Efeu - Die Kulturrundschau

was lyrik will ist ein gesichertes einkommen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.02.2021. 54books dokumentiert das Lyrik-Manifest der Lytter-Zines. In der FAZ wünscht sich der Architektur Rudi Scheuermann grüne Vollbärte für Frankfurter Wolkenkratzer. Die SZ erlebt einen psychedelisch-traumseligen "Faust II" in virtueller Realität vom Theater Freiburg. Die FAZ lernt vom Nederlands Dans Theater, maskulin und feminin zugleich aufzutreten. Und die NZZ stellt beim Besuch der Zürcher Hochschule der Künste fest: Die Experimentierfreude des ersten Lockdowns hat sich erschöpft.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.02.2021 finden Sie hier

Literatur

54books dokumentiert das konsequenterweise aus Tweets collagierte Manifest des Lytter-Zines, das auf Twitter veröffentlichte Lyrik sammelt und illustriert. Der Einstieg als Auszug:

"was lyrik will ist ein gesichertes einkommen zwei urlaube im jahr und ab und an ein streichholz neben dem benzinkanister

was lyrik kriegt ist ein 'ist ja nett' 'aha mit reimen oder ohne' und 'kann man davon leben' (nein kann man nicht aber danke der nachfrage sagen sie was ist ihr lieblingsgedicht)

hallo kleine verlag ich hab ein gedicht gemacht wer will"

Weitere Artikel: In der Berliner Zeitung porträtiert Schayan Riaz den in Berlin lebenden und über Berlin schreibenden birtischen Schriftsteller Musa Okwonga. Michael Schleicher plaudert in der FR mit Dirk Rehm über 30 Jahre Reprodukt-Verlag. In der SZ verlangt Peter Richter nach einem Neudruck von Walter Serners Dada-Buch "Letzte Lockerung", das zwar bald 100 Jahre alt ist, aber bestens zur Gegenwart passe. Für Tell unterzieht Agnese Franceschini Friedrich Dürrenmatt dem Page-99-Test. In der Welt härtet sich Matthias Heine mit Thomas Manns "Zauberberg" für die Krisen der Gegenwart ab. Die SZ spricht mit Ralf König über dessen Corona-Comic "Vervirte Zeiten".

Besprochen werden unter anderem Hengameh Yaghoobifarahs Debütroman "Ministerium der Träume" (Freitag), Leander Fischers Debütroman "Die Forelle" (Tagesspiegel), Ottessa Moshfeghs "Der Tod in ihren Händen" (Jungle World), Hans Pleschinskis "Am Götterbaum" (taz) und Cho Nam-Joos "Kim Jiyoung, geboren 1982" (SZ) und Olaf Arndts "Unterdeutschland" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Mit seiner Forderung nach Begrünung städtischer Häuser weckt der Architekt und Ingenieur Rudi Scheuermann, der auch die Schau "Einfach Grün" im Frankfurter  DAM kuratierte, bei FAZ-Interviewer Niklas Maak Ängste, die Frankfurter Wolkenkratzer könnten bald so aussehen, als hätte man ihnen grünen Vollbärte angeklebt: "Im Moment haben wir in Hochhausstädten bis zu zehn Grad höhere Temperaturen als im Umfeld. Wenn man ein Fünftel jeder Gebäudeseite begrünen würde, könnten wir tatsächlich die Überhitzungseffekte in den Städten ausgleichen... Am besten wäre es für die Natur natürlich, wenn wir gar nicht bauten - aber wir bauen eben, und deshalb geht es darum, den Schaden zu begrenzen und mit Begrünung zur Verdunstungskühlung, zur Feinstaubfilterung und zur akustischen Dämpfung beizutragen."
Archiv: Architektur

Bühne

Krzysztof Garbaczewskis "Faust"-Inszenierung am Theater Freiburg. Foto: Britt Schilling.

Immer häufiger experimentieren Theater jetzt auch mit der Virtual Reality, in Augsburg etwa oder in Graz mit Johan Harstads postapokalyptischen Stück "Krasnojarsk". Herausragend findet SZ-Kritikerin Christine Dössel allerdings die hybride "Faust II"-Version des polnischen Regisseur Krzysztof Garbaczewski am Theater Freiburg: "Aus der Pandemienot geboren entstand ein Theaterbastard von seltsamer Schönheit. Live auf der Bühne, im Film und in den digitalen Räumen virtueller Technologien treffen hier Schauspieler (mit Spezialbrillen) und Avatare aufeinander, können miteinander interagieren. Man wähnt sich wie in einem High-Brow-Computerspiel, in einer neonbunten Science-Fiction-Welt voller befremdlicher Wesen. Als habe Susanne Kennedy 'Second Life' gekapert und ins Psychedelisch-Traumselige weitergeführt. Als Zuschauer kann, muss man dafür aber keine VR-Brille tragen. Die Aufführungen wurden - und werden hoffentlich weiter - live aus dem Theater gestreamt."

Das Nederlands Dans Theater hat schon immer das Establishment, seine Konventionen und Klischees hinterfragt, versichert Wiebke Hüster in der FAZ, und auch mit der Choreografie der Geschwister Imre und Marne van Opstal weise es in die Zukunft des zeitgenössischen Tanzes: "Zwei der jungen, herausragenden Tänzer sind wie Frauen frisiert und geschminkt und bekennen sich eingangs zu ihrer fluiden Identität. Und berichten davon, wie schwer es manchmal draußen auf der Straße ist, sich maskulin und feminin zugleich zu zeigen. Hier in der bewusst widerspruchsreichen, alle möglichen Idiome kunstvoll vermischenden Choreographie 'Baby don't hurt me' erzeugt ihr Tanz intuitives Verständnis für ihre Lebensentscheidung. Sofort denkt man: Ihr sollt ohne Gefahr frei wählen können, wer und wie ihr sein wollt!"

