Efeu - Die Kulturrundschau

Eine Tüte Kippenberger

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20.01.2021. Der Guardian feiert ganz unironisch die große Kunstnation Deutschland, die seit 150 Jahren mehr originelle und provokante Kunst hervorbringe als jedes andere Land. Die taz sucht beim digitalen CTM-Festival für elektronische Musik den Bass, der in den Körper dringt. Die FAZ sucht nach Lösungen für die Berliner Clubs. Die SZ goutiert sozialkritischen und lyrischen Realismus auf dem Max-Ophüls-Festival der Underdogs.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.01.2021 finden Sie hier

Kunst

Man glaubt erst gar nicht, dass er es ernst meint, aber tatsächlich gratuliert Guardian-Kritiker Jonathan Jones der großen Kunstnation Deutschland zum 150-jährigen Bestehen und feiert ihre Größen von Franz Marc, Otto Dix, George Grosz, Oskar Schlemmer bis hin zu Gerhard Richter, Georg Baselitz und Joseph Beuys: "Die Kunstgeschichte stellt dies oft nicht ganz richtig dar und übertreibt das Glamouröse der französischen Kunst wie auch der amerikanischen. Und in Britannien, lächerlich, versuchen wir uns einzureden, dass Henry Moore und John Piper Größen der Moderne sind. In Wahrheit hat kein Land in den vergangenen 150 Jahren mehr originelle, provokante und mächtige Kunst hervorgebracht als Deutschland."

Weiteres: Die Band Deichkind braucht dringend Geld. Deswegen soll jetzt das Kunstwerk, für das Lars Eidinger den menschlichen Pinsel gab, versteigert werden, meldet der Standard. Auf Monopol berichtet Daniel Völzke über Eidingers härtesten Dreh ever und und zeigt natürlich auch das Video mit Eidinger in voller Schönheit. taz-Autor Andreas Hartmann vertreibt sich derweil die Corona-Zeit in Silkys Späti, den die Berliner Künstlerin Silke Thoss in der O-Straße, gleich neben dem SO36, als begehbare Installation betreibt. Und der jetzt, wie es sich gehört, natürlich auch für Schnaps (Boring Hetero für 39,99) oder eine Tüte Kippenberger (79,99) einen Lieferservice bietet.
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Musik

Eher halb deprimiert als halb euphorisch wirft Beate Scheder für die taz ein Blick ins Programm des heute startenden Berliner CTM-Festivals, das sich in diesem Jahr aus bekannten Gründen ebenfalls aufs Streaming beschränken muss: Bitter, denn "nie ging es dort nur um die Musik und die Performance, sondern auch um das Erleben, das Dabeisein und um Begegnungen. Um die physische Erfahrung einer Clubnacht: Wie es ist, Sound über die großen Lautsprecher zu hören, den Bass, der in den Körper dringt und auf die Tanzfläche drängt, um den soziale Austausch in all seinen Facetten, um das daraus resultierende Gemeinschaftsgefühl."

Dazu passend schreibt Elena Witzeck in der FAZ über die durch Stützen und Spenden zwar etwas abgeschwächte Dauerkrise der Berliner Clubs, die händeringend nach Lösungen für ihre Misere suchen: "Beim 'Denkathon' für das Nachtleben rund um den Ritter Butzke werden Apps ersonnen, die freie Musiker in der Nachbarschaft anzeigen und im Sommer kleine, spontane Konzerte. Man empfiehlt 360-Grad-Bühnen, um Platz zu schaffen und damit Voraussetzungen für die Einhaltung von Abstandsregeln, auch sogenannte Silent Discos, bei denen jeder mit Kopfhörern für sich tanzt, Lichtanlagen, die im Sinne pawlowscher Konditionierung rot aufleuchten, wenn jemand einem andern zu nahe kommt. Die Ideen sind gut, aber kleinteilig und in Gefahr, jeden Moment von der Realität überholt zu werden."

Alexander Menden schreibt in der SZ über die Vollkatastrophe, die der Brexit für britische Musiker darstellt - der Klassikmanager Jasper Parrot sieht bereits einen drohenden künstlerischen "Brain Drain" fürs Land: "Schon infolge der Corona-Pandemie haben viele britische Musiker ihren Beruf gewechselt, arbeiten jetzt in Supermärkten oder als Pfleger. Der Brexit wird aber nach Parrotts Ansicht dazu führen, dass die, die weiter als professionelle Musiker arbeiten wollen, ihrer Heimat den Rücken kehren und in Europa Arbeit suchen." The Quietus meldet immerhin, dass eine von Musiker lancierte Petition immerhin schon mal den Erfolg hat, dass die britische Politik Bereitschaft zu Nachbesserungen signalisiert.

