Efeu - Die Kulturrundschau

Mephistopheles ist hier Sanitäter geworden

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01.02.2021. Als Sensation feiert die FAZ die Übersetzung von Roger Martin du Gards Romanfragment "Maumort und die Nazis", das bereits 1937 sehr luzide drei Typen von Nazis ausmachte, darunter als gefährlichsten: den gebildeten Schöngeist aus dem deutschen Pfarrhaus. Die FAZ genießt auch den frischen Wind, der selbst in Pandemiezeiten durch den Madrider Prado weht. Die Welt besucht in Beirut ein Lazarett der Kunst. Die Nachtkritik erkundet mit dem Theater Krefeld-Mönchengladbach Kunst und Mythos von Joseph Beuys. Der Freitag erinnert an die kompromisslose Kunst des sanften Filmemachers Sohrab Shahid Saless.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.02.2021 finden Sie hier

Literatur

"Für Deutschland eine Sensation": In der FAZ feiert Andreas Platthaus die gerade einmal 84 Seiten zählende, von der Hamburger Hochschule für bildende Künste herausgegebene Broschüre "Maumort und die Nazis", die Roger Martin du Gards gleichnamiges Romanfragment in deutscher Übersetzung beinhaltet. 1937 erhielt der Autor den Literaturnobelpreis, dem deutschen literarischen Leben ist er allerdings in den letzten Jahrzehnten gründlich abhanden gekommen. Nun lässt sich nachlesen, wie du Gard seine Recherchen zu Nazi-Deutschland literarisch verdichten wollte: In Form eines Gesprächsromans, der drei Nazitypen identifiziert, nämlich "einen fanatischen Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen, einen skrupellosen Revanchisten aus großbürgerlicher Familie und einen gebildeten Schöngeist aus dem deutschen Pfarrhaus. Letzterer, Rupert Gralt, ist der Gefährlichste des Trios. Nicht, weil er im Roman Maumort oder sonst wem etwas antäte, sondern weil Gralts Argumentation in den Gesprächen etwas Verführerisches hat. Goethes Mephistopheles ist hier Sanitäter geworden, nicht einmal Parteimitglied wie die beiden anderen Soldaten, aber mit allen intellektuellen Wassern gewaschen."

Weitere Artikel: In New York sprachen Rachel Kushner und Ben Lerner über Tove Ditlevsens "Kopenhagen-Trilogie", berichtet Kathrin Witter in der SZ. Auch in diesem Jahr werden diverse Manga- und Comicveranstaltungen ins Wasser fallen, seufzt Lars von Törne im Tagesspiegel. In den "Actionszenen der Weltliteratur" berichtet Rainer Moritz davon, wie sich Imre Kertész mal allzu aufdringlichen Autogrammjägern entledigte.

Besprochen werden unter anderem Esther Beckers "Wie die Gorillas" (Tagesspiegel), Brit Bennetts "Die verschwindende Hälfte" (SZ), Raphaela Edelbauers "Dave" (Tagesspiegel), Ursula Wiegeles"Arigato" (Standard), Alem Grabovacs "Das achte Kind" (Tagesspiegel), in einem Pro und Contra Martin Mosebachs "Krass" (FAS) und neue Krimis, darunter Julia Phillips' "Das Verschwinden der Erde" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Kai Sina über Frances E. W. Harpers "Mehr Licht!":

"Licht! mehr Licht! Die Schatten sinken,
Wie ich's Leben sinken seh.
Öffnet weit mir alle Fenster
..."
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Bühne

Die soziale Plastik in "Beuys' Küche". Foto: Stutte / Theater Krefeld-Mönchengladbach

Einen klugen Auftakt zum Joseph-Beuys-Jahr sieht Nachtkritiker Max Florian Kühlem vom Theater Krefeld-Mönchengladbach gesetzt, das mit seinem Stück "Beuys' Küche" zu Beuys' hunderstem Geburstag Künstler und Mythos gleichermaßen befrage: "Der wie Beuys in Krefeld geborene Sebastian Blasius, der für Konzept und Regie zuständig ist, versucht, an zentrale Denkfiguren des Künstlers anzudocken: Die Uraufführung ist Theater im Sinne eines erweiterten Kunstbegriffs; keine Bühnenerzählung mit Figuren, die Identifikationsangebote machen, sondern ein vielstimmiger, installativer Diskursraum, vielleicht der Versuch einer Sozialen Plastik oder der Versuch, dem auf die Schliche zu kommen, was eine Soziale Plastik sein könnte. Dazu durften die Darsteller*innen auch selbst ausgewählte Mitglieder ihrer Stadtgesellschaft Fragen stellen wie 'Kann ein einzelner Mensch Veränderung hervorrufen?' Auch die ehrenamtliche Ortsbürgermeisterin tastet da nur vorsichtig: 'Ich versuche, den Zusammenhalt in der Gemeinde zu stärken.'"

