Efeu - Die Kulturrundschau

Übersteigerte Farbpalette

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09.02.2021. Die FR steigert in der Frankfurter Schirn noch ein bisschen ihre Sehnsucht nach Weite, Wildnis und Überwältigung mit der kanadischen Group of Seven. Die Nachtkritik nimmt mit Clemens J. Setz an den Münchner Kammerspielen Kontakt zu den Anrufern von Microsoft auf. In der taz bekennt Bernardine Evaristo einen gewissen Willen zur Macht. Die FAZ macht auf dem Filmfestival Rotterdam einen neuen Hang zum Exotismus aus. Und die NZZ feiert eine neue Konjunktur des Souls.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.02.2021 finden Sie hier

Kunst

Tom Thomson: Northern Light, 1916/17, The Montreal Museum of Fine Arts

Ausgerechnet jetzt bringt die Frankfurter Schirn Kunsthalle die Ausstellung "Magnetic North" über die kanadische "Group of Seven", bedankt sich Sandra Danicke in der FR, als müsste ihre Sehnsucht nach Weite, Wildnis und Überwältigung noch angeheizt werden! Immerhin: Die Bilder der Aussteigergruppe aus Toronto strotzen nur so vor Energie. "Was so entstand, war keine einheitliche Bildsprache, jeder Künstler fand seinen eigenen Stil, um der prächtigen Landschaft zu huldigen. A. Y. Jackson und Lawren Harris fuhren bevorzugt ans Nordufer des Lake Superior an der Grenze zu den Vereinigten Staaten. Sie hielten verwunschene Baumgruppen, unterschiedliche Vegetationsstrukturen und ein unwegsames Gelände fest, das bisweilen geradezu surreal anmutet, was auch an der übersteigerten Farbpalette liegt. Zumindest Harris machte durch eine mit den Jahren stetig zunehmende Abstraktion deutlich, dass es ihm eher um eine spirituelle Symbolik ging, als darum, topografische Realitäten ins Bild zu setzen. Arthur Lismer, J. E. H. MacDonald und F. H. Varley zeigten häufig sich selbst als winzige Gestalten vor Felsen oder rauschendem Wasser oder sie präsentierten ihre Kanus an einsamen Ufern, um zu demonstrieren, was für kühne, zähe Burschen sie waren. An der Legende von der unberührten Wildnis rührte jahrzehntelang kaum jemand."

Weiteres: Philipp Meier staunt Bauklötze beim Blick in Donald Judds einstige New Yorker Wohnräume: "Judd, der Minimalist, der unterkühlte Metallkuben-Künstler, der jede persönliche Handschrift in seinen Werken vermied: Ausgerechnet er liebte die warmen Töne von Holz und Keramik." Damian Zimmermann unterhält sich in der taz mit dem Galeristen und Sammler Michael Horbach über sozialkritische Fotografie, Künstlerpreise und die Stiftung für Hilfe zur Selbstentwicklung. Der Tagesspiegel meldet, dass der frühere Nationalgalerie-Chef Udo Kittelmann künstlerischer Leiter des Frieder Burda Museums in Baden-Baden wird. Besprochen werden die beiden Ausstellungen "Zeichensprache" und "Sky Glow", mit denen das Wiener Museum für angewandte Kunst heute wieder öffnet (Standard).
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Literatur

Simon Sales Prado unterhält sich für die taz mit Bernardine Evaristo, deren im vergangenen Jahr mit dem Booker-Prize ausgezeichneter Roman "Mädchen, Frau etc." nun auch auf Deutsch vorliegt. Unter anderem geht es in dem Buch um die Erfahrungen einer jungen feministischen Theatermacherin, die mit dem Ausblick, im Betrieb groß rauszukommen hadert. Ihre eigene Geschichte ist das nicht, sagt Evaristo, die selbst vom Theater kommt, "wir unterscheiden uns. Amma hat sehr lange am Rande der Branche gearbeitet. Ich nicht. Ich werde seit zwanzig Jahren von einem der weltweit größten Verlage verlegt. Ich bin Professorin. Ich gehöre längst zum Mainstream, auch wenn der Preis mich weltweit noch mal bekannter gemacht hat. Und ich glaube, dass wir in den Strukturen sein müssen, im Establishment. Dort ist die Macht. Wir müssen innerhalb dieser Räume etwas verändern und sie egalitärer machen."

