den Produzenten PhilSpector (mehr dazu bereits gestern).
Besprochen werden das neue Album der Sleaford Mods (SZ) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter HinrichAlpers' Aufnahme von Franz Liszts Klavierbearbeitungen von Beethovens Symphonien (SZ).