Im Tagesspiegel gratuliert Schauspieler Ulrich Matthes dem Intendanten des Deutschen Theaters, Ulrich Khuon, zum Siebzigsten: Solle keiner den Schwaben im grauen Sakko unterschätzen: "Er ist anständig. In meinen rund 40 Jahren am Theater habe ich leider öfter die Erfahrung gemacht: So mancher, der sich besonders vehement als dem (auch politisch) 'Guten und Wahren' verpflichtet äußert, ist im kleinen, alltäglichen Umgang oft überraschend autoritär und hierarchisch denkend. Khuon nicht. Er ist das Gegenteil des 'alten weißen Mannes', wenngleich er jetzt 70 wird. Er ist sich seiner Macht durchaus bewusst, geht mit ihr aber behutsam um." In der Berliner Zeitung hebt Lisa Jopt vom Ensemble Netzwerk das Glas.

Besprochen werden Nuran David Calis' Dokumentartheaterstück "#Ersthelfer #Firstaid" über den Sommer 2015 in Salzburg im Livestream (Nachtkritik) und Gregor Schneiders "Sterberaum" (FR).
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Kunst


Wiedervereinigt im Prado: Goyas "Saturn" und Rubens' "Saturn

In Madrid ist der Prado immer noch geöffnet, FAZ-Korrespondent Hans-Christian Rößer verspürt sogar einen frischen Wind durch das Museum ziehen, das mit seiner Schau "Reencuentro" (Wiedervereinigt) zeigt, wie es künftig seine Sammlung inklusiver gestalten will: "Nicht nur Bilder von Frauen, sondern auch soziale Malerei sowie außereuropäische Kunst, zum Beispiel von den Philippinen, hätten bisher in der Sammlung des neunzehnten Jahrhunderts nicht den Platz gefunden, der ihnen gebühre. Teile des Museums hält Falomir für anachronistisch, da sie überholten historiographischen Modellen folgten. Einen sichtbaren Akzent wird im Oktober die Sonderausstellung 'Tornaviaje: Iberoamerikanische Kunst in Spanien' setzen, die wegen Corona verschoben werden musste. Es geht um die Bedeutung und den Einfluss kolonialer Kunst aus Lateinamerika."

Wie ein Lazarett der Kunst erscheint Welt-Korrespondent Daniel Böhm die Ausstellung "L'art blessé", die der Kurator Jean-Louis Mainguy in einem alten Stadtpalais in Beirut zusammengetragen hat. Sie zeigt Werke aus der Stadt, die bei der verheerenden Explosion im August beschädigt wurden: Von Werken Beiruter Bildhauerinnen bis zu italienischem Barock: "'Wir Libanesen', sagt Mainguy 'sind Meister darin, Dinge halbwegs zu reparieren. Normalerweise übermalen wir das Grauen und machen weiter. Das  ist keine gute Art, mit Traumata umzugehen. Deshalb wollen wir uns diesmal den Verletzungen stellen.'"

Weiteres: "Durchweg schön und gründlich recherchiert" findet Gaby Hartel in der taz die Werke in der Klimawandel-Ausstellung "Nach uns die Sintflut" im Kunst Haus Wien, und dabei kein reines "agenda aharing", wie sie versichert. In der NZZ begrüßt Maria Becker die Wiederentdeckung der deutsch-schweizerischen Malerin Ottilie Roederstein, die einem recht grimming von ihren Selbstporträts entgegenblickt und der das Kunsthaus Zürich eine Ausstellung widmet: "Das repräsentative Porträt war ihre Domäne. Daneben bediente sie - durchaus mit Kalkül - den Geschmack der restaurativen Zeit mit symbolistischem Genre, Exotismus und religiösem Kitsch." Johanna Adorján besichtigt für die SZ die aktuelle Ausstellung "Après" des Künstlers Christian Boltanski in der Marian-Goodman-Galerie im Pariser Marais. In der FAZ erinnert sich Kerstin Holm an die erste postsowjetische Beutekunstausstellung 1992 in der Sankt Petersburger Eremitage.
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Film

Im Freitag erinnert Michael Töteberg an den iranischen Filmemacher Sohrab Shahid Saless, der in den 70ern, nachdem er für "Stilleben" mit dem Silbernen Bären der Berlinale ausgezeichnet wurde, Filme aus und über Deutschland drehte, die zwar auf der Berlinale liefen, heute aber nahezu in Vergessenheit geraten sind. Immerhin: Gerade ist sein Prostitutionsdrama "Utopia" mit Manfred Zapatka auf BluRay erschienen. "Obwohl Saless doch erst seit ein paar Jahren in Deutschland lebte, erkundete er wie kaum ein anderer Filmemacher des Landes die deutsche Seele, ihre Sehnsüchte und mehr noch ihre Beklemmungen. Saless hatte eine künstlerische Handschrift, die noch in jeder Szene, ja in jeder Einstellung spürbar ist. Er ließ sich nicht reinreden in seine Arbeit, schon gar nicht von irgendwelchen Auftraggebern, seien es Produzenten oder Redakteure. Konnte er sich nicht durchsetzen, zog er seinen Namen zurück. ... Radikal und kompromisslos war Saless in seiner Kunst, im persönlichen Umgang dagegen zugänglich und fast sanft."