Mit ihrem Auftritt beim Superbowl hat Amanda Gorman sich so kurz nach ihrer Rezitation bei Joe Bidens Inauguration vielleicht nicht unbedingt einen Gefallen getan, meint Jörg Häntzschel in der SZ: Unter Rückgriff auf Kriegsmetaphern schwärmte sie von den Helden im Alltag der Pandemie: "Müsste Amanda Gorman als 'inaugural poet' ex officio nicht genug Sprachsensibilität besitzen, um ein so oft missbrauchtes Wort wie 'Helden' zu vermeiden?" Aber: "Gorman ruft zwar das uramerikanische Heldenmotiv auf, aber deutet es um und stellt es auf den Kopf: Jeder leistet in diesen Monaten Außergewöhnliches, was auch immer er tut."

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh unterhält sich in der SZ mit Marjane Satrapi über den anhaltenden Erfolg ihres Comicklassikers "Persepolis". In der SZ erinnert sich Willi Winkler an seine "Thomasbernhardlesesucht". Im Tagesspiegel erinnert Gerrit Bartels an den österreichischen Schriftsteller, der heute vor 90 Jahren geboren wurde. Mehr zu Bernhards Neunzigstem hatten wir bereits an dieser Stelle.

Besprochen werden unter anderem Haruki Murakamis "Erste Person Singular" (taz), Volha Hapeyevas "Camel Travel" (Freitag), Nicolas Mahlers Comicbiografie "Thomas Bernhard" (FR), Marco Missirolis "Treue" (Tagesspiegel) und Ulrike Sterblichs "The German Girl" (FAZ).
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Film

In der ariden Zone: "Pebbles" von Vinothraj P.S.

Bert Rebhandl resümiert in der FAZ das Filmfestival Rotterdam, das in diesem Jahr mit einem ähnlichen Modell wie die Berlinale über die Bühne geht. Der Goldene Tiger ging an Vinothraj P.S.' indisches Dramas "Pebbles". Die Auszeichnung hat "wohl auch mit der ungewöhnlichen Landschaft zu tun, die der Film zeigt: eine exponiert aride Zone, die in vielerlei Hinsicht an Bilder aus dem australischen Outback erinnert". Allerdings entpuppt sich "Pebbles" rasch "als typischer Festivalfilm, der eine von vielen Ungleichzeitigkeiten und Ungerechtigkeiten auf diesem Planeten deutlich macht. Beim IFFR konnte man in diesem Jahr den Eindruck haben, dass diese Unterschiede auch auf einen gewissen Exotismus hinauslaufen, der sich zum Beispiel in einer neuen Vorliebe für Schwarzweiß zeigt: der georgische Beitrag 'Bebia, à mon sol désir' von Juja Dobrachkous und der chinesische 'Bipolar' von Queena Li wären hier zu nennen." Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh sah ein "minimalistisches, aber intensives Drama in der Steinwüste."

Außerdem: Netflix hat sich zu Tode gesiegt, meint Hanns-Georg Rodek in der Welt: Zwar kann die Onlinevideothek jetzt problemlos zu den großen Majors in Hollywood gezählt werden, aber ein Großteil der Produktion ist eben auch nur noch Durchschnitt und die große Internationalität des Streamers in der Produktion weicht zusehends einer US-Dominanz. Marion Löhndorf schreibt in der NZZ über den seinerzeit von Naomi Gardner eingesungenen Werbesong für Stanley Kubricks "2001", der erst jetzt veröffentlicht wurde, weil er den Filmemacher nicht überzeugen konnte. Verdenken kann man es ihm wirklich nicht:



Besprochen werden Sam Levinsons Kammerspiel "Malcolm & Marie" mit John David Washington und Zendaya (Tagesspiegel, Spiegel, mehr dazu hier), die Serie "Your Honor" mit Bryan Cranston (Freitag) und die Horrorserie "The Head" (FAZ).
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Bühne

Groteske in Gelb: Clemens J. Setz' "Flüstern in stehenden Zügen". Foto: Katarina Sopčić / Münchner Kammerspiele

Formal ein bisschen old-school, aber thematisch bleeding edge findet Nachtkritiker Martin Thomas Pesl den Grazer Autor Clemens J. Setz, dessen neues Stück "Flüstern in stehenden Zügen" von einem Computernerd erzählt, der versucht Kontakt zu den Anrufern betrügerischer Hotlines aufzunehmen: "Setz' Figuren - hier laut Stücktext mindestens 20, die meisten davon übers Telefon nur zu hören - befinden sich in konkreten Situationen und sprechen wie echte Menschen. Die Einheit von Handlung, Zeit und (digitalem) Raum ist gegeben, die praktische Umsetzbarkeit dem Autor erfrischend egal. Die Münchner Kammerspiele übertrugen die Regie dem Filmemacher Visar Morina, und das, nicht zuletzt aufgrund des erzwungenen Mediums Live-Stream, mit Gewinn. Die Kamera wechselt zwischen Vollbild und Instagram-Stories-Hochformat mit schwarzen Balken links und rechts." In der SZ konnte Christine Dössel nur wenig Empathie für den bedürftigen Nerd aufbringen, aber die grotesken Momenten dieses absurden Theaters sagten ihr dann doch zu.

