Efeu - Die Kulturrundschau

Die großen Träume träumen

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20.02.2021. Endlich mal ein zukunftsfroher Blick nach oben: Die SZ bestaunt die neuen Glasdächer der Penn Station in New York. Der Tagesspiegel stellt den von Nicolaus Schmidt fotografierten "Kosmos Gayhane" vor, in dem queere Menschen aus dem türkischen und arabischen Raum angstfrei feiern können. Die taz begeistert sich für kubanische Revolutionärinnen und Cuba Funk. Artechock unterhält sich mit Mikosch Horn über dessen Cinemalovers, eine neue Plattform für Kinobetreiber. In den USA entwickeln sich die Literaturwissenschaften immer mehr zu einem Machtinstrument, diagnostiziert Wolf Lepenies in der Welt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.02.2021 finden Sie hier

Architektur

Die neue Moynihan Hall der Penn Station. Foto: SOM Architekten


Mit großer Begeisterung spaziert Christian Zaschke für die SZ durch die unterirdische, einst so bedrückende Penn Station in New York, die um eine 1,6 Milliarden Dollar teure neue Halle erweitert wurde und jetzt zumindest in Sachen Schönheit der großartigen Central Station Konkurrenz macht: Die Architekten von Skidmore, Owings & Merrill haben "riesige Stahlträger freilegen lassen, die das Deckengewölbe halten" und Glas dazwischen gespannt: "Diese Dächer machen klar, worauf es hier im Gegensatz zu dem unterirdischen Bau ankommt: aufs Licht. Entstanden ist eine nahezu perfekte Verbindung aus alter Substanz und moderner Architektur. Allein der Kunst [von Kehinde Wiley, Stan Douglas und Elmgreen & Dragset] wegen lohnt sich ein Besuch ... Der Blick geht in diesem Gebäude wieder nach oben. Das wäre zu allen Zeiten ein großer Wurf gewesen, aber dass die Moynihan Train Hall inmitten der Pandemie eröffnet wurde, wirkt wie eine Ermutigung, ein Hinweis auf eine Zeit, in der das Reisen nicht nur wieder möglich ist, sondern eine Freude sein kann. [Der NYT-Architekturkritiker Michael] Kimmelman schrieb kürzlich: 'New York hat sich nach Rezessionen und Rückschlägen immer zurückgekämpft, indem es die großen Träume träumte.'"
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Design

Nicolas Freund schreibt in der SZ einen kurzen Nachruf auf den Grafikdesigner Bruce Blackburn, der das klassische NASA-Emblem gestaltet hat.
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Musik

Begeistert beugt sich Detlef Diederichsen von der taz über einen neuen Bildband, der Cover-Artworks kubanischer Musikproduktionen von 1959 bis 1990 versammelt: Insbesondere das Frauenbild steht und fällt mit der Revolution, erfahren wir - aus schmachtenden, leicht bekleideten Frauen werden grimmige Kombattantinnen. Interessant ist auch eine die Veröffentlichung begleitende Compilation: Auf Kuba hatte man die "Elektrifizierung des Jazz und die sich immer ausdifferenzierenden Funk-Beats" offenbar genau im Blick und entwickelte "eine Art fremdelnde Faszination für aktuelle klangliche Neuerungen aus dem musikalischen Norden, etwa elektronische Keyboards wie E-Piano, Clavinet oder diverse analoge Synthesizer, andererseits per Wah-Wah- und Distortion-Pedal aufgepimpte E-Gitarren und den dabei entstehenden neuen Spielweisen. Bei Juan Pablo Torres' 'Rompe Cocorioco' meint man fast eine Art kreative Verzweiflung herauszuhören, wie er da diverse elektronische Keyboards mit Funky Beats und Streicherwänden kontrastiert und schließlich noch mit einem monophonen Synthesizer garniert, als wollte er zeigen: Das können wir alles auch!"



Weitere Artikel: Die taz sammelt Stimmen zum Tod von Françoise Cactus. Der BR hat ein großes Gespräch mit der Berliner Popikone aus dem Archiv geholt sowie die beiden Hörspiele "Killerschildkröten" und "Autobigophonie", an denen sie mitwirkte. In der FAZ gratuliert Jan Wiele Buffy Sainte-Marie zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Masha Qrellas "Woanders", für das die Berliner Musikerin auf Texte von Thomas Brasch zurückgegriffen hat (Spiegel, mehr dazu bereits hier), das CD-Kompendium "Bob Dylan - 1970" (FR) das neue Album von Xatar (ZeitOnline) und das Debüt der Berliner Underground-Popmusikerin Albertine Sarges (Jungle World). Wir hören rein:

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Literatur

Die NZZ bringt ein erstmals auf Deutsch übersetztes Gespräch, das Mario Vargas Llosa und Jorge Luis Borges im Juni 1981 geführt haben. Letzterer gibt sich dabei als "alter spencerscher Anarchist" zu erkennen: "Ich glaube, der Staat ist ein Übel, einstweilen jedoch ein notwendiges Übel. Wäre ich Diktator, würde ich abdanken und zurückkehren zu meiner kleinen bescheidenen Literatur, denn eine Lösung anzubieten habe ich nicht. Ich bin ein verwirrter Mensch, ein verzagter, wie alle meine Landsleute."