Mehr zu Saless: Critic.de hat vor wenigen Jahren alle Saless-Filme besprochen. Im Dlf Kultur hat Lukas Foerster "Utopia" gewürdigt. Zu den großen Saless-Evangelisten hierzulande zählt auch der Filmemacher Romuald Karmakar, der Saless' "Utopia" vor einigen Jahren auf seine Youtube-Liste "Films you should see before it's too late" setzte:



Weitere Artikel: Für die FAZ porträtiert Bert Rebhandl den Schauspieler Oliver Masucci. Schachbretter finden nach dem Erfolg der Netflix-Serie "Das Damengambit" reißenden Absatz, schreibt Urs Bühler in der NZZ. Es sind nicht nur die Sexszene, die aus der Netflix-Serie "Bridgerton" derzeit das beste "massentaugliche Pandemie-Soulfood" machen, erklärt Kathleen Hildebrand in der SZ. Wegen rassistischer Klischees verbannt Disney seinen "Dumbo"-Film im hauseigenen Streamingdienst ins Erwachsenenportal, meldet Axel Weidemann in der FAZ.

Besprochen werden Dea Kulumbegashvilis auf MUBI gezeigter Debütfilm "Beginning" (SZ, mehr dazu hier) und die vierte Staffel der Anthologieserie "Cargo" (Jungle World).
Archiv: Film

Musik

"Was für ein Verlust, was für eine entsetzliche Nachricht", stöhnt Jens Balzer auf ZeitOnline: Die gerade mal 34 Jahre alte Musikproduzentin Sophie Xeon ist bei einem Sturz tödlich verunglückt. Der Pop der letzten zehn Jahre verdankt ihr einiges, schreibt der Kritiker weiter: "Ihre Musik war befreiend, verwirrend, utopisch. Es schien in ihr keine Grenzen zu geben für die Erfindung neuer Klänge und Beats; für die Gestaltung, Modulation, Verfremdung der Stimme; und es gab in Sophies Kunst auch keine Grenzen für die Erfindung neuer Identitäten." Sie "hat die Materie überwunden, auch in der Gestalt, in der sie sich in den vergangenen Jahren präsentierte. Sie war eine Person, die alle überkommenen Zuschreibungen des Männlichen und Weiblichen hinter sich gelassen hatte, von singulärer Schönheit und berührendem Glamour." Weitere Nachrufe schreiben Jan Kedves (SZ) und Johannes von Weizsäcker (Berliner Zeitung).



Pophits werden kürzer, entnimmt Welt-Autor Michael Pilz einer neuen Studie, deren Ergebnisvektor eindeutig ausfällt. Der Grund: Die Aufmerksamkeitsspanne, in der man einem Stück abwartend gewogen ist, sinkt. Entsprechend müssen neue Hits umgehend knallen und mit ihrem Selling Point sofort auf den Punkt kommen. Immerhin wird diese Entwicklung von "Pophistorikern als längst fällige Renaissance einer perfekten Form gefeiert, die den Hits der Frühzeit eigen war. Der gute, alte Drei-Minuten-Song." Zudem "nimmt die 'lyrische Dichte' zu, die Wörter pro Sekunde, dafür nimmt die Zahl der Wörter in den Songtiteln seit 20 Jahren ab."

Weitere Artikel: FAZ-Kritiker Jesper Klein lässt sich auf dem Musikportal Explore the Score von András Schiff Bartók erklären. Die Popmusik treibt immer sonderbarere Merchandising-Blüten, mit denen das eigentliche große Geld gemacht wird, schreibt Uerli Bernays in der NZZ: Jetzt bringen schon gestandene Rapper Duftkerzen heraus. Während der Großteil der Noten- und Musikverlage wegen der coronabedingt weggebrochenen Konzerte in finanzielle Schieflagen gerät, boomt derzeit das Segment der Kammermusik, berichtet Georg Ruder im Tagesspiegel. Jan Feddersen gratuliert in der taz dem Poparchäologen Richard Weize zur Auszeichnung mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik. Adrian Schulz plaudert für die taz mit Popsänger Bill Kaulitz.

Besprochen werden neue Alben von Arlo Parks (Standard, mehr dazu hier) und The Notwist (Berliner Zeitung). Wir hören rein:

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