Der Standard meldet, dass die französische-senegalesische Tänzerin und Choreografin Germaine Acogny den Goldenen Löwen der Tanzbiennale von Venedig erhält. Besprochen wird Leos Janáčeks "Jenufa" unter Simon Rattle und Damiano Michieletto an der Berliner Staatsoper (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Vorsicht, Rutschgefahr! Adam Masons und Simon Boyes Corona-Horrorfilm "Songbird"

Adam Mason und Simon Boyes haben ihren Monsterfilm "Songbird" spontan der Coronapandemie angepasst und sich ein Szenario im Jahr 2024 imaginiert, in dem das Coronavirus endgültig zur Killermaschine mutiert ist. Jetzt ist das Resultat da und ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt nicht begeistert: "Die Cleverness, mit der der Film das verbliebene Leben auf den Straßen des weitgehend leblosen Los Angeles zeigt, fehlt ihm jedoch in allen anderen Belangen. ... Vielleicht hätte dieser Film auch eine Botschaft über pandemische Klassensysteme enthalten können, die sich nicht in der offensichtlichen Erkenntnis erschöpft, dass reiche Menschen für ein Leben im Lockdown besser gewappnet sind als arme. Mason rutscht mit 'Songbird' jedoch schon auf den glatten Oberflächen dieser Themen aus." Immerhin könne diese "Nullnummer für sich in Anspruch nehmen, der weltweit erste Covid-Exploitation-Film zu sein", schimpft auch Markus Keuschnigg in der Presse.

Weitere Artikel: Christiane Peitz meldet im Tagesspiegel die bitteren Pandemie-Zahlen der FFA: 2020 wurden 80,5 Millionen weniger Tickets verkauft als im Jahr zuvor. Andeas Hartmann schreibt in der taz zur Lage des Berliner Videodroms, der besten Videothek der Stadt, die immerhin auch im Lockdown noch Filme verleihen darf. Rainer Moritz erinnert sich in der NZZ an die goldene Zeit der Schwarzweiß-Fernsehserien, für ihn "Oasen, die fernab aller Tagesaktualität liegen." In der SZ gratuliert der Schriftsteller Thomas Brussig dem Schauspieler Herbert Köfer zum 100. Geburtstag.

Besprochen werden Patty Jenkins' per Stream veröffentlichter Blockbuster "Wonder Woman 1984", der auch die vom ersten Teil noch begeisterten Filmkritikerinnen eher enttäuscht zurücklässt (Tagesspiegel, ZeitOnline) und die Krimikomödie "I Care a Lot" mit Rosamund Pike (Presse).
Archiv: Film

Kunst

Lensculture annonciert die Gewinner seines Fotografie-Wettbewerbs 2021. Beate Scheder empfiehlt in der taz die Ausstellung "Stadt und Knete" im Berliner Kunstraum after the butcher, die den Protest gegen die Privatisierung des Stadtraums in den neunziger Jahren dokuentiert. Catrin Lorch schreibt in der SZ den Nachruf auf die peruanische Künstlerin Teresa Burger. Anand einer Schiele-Zeichnung, die Köln restituieren will, erklärt Olga Kronsteiner im Standard Unterschiede zwischen den deutschen und österreichischen Usancen.
Archiv: Kunst

Musik

Thomas Schacher blickt sich für die NZZ an der Zürcher Hochschule der Künste um, wie dort in der Pandemie Musik gelehrt wird: "Einzelunterricht und Gruppenlektionen mit bis zu vier Musikstudenten werden als Präsenzunterricht durchgeführt. Größere Ensembles, Chöre und Orchester können dagegen nicht proben. ... Klassenstunden finden teilweise online statt", aber "die Experimentierfreude, ja Euphorie im Hinblick auf die digitalen Möglichkeiten, die nach dem ersten Lockdown teilweise ausgebrochen sei, erscheine nun, nach dem zweiten Lockdown, weitgehend ermüdet. Dennoch sehe man etwa auf Social Media viele kreative Experimente, in deren Rahmen die Studierenden ihre Musik zeigen könnten."

Daniel Schieferdecker plaudert für ZeitOnline mit Kool Savas, der über den Beef, den Bushido mit ihm einst angefangen hat, auch heute noch steht: "Weil ich Bushido lyrisch aber nie auf meiner Ebene gesehen habe, da darübergestanden und nie darauf reagiert habe, habe ich dieses Battle in meinen Augen gewonnen."

Weitere Artikel: Karl Fluch kann sich im Standard gut vorstellen, dass die große Blase rund ums Musikrechteinekaufen in absehbarer Zeit platzen wird. Roland H. Dippel resümiert in der NMZ das Ensemblefestival Leipzig. Die dpa meldet den Tod des Salsapioniers Johnny Pacheco.

Besprochen werden Sarah Smarshs Biografie über Dolly Parton (NZZ), das gemeinsame Album "Jours de grève" von Emmanuelle Parrenin und Tolouse Low Trax (taz), das neue Album von The Hold Steady (FR) und neue Popveröffentlichungen, darunter die neue EP der Tindersticks - für Jens-Christian Rabe in der SZ "das erste Pop-Meisterwerk des Post-Maskulinismus." Wir hören rein:

Archiv: Musik