Die Literaturwissenschaft wird zur "Post-Disziplin", wenn sie, wie es in amerikanische Elite-Universitäten bereits der Fall ist, zur flankierenden Ausbildungsoption in anderen Studienfächern wird, um etwa Betriebswirtschaftlern ein höheres ethisches Bewusstsein und Medizinern mehr Einfühlungsvermögen zu vermitteln - so lautet jedenfalls Wolf Lepenies' Fazit in der Literarischen Welt. Freilich sei das nur Fassade: "Das literaturgestützte Training in 'Empathie' wird von den Trainern selbst beinahe zynisch als ein Machtinstrument beschrieben, als Möglichkeit, durch das Sich-hinein-Versetzen in den Anderen diesen besser zu beeinflussen."

Weitere Artikel: In der taz spricht Mithu Sanyal über ihr Romandebüt "Identitti" und warum sie erst jetzt einen Roman veröffentlicht hat: "Dass ich das bisher nicht gemacht habe, liegt auch an Rassismus. Ich dachte, das wäre für Leute wie mich nicht möglich." (Salman Rushdie staunt.) Für die SZ liest Lothar Müller die aktuelle Ausgabe von Text und Kritik, die sich mit dem Schriftsteller Thomas Hürlimann befasst. Steffen Herrmann berichtet in der FR vom Auftakt des Frankfurter Literaturfestivals. Im Literaturfeature von Dlf Kultur befassen sich Lore Kleinert und Mechthild Müser mit den Büchern von Lucia Berlin. Für die Literarische Welt porträtiert Jan Küveler die New Yorker Essayistin Jia Tolentino, deren Texte bald auf Deutsch erscheinen. Harald Hartung (FAZ) und Klaus Birnstiel (Literarische Welt) schreiben über die vor 400 Jahren geborene Barockdichterin Sibylla Schwarz.

Besprochen werden unter anderem Tove Ditlevsens "Kopenhagen-Trilogie" (taz, Welt), eine dem Comicpionier Will Eisner gewidmete Online-Ausstellung in Dortmund (Tagesspiegel), Ally Kleins "Der Wal" (FR), Patrick Modianos "Unsichtbare Tinte" (Literarische Welt) und Florian Werners "Die Raststätte. Eine Liebeserklärung" (FAZ).
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Film

Anpacken, statt lamentieren: Mikosch Horn hat mit "Cinemalovers" eine Plattform für Kinobetreiber geschaffen, um im Lockdown Filme online zu zeigen und den Kontakt zum Publikum zu halten. Viele Kinos haben sich dem bereits angeschlossen. Dunja Bialas hat für Artechock mit dem Nürnberger Kinomacher und Verleiher ein längeres Gespräch über das schon länger geplante Projekt geführt. Sorge, dass Filme dabei aus dem Kino eher herauskomplimentiert werden, hat er nicht: "Wenn ich einen Film schätze, will ich ihn als Kinomacher möglichst lange im Kino halten. Als Verleiher aber weiß ich auch, dass dies in der Praxis oft nicht umsetzbar ist. Andererseits ist es ja jetzt schon so, dass es für bestimmte Filme gar keine Kinoorte mehr gibt. Wenn der Film dann wenigstens in einem digitalen Kinoraum zu sehen wäre, würde dies für den lokalen Besucher die Situation sogar verbessern. Aber es bleibt ambivalent. Ich möchte als Kinobetreiber und als Verleiher immer das Kino verteidigen, sehe aber eine Realität, die daran vorbeigeht. Ganz tolle Filme kommen in weiten Teilen Deutschland schon gar nicht mehr oder nur sehr kurz ins Kino. ... Ich möchte neue Leute ins Kino bringen, gleichzeitig aber den digitalen Raum nicht den großen Online-Videotheken überlassen."

