Efeu - Die Kulturrundschau

Der Berliner Eisblock und die Zürcher Urne

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16.02.2021. Die New York Times erinnert an das Superstudio, das einst die Menschen aus der Architektur befreien wollte. Auf ZeitOnline erkennt Anke Stelling, dass sich manche in Deutschland das Künstlerleben besser leisten können als andere. FAZ und SZ erleben mit Simon Rattle und Christoph Marthaler, dass die Liebe einfach zu radikal für diese Welt ist. Die FAZ grübelt über das Frauenbild von "Wonder Woman": Ist das Popfeminismus? Die taz spürt der Kraft der Liedermacherin und Aktivistin Fasia Jansen nach.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.02.2021 finden Sie hier

Architektur

Superstudio, Gli Atti Fondamentali, Vita (Supersuperficie), Viaggio da A a B, 1971 © Superstudio. Photo : Cristiano Toraldo di Francia

In der New York Times freut sich James Imam über die Ausstellung "Superstudio Migrazioni" im Brüsseler Kunstzentrum Civa, die an die Pioniere des italienischen Kollektivs Superstudio erinnert. Superstudio wollte in den siebziger Jahren die Menschen aus der Architektur befreien. Alles, was das Superstudio machte, resultierte aus der Unzufriedenheit mit der Uniformität moderner Architektur, in der die Mitglieder des linken Kollektivs ein Instrument des Kapitalismus sahen, der die Menschen um ihre Macht brachte, ihre Individualtät und Freiheit raubte. Manchmal karikierten sie den Status quo oder überzeichneten ihn, manchmal imaginierten sie eine utopische Zukunft. Die Foto-Montagen der Serie 'Continuous Moments' zeigen einen Monolithen, der die Wüste zerschneidet, den Grand Canyon überspannt und über den Hudson River ragt, um Lower Manhatten sein eigenen Raster aufzudrücken. Die unaufhaltbare Bewegung dieser Form durch natürliche und städtische Landschaften erscheint als Warnung vor der Dumpfheit, die klare moderne Linie erzeugen und unkontrollierte Expansion."
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Stichwörter: Superstudio

Literatur

Mit ihren Romanen über den Berliner Bezirk Prenzlauer Berg hat sich Anke Stelling, die selbst dort lebt, in ihrer Nachbarschaft eher nicht beliebt gemacht: Zu sehr rüttelten sie am Selbstbild des wohlhabenden juste milieus, das die egalitäre Gesellschaft zumindest unter sich schon verwirklicht sieht. Im Gespräch mit ZeitOnline berichtet Stelling von ihren Erfahrungen: "Ich kenne diese Sehnsucht nach einer gerechteren Welt ziemlich gut. Und ich habe sehr lange gebraucht, um zu begreifen, dass Deutschland eine Klassengesellschaft ist. Ich dachte: Ob ich es schaffe, hängt allein von mir ab. Inzwischen aber glaube ich, dass Klasse alles durchdringt. ... Ich bin mit einer Clique aufgewachsen, in der alle in die Kreativbranche gegangen sind", aber "irgendwann habe ich gemerkt: Wir machen zwar alle das Gleiche, aber nicht alle müssen davon leben. Also schon, aber manche müssen zum Beispiel keine Miete bezahlen. Die haben eine Eigentumswohnung von ihren Eltern oder sie werden irgendwann erben und müssen von ihren kläglichen Einkünften nicht auch noch vorsorgen. Sie können sich dieses Künstlerleben leisten."

Weitere Artikel: Online aus der FAS nachgereicht, erinnert Hernán D. Caro an Eduardo Galeanos vor fünfzig Jahren erschienenes Buch "Die offenen Adern Lateinamerikas", mit dem der Schriftsteller die Kolonialgeschichte des Kontinents mit literarischen Mitteln aufarbeitete. Für die FAZ reist Paul Ingendaay im Geiste auf den Spuren Don Quijotes nach La Mancha. Nachrufe auf den Soziologen, Künstler und Schriftsteller Urs Jaeggi schreiben Gustav Seibt (SZ), Nicola Kuhn (Tagesspiegel) und Ronald Pohl (Standard).

