Efeu - Die Kulturrundschau

Die Realität verlangte nach Nachbesserung

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10.02.2021. In der FAZ schreibt Volker Schlöndorff zum Tod des Drehbuchautors Jean-Claude Carrière, der dem französischen Film Anarchie und Surrealismus verlieh. Aber die Filmkritiker liegen auch Helena Zengel zu Füßen, die im Western "Neues aus der Welt" Tom Hanks an die Wand spielt. taz und Tagesspiegel begrüßen die Auswahl zum Berliner Theatreffen, das jetzt nur noch stattfinden muss. Die NZZ stemmt sich gegen den schönen, aber unökologischen Trend zum begrünten Hochhaus. Dezeen hält dagegen Francis Kérés demokratischen Palaverbaum.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.02.2021 finden Sie hier

Film

Jean-Claude Carrière im Jahr 2006 (Bild: Studio Harcourt, CC BY 3.0)

Große Trauer um den Drehbuchautor Jean-Claude Carrière, der von Jess Franco über Luis Buñuel, Jacques Deray und Jean-Luc Godard bis zu Peter Fleischmann und Volker Schlöndorrf mit so ziemlich allen Autorenfilmern des europäischen Nachkriegskinos zusammengearbeitet hat. In der FAZ verabschiedet sich Volker Schlöndorff von seinem Freund, der seine Arbeiten stets mit "Anarchie und Surrealismus" würzte: "Nicht gerade Garanten für kommerziellen Erfolg - aber es gibt Ausnahmen. "Der diskrete Charme der Bourgeoisie" und "Dieses obskure Objekt der Begierde" sind der beste Beweis: Niemand sonst hätte es gewagt, extrem konventionelle Handlungsstränge mit solch wilden surrealistischen Ideen zu kombinieren, und noch weniger, dieselbe Figur mit zwei verschiedenen Schauspielerinnen zu besetzen." Auch im Dlf Kultur erinnerte sich Schlöndorff an Carrière.

"Seine Fantasie war stets auf dem Sprung", schwärmt Gerhard Midding in der Welt. "Der Anschein weckte seinen Widerspruchsgeist. Die Realität verlangte nach Nachbesserung. Wie man sie aus den Angeln hob, hatte er vielleicht bei Luis Buñuel gelernt. Oder war es umgekehrt? ... Zusammen mit dem Spanier unterlief er die Gebote der Logik und Geschlossenheit, um die Konstruktion zu öffnen für einen listigen Assoziationsreichtum. In ihren Filmen herrschte ein fulminantes Ungebundensein des Erzählens." Die von Carrière verfassten Filme "sind von einer freien Fantasie gezeugt, subversiv, ikonoklastisch, lustvoll", schließt sich dem auch Fritz Göttler in der SZ an. "Sie zeigen, schrieb die Filmkritikerin Frieda Grafe, dass der eingleisige Weg von der Ursache zur Wirkung, vom Zeichen zu tieferer Bedeutung auch nur eine Fiktion ist."

Helena Zengel in "Neues aus der Welt". Links im Bild: ein Schauspieler namens Tom Hanks (Netflix).

Alle liegen Helena Zengel zu Füßen. Schon in "Systemsprenger" (unsere Kritik) sorgte die 12-jährige Schauspielerin für Aufsehen, jetzt spielt sie in Paul Greengrass' Netflix-Western "Neues aus der Welt" mal eben Tom Hanks an die Wand, was die Golden Globes vom Fleck weg mit einer Nominierung würdigten. "Und das in meinem Alter. Alsodas ist schon alles sehr cool", freut sich die Schauspielerin im SZ-Gespräch, in dem sie auch auf die Unterschiede zwischen ihren beiden großen Rollen zu sprechen kommt: War sie in "Systemsprenger" noch wild, redet die von ihr gespielte Johanna "kaum, eher nur mit ihren Augen, und auch körperlich ist sie eher ruhig. Wenn sie keinen Kontakt mit jemandem will, sagt sie es nicht, sondern dreht sich weg. Von daher war da also schon ein ziemlich großer Unterschied. Aber beide haben dieses Intensive, Krasse an sich."

Andreas Busche staunt im Tagesspiegel über Zengels Ausdrucksvermögen: "An der Seite des stoischen Hanks wirkts sie wie ein trotziger kleiner Buddha, der es an Lebenserfahrung locker mit dem Erwachsenen aufnehmen kann. Zengel verweigert sich mit ihren stechenden blauen Augen dem Kindchen-Schema, für das junge Darsteller*innen in ihren ersten großen Rollen oft herhalten müssen. Die abgebrühte Johanna steht dagegen in der Tradition schießfreudiger Westernheldinnen wie Barbara Stanwyck, Jane Fonda, Cate Blanchett - und nicht zu vergessen einer Hailee Steinfeld, die in 'True Grit' von den Coens gerade mal zwei Jahre älter war als Zengel."

