Efeu - Die Kulturrundschau

Keine Zeit zwischen den Zeiten

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.03.2021. Der Guardian weiß, warum die Dichterin Marieke Lucas Rijneveld darauf verzichen musste, die Gedichte von Amanda Gorman ins Niederländische zu übersetzen. Die FAZ trifft die libanesische Autorin Chaza Charafeddine in Beirut. Tagesspiegel und ZeitOnline blicken auf die nackten Seelen und in Dominik Grafs Kästner-Verfilmung "Fabian". Die NZZ trauert um die zum Abriss freigegebenen Maag-Hallen. Die SZ schwelgt mit Pınar Karabuluts Webserie "Edward II." im rosafarbenen Trash.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.03.2021 finden Sie hier

Literatur

Während in Deutschland die nigerianisch-britische Autorin Sharon Dodua Otoo gefeiert wird, deren Hauptfigur in ihrem Roman "Adas Raum" sich zeitweise als Jüdin in einem KZ wiederfindet, sah sich in den Niederlanden die Dichterin Marieke Lucas Rijneveld, die - auf Wunsch der Autorin - Amanda Gorman ins Niederländische übersetzen sollte, einem derartigen Shitstorm ausgesetzt, dass sie dankend verzichtete, berichtet Alison Flood im Guardian: "Die Journalistin und Aktivistin Janice Deul führte die Kritiker mit einem Artikel im Volkskrant an, in dem sie fragte, warum der Verlag Meulenhoff nicht einen Übersetzer gewählt hatte, der wie Gorman ein 'Spoken-Word-Künstler, jung, weiblich und unapologetisch schwarz ist ... Ist es nicht - gelinde gesagt - eine verpasste Gelegenheit, Marieke Lucas Rijneveld für diesen Job [zu engagieren]? Sie ist weiß, nicht-binär, hat keine Erfahrung in diesem Bereich, ist aber laut Meulenhoff trotzdem die 'Traumübersetzerin'?'"

Lena Bopp hat sich für die FAZ in Beirut mit der libanesischen Autorin Chaza Charafeddine getroffen, die nach der Explosion im Hafen im vergangenen Jahr und nach dem Mord an dem Intellektuellen Lokman Slim erst recht nicht einsieht ihr Land zu verlassen. In ihrem Buch "Beirut für wilde Mädchen" erinnert sie sich an eine Kindheit, die sie in liberaler Umgebung genoss, und den Einzug fundamentalistischer Ideologie: "Dass sie beschreibt, wie die ausgelassenen Feste zu Hause von Gebetssitzungen abgelöst wurden, dass der Vater seine europäische durch türkische Kleidung ersetzte, dass er seit den achtziger Jahren nicht mehr im Kino war und nun bedauert, seinen Töchtern erlaubt zu haben, vor dem Bürgerkrieg nach Europa zu fliehen; auch dass sie erzählt, wie fast alle Frauen der Familie sich verschleierten ... all das hat gereicht, um Charafeddines Mutter drei Monate lang nicht mit ihrer Tochter sprechen zu lassen."

Weitere Artikel: Für die FR referiert Inge Günther die Missbrauchsvorwürfe, die Galia Oz gegenüber ihrem Vater Amos Oz laut macht. Besprochen werden unter anderem Arno Camenischs "Der Schatten über dem Dorf" (NZZ), Takis Würgers "Noah" (taz), Gertrud Leuteneggers "Späte Gäste" (SZ) und Leonhard Hieronymis "In zwangloser Gesellschaft" (FAZ).
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Kunst