Außerdem: Rasmus Peters stellt in der FAZ das Studienvorhaben "Digital Concert Experience" vor, das sich mit Facetten des Konzerterlebnisses unter Streamingbedingungen befasst. Für den Tagesspiegel spricht Udo Badelt mit Cameron Carpenter über die Vorzüge der Orgel, als deren Jahr 2021 ausgerufen wurde. In der FAZ gratuliert Clemens Haustein dem Dirigenten Iván Fischer zum 70. Geburtstag. Besprochen werden neue Popveröffentlichungen, darunter Remy Banks' in süß duftenden Rauchschwaden eingehülltes Rap-Album "The Phantom Of Paradise" (SZ).

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Film

Auch das Nachwuchsfestival Max Ophüls Preis ist in diesem Jahr eine Onlineveranstaltung - im Stream kann man in diesem "Festival der Underdog-Figuren" aber einiges entdecken, versichert Kathleen Hildebrand in der SZ, auch wenn die Experimente eher spärlich gesät sind und die meisten Filme sich am "sozialkritischen Realismus" orientieren. Lyrische Töne schlägt immerhin Joséphine Demerliac in ihrem Film "Die Sonne brennt" an, "der wie eine Antithese zur unbeschwerten Liebesseligkeit der Nouvelle Vague wirkt. Die 23-jährige, etwas orientierungslose Französin Zou gerät in Berlin an mehrere unangenehme Männer, die in ihr partout nicht die Prinzessin erkennen wollen, als die das junge Mädchen sich sieht. Selbst aus liberalen Künstlertypen bricht ein hässlicher, selbstsüchtiger Sexismus heraus. Demerliac zeigt den Einbruch dieser Realität in Zous Selbstbild mit Bild-im-Bild-Konstruktionen und Ultra-Nahaufnahmen."

Weiteres: In der Welt plaudert Bjarne Mädel über sein heute im Ersten gezeigtes Regiedebüt, den Krimi "Sörensen hat Angst". Urs Bühler (NZZ) und Boris Pofalla (Welt) gratulieren David Lynch zum 75. Geburtstag, der derzeit bekanntlich den Wetteransager auf Youtube gibt.

Besprochen werden die DVD-Edition von Christopher Nolans "Tenet" (taz) und die Serie "Moonbase 8" (FAZ).
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Bühne

Sehr erfrischend findet Stefan Endler im Standard den Kreativitätsschub, den die Irish National Opera durchs Netz schickt. Sie hat bei irischen Künstlerinnen und Künstler Kurzopern in Auftrag gegeben, herausgekommen sind "20 Shots of Opera". In der SZ gratuliert Christine Dössel dem Schauspieler und "Bühnenanarchisten" Herbert Fritsch zum Siebzigsten. In der FAZ verdankt ihm Hubert Spiegel die Devise: "Man muss den Sturz wollen."
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Stichwörter: Fritsch, Herbert

Literatur

Robert Habecks Vorwort zur Neuübersetzung von George Orwells "1984" sei "nicht so gut geworden", mosert Till Raether ausführlich auf 54books: Habecks Text "ist für eine Parteitagsrede zu wirr und für eine Bundestagsrede zu langweilig". Faszinierend "ist es, wie oberflächlich ernst Habeck einen Text nimmt, der im Kern davon handelt, dass man dem geschriebenen Wort nicht trauen kann. Wie primitiv politisch er einen Text interpretiert, der ständig literarische Konventionen unterläuft und dadurch auf seine eigene Künstlichkeit verweist."

Besprochen werden ein Essay- und ein Gedichtband von Marina Zwetajewa (NZZ), Martin Starks Bilderbogen "Der Ring des Nibelungen nach Richard Wagner" (FR), Colum McCanns "Apeirogon" (SZ) und Klaus Manns "'Der Kaplan'. Ein Drehbuch für Roberto Rossellinis Filmklassiker 'Paisà'" (FAZ).
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