Weitere Artikel: In der taz empfiehlt Fabian Tietke die Online-Werkschau Margareta Heinrich des Filmarchivs Austria. Zeit-Autor Johannes Schneider vertreibt sich den Pandemie-Leerlauf mit der Krankenhausserie "In aller Freundschaft".
Archiv: Film

Architektur

Entwurf für das Parlament von Benin. Bild: Kéré Architekt

Dezeen zeigt tolle Entwürfe des Architekten Francis Kéré für das neue Parlamentsgebäude in Benin, das Identität und Demokratie zum Ausdruck bringen soll: "Das Beniner Parlament, das in der Hauptstadt Porto-Novo gebaut werden soll, wird sein Gewicht an die Spitze verlagern, in der Form jener Baumkronen, die den Menschen Raum und Schatten spenden. Der Entwurf soll eine Hommage an die Palaverbäume sein - die seit Gegenrationen westafrikanischen Communities als offene Orte für Zusammenkünfte und Entscheidungen in der Gemeinschaft dienen."

Blätterwerk in allen Lagen. Foto: DAM

Amazon will sein zweites Headquarter in Arlington als bewaldete Spirale in den Himmel schrauben, und liegt damit voll im Trend zur begrünten Architektur, den Stefano Boeri mit seinem Bosco verticale in Mailand angestoßen hat. Schön anzusehen ist das, auch wertsteigernd, gibt Sabine von Fischer in der NZZ zu, aber ganz bestimmt nicht nachhaltig! Botanische Expertise gebe es dagegen in der Schau "Einfach grün - Greening the City" des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt: "So wirksam mit Blätterwerk geschmückte Fassaden im Kleinen das Mikroklima regulieren, so bescheiden bis sogar negativ fällt die Bilanz fürs Weltklima aus: Die CO2-Reduktion, die Pflanzen durch Fotosynthese je bewirken könnten, machen die teilweise langen Transportwege der Gräser, Sträucher und Bäume zunichte. Gar noch nicht eingerechnet, dass manche der grünen Zöglinge in den engen Betontrögen frühzeitig verwelken, obwohl aufwendige Bewässerungs- und sogar Tageslichtsysteme sie am Leben erhalten sollen. Die Versprechen von vollem Blätterwerk in allen Lagen sind oft so gekonnt in Szene gesetzt, dass das Auge sich freut und der Verstand aussetzt."
Archiv: Architektur

Kunst

1976 rümpfte die Kritik die Nase über die Ausstellung "Two Centuries of Black American Art" Foto: LACMA

Holland Cotter empfiehlt in der New York Times nachdrücklich die HBO-Dokumentation "Black Art: In the Absence of Light", die der Ausstellung "Two Centuries of Black American Art" von 1976 im Los Angeles County Museum of Art folgt und die Geschichte der Ignoranz zeigt: "Schwarze Künstler hatten immer unverwechselbare Arbeiten geschaffen, in oder parallel zu einem von Weißen dominierten Mainstream, der sie ignorierte. Die Ausstellung zeigte schon damals, dass schwarze Künstler unermüdlich einige der aufregendsten und dringendsten Arbeiten der amerikanischen Kunst schufen. Punkt. Eine Realität, die in der Kunstwelt tatsächlich erst seit kurzer Zeit anerkennt wird, durch Ausstellungen, Verkauf und kritische Aufmerksamkeit. Die HBO-Dokumentation zeigt uns diese Geschichte langer Vernachlässigung und kurzer Korrektur durch die eloquenten Stimmen dreier Menschen, die beide Seiten erlebt haben: David Driskell, ein berühmter Maler und Lehrer, Mary Schmidt Campbell, Präsidentin des Spelman College in Atlanta und frühere Direktorin des Studio Museums in Harlem, und Maurice Berger, ein geschätzter Kunsthistoriker und Kurator. Der Film ist den beiden Männern gewidmet, die beide im vorigen Jahr an oder mit Corona gestorben sind, Driskell mit 88 und Berger mit 63 Jahren."
Archiv: Kunst

Bühne

In der taz findet es Katrin Bettina Müller ganz richtig, das Theatertreffen auch in diesem Jahr auszuloben, zumal sich einige der nach Berlin eingeladenen Produktionen wie etwa "Show Me A Good Time" von Gob Squad direkt mit den Bedingungen des Kunstmachens in Zeiten der Pandemie beschäftigen. Und: "Sechs von zehn Inszenierungen kommen von Regisseurinnen, die Frauenquote wurde um zwei Jahre verlängert. Direkt um die Geschichte vergessener Frauen geht es in 'Name her' von Marie Schleef (Ballhaus Ost und Koproduzenten), einer Lecture-Performance über Komponistinnen, Wissenschaftlerinnen, Ingeneurinnen, Heldinnen des Alltags, von Anne Tismer in vier Kapiteln performt. Wiederentdeckt wird die linke und jüdische Autorin Anna Gmeyner mit ihrem Stück 'Automatenbüffet', von Barbara Frey in Wien inszeniert."