Vanessa Baird: Rubislaw Girl, 2020. Bild: Drawing Room

Einen Witz, der ans Boshafte grenzt, erkennt Guardian-Kritiker Adrian Searle in den Bildern der norwegischen Künstlerin Vanessa Baird, deren erste Schau in Britannien heute im Drawing Room online eröffnet: "Bairds Kunst ist voll von urtümlichen Szenen und Obszönitäten, üblen Gerüchen und ekligen Momente. Was auch immer verdrängt wird, es sickert heraus: Leute übergeben sich beim Abendessen, Baird zeigt ihren Arsch und Mama bekommt einen Schoß voll Exkremente. Und da ist die Künstlerin, die mit Wahrnsinn in den Augen über die ausgemergelte Mutter zu ihren Füßen wacht. 'I Need a Doctor' schreit die Inschrift der Zeichnung. So unzensiert wie produktiv, ist Bairds Kunst inkontinent, sowohl psychologisch als auch physisch. Sie schlug einmal ein Buch mit dem Titel 'Thirty Shades of Brown' vor. Das erinnert mich an die Bemerkung der Malerin Marlene Dumas: 'Ich male, weil ich eine schmutzige Frau bin.'"

Weiteres: In Artnews stellt Alex Greenberger die berühmtesten Kunstwerke zusammen, denen der Ruch geraubter Kunst anhängt, von der Nofretete über die Benin-Bronzen, den Parthenon Fries bis zur Quadriga von San Marco. Andreas Platthaus wirft für die FAZ einen Blick in die Online-Schau des Kurpfälzischen Museum Heidelberg mit Zeichnungen von Friedrich Dürrenmatt.
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Film

Tom Schilling ist Fabian in Dominik Grafs gleichnamigem Film.

Seufz. Sehen kann man Dominik Grafs neuen Film "Fabian" zwar noch nicht auf der Berlinale, aber immerhin kann man sich an den begeisterten Kritiken freuen. Graf hat Kästners Vorlage "gründlich entsäuert und ein Gesellschaftsporträt der frühen Dreißigerjahre daraus gemacht, das so durchscheinend ist, dass man oft vergisst, nicht im Berlin der Gegenwart zu sein", schreibt Kathleen Hildebrand in der SZ und badet förmlich in den "sommerlich-melancholischen Bildern" dieses Films, nicht zuletzt weil Tom Schilling, Saskia Rosendahl und Albrecht Schub "lieben, lachen und so unverstellt an ihrer Zeit leiden".

In diesem Berlin "steckt der Krieg den Menschen noch in den Knochen, und die ersten Nazis stecken schon in Uniform", hält Christian Peitz im Tagesspiegel fest. Zu sehen gibt es "nackte Seelen, schwärende Wunden, wilde Verzweiflung. ... Es sind Getriebene, heimgesucht von den weggeschossenen Gesichtern der Veteranen, vom Dreck zwischen den Kriegen. Schwarzweiß-Berlinbilder von damals, expressionistische Splitscreens - und einmal entdeckt Fabian vor der Haustür die Stolpersteine von heute:Es bleibt keine Zeit zwischen den Zeiten." Allerdings "entlastet Graf Kästner vom gegenwartspolitischen Verwertungszusammenhang", schreibt Elmar Krekeler in der Welt. Und er "versteckt den Gegenwartsverweisfinger auch nicht - wie es 'Babylon Berlin' gern tut - unter einer prunkenden Ausstattungsdecke". Tanz auf dem Vulkan? Weimar-Kitsch? Nein, Graf und sein Kameramann Hanno Lentz lassen das weit hinter sich, meint Carolin Ströbele auf ZeitOnline: Man könnte den Film "durchaus als Hommage an das Filmeschaffen selbst sehen: Schwarz-Weiß, Stummfilm, Tonfilm, körniges Super 8 und hyperrealistische HD-Optiken wechseln sich fast unmerklich ab." Schade allerdings, dass der Film sich am Ende doch einer "weltschmerzhaften Untergangsstimmung hingibt."

Für Artechock hat Rüdiger Suchsland mit Graf über dessen Film gesprochen:



Von der Berlinale besprochen wird außerdem Maria Schraders "Ich bin Dein Mensch", eine romantische Komödie mit Roboter (FAZ, Dlf Kultur, taz).