Weiteres: In der taz berichtet jetzt auch Katja Kollmann, dass der russische Regisseur Kirill Serebrennikow die Leitung seines Gogol-Centers verliert, und bemerkt die zynische Note: "Auch im staatlichen Fernsehen war das Gogol Center Thema. Dort warf man Serebrennikows UnterstützerInnen vor, den Vorgang unnötig zu politisieren, und holte sich Experten, wie den bekannten Theaterkritiker Grigori Saslawski, um das offizielle Narrativ, das sei doch nur ein schnöder Verwaltungsakt, mit Argumenten zu füllen." Proletarisches Theater im Geiste Erwin Piscators sah Tagesspiegel-Kritiker Patrick Wildermann mit Adrian Figueroas für das Berliner HAU geschaffenem Theaterfilm  "Proll!", der die Ausbeutung der Kuriere in den Blick nimmt.
Archiv: Bühne

Musik

Der Soul erlebt auf den Alben junger Sängerinnen wie Jazmine Sullivan, Arlo Parks und Celeste eine beeindruckende Konjunktur, schreibt Ueli Bernays in der NZZ: "Hat die Gesangskultur in der Ära der Casting-Shows einen Aufschwung erlebt? ... Oder bewährt sich im Soul-Gesang ein Humanismus, der in Anspruch genommen wird als Mittel gegen stereotypes Auto-Tune und gegen die Robotik der Computer-Beats? Viele Sängerinnen verstehen Soul als geradezu demokratische Musikrichtung, in der sie Position ergreifen können mit ihrer Stimme. Und tatsächlich scheint die freiheitliche Tendenz schon in der Form angelegt, die den Raum öffnet für die eigene Phrasierung, den innigen Ausdruck. Dabei muss es nicht immer um dynamische Extreme gehen, es gibt eine Soul-Expressivität jenseits von Inbrunst und Ekstase." Wir hören bei Celeste rein:



Für völlig unsinnig, populistisch und zur Unzeit kommend hält ND-Kritiker Berthold Seliger, selbst Konzertveranstalter, die von Eventim losgetretene Debatte, ob man Konzerte nicht wieder stattfinden lassen könnte, sofern man nur bereits Geimpften Zutritt gewährt: Eine solche Zweiklassengesellschaft verschärfe nur die bereits bestehende "kulturelle 'Segregation'". Zudem könne derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass Geimpfte das Virus weitertragen: "Großveranstaltungen mit Geimpften wären ein idealer Brutkasten für die Verbreitung von Escape-Varianten des Covid-19-Virus. Das mag Großkonzernen mit ihren Profitinteressen eher egal sein, aber für Menschen mit einer Haltung, die eine gesellschaftliche Verantwortung ihres Tuns ernstnehmen, steht eine Position, bei der der Kommerz wichtiger ist als die Gesundheit der Menschen, nicht zur Debatte."

Weitere Artikel: In der FAZ schwärmt Cornelius Dieckmann von der Plattform Genius, wo Popsong-Texte nach ihrer tieferen Bedeutung durchleuchtet werden. Die Organistin Hannah Schmidt schreibt in der Zeit einen Liebesbrief an die Orgel, deren filigranen Qualitäten sie besonders hervorhebt: "Im Grunde ist die Orgel ein kulturell missverstandenes Instrument". Max Nyffeler berichtet in der FAZ vom Éclat-Festival in Stuttgart, wo ihm manche politischen Stücke eher wie "wohlmeinende Betroffenheitsübungen" anmuteten, wohingegen Darbietungen von Enno Poppe, Leopold Hurt, Sarah Maria Sun und Vanessa Porter auch ästhetisch überzeugten. Andrian Kreye schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Jazzkritiker Christian Broecking (weitere Nachrufe bereits hier).

Besprochen werden Anna B Savages Debütalbum (FR), der Auftritt von The Weeknd beim Superbowl (Tagesspiegel), neue Jazzveröffentlichungen (SZ) und das Album "Eternal Fiction" des Jazztrios Interzone (Standard). Daraus ein Video:

Archiv: Musik