Im Tagesspiegel annotiert Patrick Wildermann ausführlich die Auswahl. In der FAZ gibt Simon Strauß zu bedenken, dass die Pandemie ziemlich willkürlich darüber entschied, welche Produktion in den zwei Monaten gezeigt werden konnten, in denen die Theater offen waren. Auf der Nachtkritik diskutieren KritikerInnen die Auswahl.

Salvatore Sciarrinos Oper "Il canto s'attrista, perché?" nach Aischylos' "Tantaliden"-Trilogie wird ab April wieder im Klagenfurter Stadttheater, doch der ORF zeigt die Uraufführungsinszenierung bereits am 23. Februar, freut sich Michael Cerha im Standard und versichert: "Dass sich dieser Opernabend aber nicht in Schauerromantik und Geisterbahngruselei erschöpft, dafür sorgt der italienische Mystikspezialist und stolze Autodidakt nicht nur mit seiner speziellen Ästhetik, sondern auch mit einem von ihm selbst frei nach Aischylos verfassten tiefsinnig-poetischen Text."

Weiteres: Ronald Pohl verneigt sich im Standard vor Thomas Bernhard mit einem kleinen Pandemie-Dramolett. Besprochen werden Anne Lenks Inszenierung von Friedrich Schillers "Maria Stuart" im Stream des Deutschen Theaters (Welt) und die "Ewige-Achtziger"-Revue von Performancekünstler Jan Machacek und Musiker Oliver Stotz im Stream aus dem Brut Wien (Standard).
Archiv: Bühne

Literatur

Klaus Walter staunt in der Jungle World darüber, wie es Deniz Ohde mit ihrem Roman "Streulicht" gelingt, seine Erfahrungswelt als Jugendlicher in Frankfurt in Sichtweite zu den Chemiewerken zu triggern, wo Ohde doch 33 Jahre jünger ist als er, eine Frau und noch dazu postmigrantische Erfahrungen hat. "Im Unterschied zu Ernaux und Eribon erzählt Deniz Ohde nicht nur von der Schwerkraft der Herkunft aus der working class, sondern von einer doppelten, intersektionalen Ächtung: class und race. Als Arbeitertochter ist sie dem alltäglichen Klassismus des deutschen Bildungswesens ausgesetzt, aber auch dem alltäglichen Feelgood-Rassismus von Lehrern, die glauben, dass Türkenmädchen daheim viel helfen müssen und deswegen nicht Abitur machen können. Als Türkentochter wiederum ist sie dem Distinktionsrassismus deutscher Proleten ausgesetzt. ... So gesehen ist 'Streulicht' der Roman zu diesen widersprüchlichen, zum Teil gegenläufigen Ungleichzeitigkeiten. Mit ihrem von keiner Sozialromantik getrübten Blick beschreibt Deniz Ohde, wie Wurmfortsätze des Fordismus in die postfordistische Gegenwart hineinragen, wie versprengte Reste von Traditionsmileus sich halten als Rückzugsräume für deklassierte, depravierte, depressive Deutsche."

Außerdem: Willi Winkler schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Literaturwissenschaftler Michael Titzmann. Besprochen werden unter anderem Uta Ruges "Bauern, Land. Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang" (taz), Ottessa Moshfeghs "Der Tod in ihren Händen" (FR), Kirsten Boies "Dunkelnacht" (Tagesspiegel), Gipis und Luigi Citrones Mittelalter-Comic "Aldobrando" (Welt) sowie Ulrike Sterblichs "The German Girl" (SZ)
Archiv: Literatur

Musik

Der Tenor Daniel Behle und der Pianist Oliver Schnyder haben mit dem "Krämerspiegel" eine Rarität von Richard Strauss eingespielt, freut sich Michael Stallknecht in der NZZ. Zu hören gibt es eine dem Komponisten rechtlich abgezwungene Auftragsarbeit, in der er seine Auftraggeber wüst beschimpfen ließ. Kompositorisch ließ Strauss aber auch auf diese Arbeit nichts kommen: "Dies schlägt sich vor allem in den ausufernden Klavierbegleitungen mit ihren teilweise horrend schwierigen Vor- und Nachspielen nieder, für die es schon einen Pianisten wie Oliver Schnyder braucht." Dieser "schöpft den vollen Reichtum seiner virtuosen Möglichkeiten aus und bringt den Klavierpart mit klarem und klanglich hochdifferenziertem Spiel zum Funkeln. Der beeindruckende Farbenreichtum seines Spiels zwischen trocken pointiertem Witz und expressiver Kraft verleiht auch der Stimme einen Schwung, auf dem Behle seinen Sinn für theatralen Humor optimal ausspielen kann."

Weitere Artikel: Frederik Hanssen ärgert sich im Tagesspiegel darüber, dass das RBB-Kulturradio seinen Klassikanteil zugunsten von "New Classics"-Harmoniesauce eindampft.  Andrew Holter führt für The Quietus durch das Schaffen von Henry Rollins, der am kommenden Samstag 60 Jahre alt wird.

Besprochen werden neue Veröffentlichungen von Robert Wyatt (NZZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter ein Album von Mayer Hawthorne (SZ). Wir hören rein:

Archiv: Musik