Weitere Artikel: Bert Rebhandl empfiehlt in der FAZ die Online-Retrospektive des Münchner Filmmuseums zur Filmemachergruppe rund um Nicolas Humbert. In der Welt gratuliert Manuel Brug dem österreichischen Filmmogul Karl Spiehs zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden die Amazon-Serie "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" (Freitag, Spiegel), der Netflix-Film "I Care a Lot" mit Rosamund Pike (ZeitOnline, Standard), die Netflix-Serie "Tribes of Europa" (FAZ), Patty Jenkins' neuer "Wonder Woman"-Film (SZ) und Dieter Kosslicks Memoiren "Immer auf dem Teppich bleiben" (FAZ).
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Bühne

In der Zeit (online nachgereicht) erzählt Volker Hagedorn von seinem Versuch, sich ganz allein zwei Opernpremieren - "Freischütz" in München und "Jenůfa" in Berlin - im Livestream anzugucken. Die nmz gibt Streamingtipps für die nächsten sieben Tage. Besprochen werden Susanne Draxlers Adaption von Olga Grjasnowas Roman "Gott ist nicht schüchtern" im Wiener Werk X (nachtkritik).
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Stichwörter: Werk X

Kunst

Nadine Lange stellt im Tagesspiegel den Bildband "Kosmos Gayhane" des Berliner Fotograf Nicolaus Schmidt vor. Schmidt durfte als einziger bei den Gayhane-Partys im Berliner SO 36 fotografieren und das hatte seinen Grund: "Da sich die seit 1998 im SO 36 stattfindende Party insbesondere an queere Menschen aus dem türkischen und arabischen Raum richtet - der Event-Name bedeutet etwa 'schwules Haus' - ist es den Veranstalter*innen wichtig, dass hier auch nicht geoutete Personen ungezwungen feiern können. Niemand soll Angst haben, dass ein missgünstiger Verwandter seinen schwulen Cousin fotografiert, um ihn im Familienkreis schlechtzumachen, gar zu erpressen. ... 'Gayhane' ist ein hart erkämpfter Raum, der viele Wandlungen durchgemacht hat. Inzwischen kommen auch viele Geflüchtete. Einer von ihnen ist Prince Emrah, der mit seinen Bauchtanz- Einlagen zu den Stars der Bühnenshows zählt. Seine Hüftschwünge kann man derzeit nur im Netz bewundern." Das machen wir:




Der Künstler Gregor Schneider hat in der St. Matthäus Kirche in Berlin-Tiergarten einen "Kreuzgang" aufgestellt und ja, das hat einiges zu tun mit dem an die Kaaba in Mekka erinnernden Kubus, den er an so vielen europäischen Orten nicht aufstellen durfte, bis die Hamburger Kunsthalle sich schließlich dazu bereit erklärte, erzählt er im Interview mit dem Tagesspiegel: "Wenn ich die Kaaba abstrahiere, habe ich nur noch einen abstrakten Würfel vor mir und zugleich eine Verbindung zu Malewitschs schwarzem Quadrat. Entfalte ich diesen Würfel, entsteht ein Kreuz. Es steckt in jedem Kubus." Den Kubus aber, erinnert er sich, durfte er 2006 auch in Berlin nicht aufstellen: "Obwohl die Texte bereits beim Verlag waren, in denen betont wurde, wie wichtig die Skulptur für die Freiheit der Kunst sei. In der Pressemitteilung dagegen war nur zu lesen, der Cube müsse an anderen aufgeladenen Orten, etwa in Jerusalem oder am Ground Zero in New York, stattfinden. Auch in Paris, London, New York, Zaragossa, Neuchatel, Posen und nochmals Venedig sind Kuratoren damit gescheitert. All das schleppe ich bis heute unausgesprochen mit mir herum, es ist Teil meiner Arbeit geblieben und taucht auch in St. Matthäus wieder auf."

Catrin Lorch besucht für die SZ die Sammlung des MMK Frankfurts und lernt, wie kompliziert es ist, moderne Kunst zu erwerben: "Das 'Bouquet' der Niederländer Jeroen de Rijke und Willem de Rooij in der Sammlung des MMK besteht eigentlich nur aus der Anleitung, wie ein Florist die Blumen zusammenstecken soll. Wer ein Werk des international gefeierten Tino Sehgal für ein Museum ankauft, darf nicht einmal einen Kaufvertrag aufsetzen." Und der Preis für ein Readymade des amerikanischen Künstlers Cameron Rowland "errechnet sich jetzt aus der Rechnung des Auktionators, verteilt auf die Leasingraten eines Vertrags, der zunächst - wie bei einem Autokauf - über die Zeit von fünf Jahren läuft."

Weiteres: Bei Hyperallergic stellt John Yau die New Yorker Kunstveteranin Angela Dufresne vor: "Viele erzählende Maler haben in den letzten zehn Jahren Aufmerksamkeit erregt, aber mir fällt keiner ein, der so überraschend, witzig, beunruhigend, zärtlich, verrückt, herausfordernd, theatralisch und radikal fantasievoll ist wie Angela Dufresne." In der FAZ geht Stefan Trinks der Frage nach, warum jemand Künstler wird. Und Andreas Platthaus freut sich über den Ankauf von vierhundert Zeichnungen von Greser & Lenz für das Frankfurter Caricatura-Museum. Besprochen werden Ausstellungen des Medienkunstfests Transmediale 2021 in Berlin (taz).
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