Besprochen werden unter anderem Patrick Modianos "Unsichtbare Tinte" (FR, NZZ), Andrea Serios Comic "Rhapsodie in Blau" (taz), Tessa Hadleys "Hin und zurück" (Tagesspiegel), Ralf Königs Pandemie-Comic "Vervirte Zeiten" (Tagesspiegel), Norbert Gstreins "Der zweite Jakob" (NZZ), der Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Ernst Krenek (NZZ), Callan Winks Debütroman "Big Sky Country" (SZ) und Ivo Andrićs Essayband "Insomnia" (FAZ).
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Film

Szene aus "Wonder Woman 1984" (Warner)

Patty Jenkins' neuer "Wonder Woman"-Film kommt nun auch in Deutschland lediglich per Stream auf den Markt. FAZ-Kritiker Dietmar Dath hat seine Zweifel, ob es in diesem in den Achtzigern spielenden Film mit Emanzipation noch allzu weit her ist: "Ist das Popfeminismus? Zu der Zeit, in der dieser Film spielt, hießen amerikanische Spielfilmheldinnen 'Silkwood' (Meryl Streep gegen die Atomindustrie, 1983) oder 'Norma Rae' (Sally Field als Textilarbeiterin und Gewerkschafterin, 1979), Wonder Woman hat mit dem, was man seinerzeit 'fortschrittlich' nannte, nicht viel am Schuh, nur Gal Gadot in der Hauptrolle überzeugt gleichstellungsperspektivisch."

In der FAZ beobachtet Edo Reents die Aktion #actout, die für eine höhere Sichtbarkeit sexuell diverser Lebensentwürfe in Kino und TV plädiert, sehr skeptisch: Zwar sieht auch er an der Lage für Minderheiten im Beruf nichts zu beschönigen, "die Frage ist nur, ob das, was #actout propagiert, vernünftig und praktikabel ist", schließlich gebe es  "über das mehrheitliche Vorkommen, so etwas wie Normalität, die dann eben auch in fiktionalen Werken entsprechend repräsentiert wird. Damit ist über Menschen, die anders ticken, keine wertende Aussage getroffen." Und "Filmemacher, denen an kommerziellem Erfolg gelegen ist, werden diese Tatsache, die geeignet ist, Erwartungen an eine allzu bunte Filmrepublik zu dämpfen, nicht aus den Augen verlieren. Im Übrigen ist es auch gar nicht so, dass das heftig herbeigewünschte Bunte, das von der Norm Abweichende nicht vorkäme im Kino und im Fernsehen; Regisseure wie Fassbinder, von Praunheim, Almodóvar sind längst kanonisiert und selbst Mainstream."

Klaus Lemkes neuester Film "Berlin Izza Bitch" ist zwar noch nicht zu sehen, SZ-Kritiker David Steinitz hat ihn vom Meister aber dennoch schon zugeschickt bekommen. Mal wieder zeigt sich Lemke darin als "unverschämt genauer Beobachter kleiner zwischenmenschlicher Komödien und Tragödien. Denn das Einzige, was er noch besser kann, als Filme zu drehen, ist herumlungern und beobachten." Etwa beim Dreh in Berlin: Als er mal "'dumm herumrumstand', habe ihn auf der Kantstraße umgehend ein Mann angesprochen. 'Der Mann sagte: weitermachen. Ihre Filme verdienen das. Ich frag den Fremden, was er macht. Schreiben. Was Schreiben? Er sagt: Ferdinand von Schirach.' Lemke zieht solche Begegnungen an wie ein Magnet. Wenn man mit ihm die Kantstraße in Berlin oder die Türkenstraße in München entlangspaziert, hat man nach einer halben Stunde mehr skurrile Begegnungen als sonst in einem Jahr." Um das Warten auf seinen neuen Film zu verkürzen, hat Lemke übrigens seine wunderbare Kretschmer-Komödie "Die Sweethearts" aus den 70ern online gestellt.

Außerdem: In der SZ empfiehlt Jürgen Moises die neue Ausgabe der Filmfachzeitschrift SigiGoetz Entertainment. Katrin Nussmayr porträtiert in der Presse CGI-Meister Christoph Sprenger, der sich auf die realistische Darstellung digitaler Haare und Hauttexturen spezialiert hat. David Steinitz von der SZ weiß derweil, wo Hollywood den Schnee holt.
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Bühne

Nadeshda Karjasina als Orphee (links) in Christoph Marthalers Inszenierung "Orphée et Euridice" am Zürcher Opernhaus. Foto: Monika Rittershaus

Gleich zwei Opernpremieren waren für das Wochenende angesetzt: Simon Rattle dirigierte Leos Janaceks spätromantische "Jenufa" in Berlin, Christoph Marthaler inszenierte Christoph Willibald Glucks nachbarocke Oper "Orphée et Euridice" in Zürich, und für den SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck ergab sich durch den Stream binnen weniger Stunden ein erschütterndes Opernerlebnis: "Vor allem aber fällt auf, dass beide Stücke über alle Ästhetiken und Dramaturgien hinweg ein und dieselbe destruktive Liebeskonzeption anbieten. Der Berliner Eisblock und die Zürcher Urne zeigen, dass die große Liebe für beide Komponisten im Alltag nicht lebbar ist. Sie ist zu radikal für diese Welt, zu egoistisch verzehrend, zu zerstörerisch, zu sehr mit dem Kopf durch die Wand. Gegen dieses Diktum aber wehrt sich die Musik mit allen Mitteln. Auch die Dirigenten erheben mit aller Macht und Leidenschaft dagegen Einspruch, sie sind die zentralen Protagonisten beider Produktionen. Simon Rattle putscht die Berliner Staatskapelle mit einer Leidenschaft auf, als müsste er ein Melodram von Giacomo Puccini mit prallem Klangleben füllen."