Weitere Artikel: Adrian Daub (ZeitOnline), Urs Bühler (NZZ), Katrin Nussmayer (Presse), Verena Harzer und Tobias Kniebe (SZ) berichten von der Verleihung der Golden Globes. Andrey Arnold porträtiert die Filmemacherin Chloé Zhao, deren "Nomadland" bei den Globes groß abräumte (mehr über Zhao hier). Frank Schirrmeister vom Freitag vermisst im deutschen Film Diversität und gesellschaftliche Realität. Im Kracauer-Blog des Filmdiensts befasst sich Esther Buss mit dem Langzeitprojekt "Träume von Räumen" des dffb-Studenten Matthias Lintner.
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Bühne

Hemmungslos ros: Pınar Karabuluts "Edward II.". Foto: Schauspiel Köln


Wenn schon denn schon: Mit dem Schauspiel Köln hat Regisseurin Pınar Karabulut Ewald Palmetshofers Stück "Edward II. - Die Liebe bin ich" als Theater-Webserie - auf Dramazone Prime - inszeniert, das in Anlehnung an Christopher Marlowe vom englischen König erzählt, der ganz in der Liebe zu seinem Favoriten Gaveston aufgeht. In der SZ ist Christiane Lutz hingerissen: "Die Peers, also der Hofadel, sehen Moral und Macht in Gefahr. Denn weil Liebe auch ein bisschen dumm macht, vernachlässigt Edward die Staatsgeschäfte. Und überhaupt: Ein Mann mit einem Mann, das findet zumindest der Bischof nicht in Ordnung. Königin Isabella gerät zwischen die Fronten, und am Ende sind einige tot. Wer Pınar Karabuluts Theaterarbeiten kennt, weiß, dass die 34-Jährige eine Leidenschaft hat für Bling-Bling, Glamour und Mode, für Popmusik und rosafarbenen Trash. Der frönt sie hier hemmungslos."

Besprochen werden das Theater-Webinar "Lernen aus dem Lockdown" mit Boris Nikitin im Frankfurter Mousonturm (FR) und Frans Poelstras Performance über die Siebziger aus dem Wiener Theater Brut (Standard).
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Design

Marina Razumovskaya porträtiert in der taz den heute in Berlin lebenden Modefotografen Vladimir Sichov, der in den Achtzigern den Jet-Set in vollen Zügen genoss. Besprochen wird ein Bildband über den Marchese Emilio di Capri (taz).
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Musik

Schade findet es Sabine von Fischer in der NZZ, dass mit dem Auszug des Tonhalle-Orchesters die Zürcher Maag-Hallen, die dem Klangkörper als Improvisorium dienten, nun dem Abriss preisgegeben sind: "Innert kürzester Zeit wurde aus der rohen und vielseitig genutzten Halle ein Bijou für klassische Musik. Mit Begeisterung erinnern sich die Akustiker Karlheinz Müller und Michael Wahl, die auch historische Konzertsäle für höchste Ansprüche wie die historische Zürcher Tonhalle im Stadtzentrum detaillieren, an ihre Zusammenarbeit mit den Architekten: 'Es ging so schnell wie sonst nie, wir haben vorab Entscheidungen getroffen. Entstanden ist eine Halle mit einem eigenen Ruf, mit großem Flair'."

Weitere Artikel: Manuel Brug rettet in der Welt Antonio Salieris Ehre, der keineswegs der Mozart-Mörder war, für den ihn viele halten. Joachim Hentschel plaudert in der SZ mit dem Rapper Rag'n'Bone.

Besprochen werden Kìzis' Album "Tidibàbide" (Standard), ein Porträtfilm über Billie Eilish (FAZ), das neue Album von Nick Cave und Warren Ellis (Pitchfork, mehr dazu hier), Martin Rempes Handbuch "Kunst, Spiel, Arbeit. Musikerleben in Deutschland 1850 bis 1960" (FAZ), neue Klassikveröffentlichungen, darunter Hiyoli Togawas Album "Songs of Solitude" (SZ) und Julien Bakers neues Album "Little Oblivions", für dessen "ironie- und ebenenbefreite Popdramatik" man gemacht sein muss, um sie goutieren zu können, meint ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt.
Archiv: Musik