In der FAZ bewundert Jan Brachmann zwar "die sensationelle Altstimme von Nadeshda Karjasina als Orphée in ihrer ultravioletten Tiefe und ihrer infraroten Wärme", aber Marthalers Inszenierung sieht er vor dem Jenseits kapitulieren: "Um die Wiederauferstehung der Euridice zu feiern, bringt der Lieferservice in Pappkartons Pizza. Iss das, ein Glück!" Auch in der NZZ hätte sich Christian Widlhagen von Marthaler statt absurden Geistertheaters mehr Sinnstiftung gewünscht, vielleicht sogar heitere. Weitere Besprechungen in FR und Tsp.

Weiteres: Im Standard meldet Stefan Ender, dass die Wiener Staatsoper den Corona-Regeln ein Schnippchen schlägt und sich als Architekturmuseum öffnet.
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Design

Wenn FDP-, Grünen- oder SPD-Politiker wahlweise gelbe, grüne oder rote Accessoires tragen, wirkt das als politisches Signal meist plump, findet Tillmann Prüfer in seiner Stilkolumne im ZeitMagazin. Beeindruckender und eleganter findet er, wie sich Politikerinnen in den USA mit Farben schmücken: Violett als Farbe der politischen Annäherung in einem gespaltenen Land oder Weiß als Anspielung auf die Suffragetten: Diese "neue Art, sich politisch zu kleiden, ist raffinierter. Man wählt nicht die Farben der eigenen Organisation, sondern konstruiert Bezüge und macht Anspielungen, die den Betrachter zum Nachdenken anregen. Bis diese Art, sich zu kleiden, in Deutschland ankommt, wird es noch dauern. Bis dahin gucken wir auf Saskia Eskens rote Jacken und hoffen, dass nicht bald die ersten Männer mit weißen Anzügen der Suffragetten gedenken wollen."
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Stichwörter: Mode, Schmuck, Suffragetten, FDP

Kunst

Besprochen werden die Landschaftsbilder der kanadischen "Group of Seven" in der Frankfurter Schirn Kunsthalle (bei denen sich Tilman Spreckelsen in der FAZ und Marcus Woeller in der Welt allerdings fragen, ob der magnetische Norden tatsächlich so menschenleer war, wie sich die Maler imaginierten: auf ihnen ist kein einziger indianischer Ureinwohner zu sehen), die Anselm-Kiefer-Schau in der Kunsthalle Mannheim (FAZ) und Elliott Erwitts neuer Fotoband "Found, Not Lost" (Observer).
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Musik

Die deutsch-schwarze Liedermacherin und Aktivistin Fasia Jansen wird derzeit in Ausstellungen und weiteren Initiativen wiederentdeckt, schreibt Max Florian Kühlem in der taz. Ab den 50ern sollte sie als Jazzsängerin vermarktet werden, doch sie blieb "unabhängig und sang auch mit verstimmten Gitarren oder Akkordeon auf Friedens- und Protestmärschen, bei Arbeitskämpfen in der ganzen Republik. ... Hannes Wader, der sie zum ersten Mal bei den Folkfestivals auf der Burg Waldeck hörte, schreibt: 'Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie mich milde belächelte. Sie war in tausend Kämpfen erprobt und wahrscheinlich auch ohne Illusionen, nehme ich an. Da waren auch viele Rückschläge. Sie hat nie nachgelassen, ist nie zurückgewichen. So unbeirrt weiterzumachen, das ist wirkliche Kraft.'" Dieses Video hatten wir zwar an dieser Stelle schon mal, aber es ist auch wirklich sehr eindringlich:



Weitere Artikel: DJ Move D erklärt im FR-Gespräch, warum er damit unzufrieden ist, wie in der Pandemie mit Solo-Selbständigen umgegangen wird. Besprochen werden Arlo Parks' "Collapsed In Sunbeams" (Freitag), ein Konzert von Theresia Philipp und Shannon Barnett mit der hr-Bigband (FR), die Autobiografie von Tokio-Hotel-Musiker Bill Kaulitz (Freitag) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Weinberg-Aufnahme von Gidon Kremer (SZ). Wir hören rein:

Archiv: Musik