Efeu - Die Kulturrundschau

Rhapsodische Freiheit

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11.03.2021. Die FR amüsiert sich in der Schirn mit Shit Faith und anderen Provokationen von Gilbert & George. Die Zeit lernt von Caspar David Friedrich, das im Nebel etwas Neues verborgen liegen kann. In der NZZ erklärt Mithu Sanyal, wie produktiv und tragisch zugleich Identitätspolitik sein kann. In der SZ fragt sich Kazuo Ishiguro, ob Künstliche Intelligenz uns auch deshalb Angst macht, weil sie so gut ist. Die Zeit stöbert bei Google Arts & Culture durch 13.000 Online-Exponate zur Geschichte der elektronischen Musik.In der taz hat Klaus Lemke eine ausgezeichnete Idee zur Rettung des Kinos: es muss sich als Nonstop-Kino wiedererfinden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.03.2021 finden Sie hier

Kunst

Gilbert & George, Christs, 1992, Privatsammlung, courtesy of Gilbert & George


Als Sandra Danicke für die FR die Schirn betritt, die eine Retrospektive des elegant gekleideten britischen Künstlerpaars Gilbert & George zeigt, fühlt sie sich angesichts der riesigen Tableaus gleich wie in einer "Kathedrale der besonderen Art": "Es geht gleich ziemlich heftig los. Bereits in Raum 1 fällt der Blick auf ein Bild, das man im ersten Moment für eine abstrakte Grafik hält. Während man noch über die interessante Form- und die poppige Farbgebung nachdenkt, stellt sich der Schreck des Erkennens ein. Das Werk mit dem Titel 'Shit Faith' zeigt vier Hintern, aus denen Kackwürste ragen. Diese sind auf eine Weise angeordnet, die an ein christliches Kreuz erinnert. Ein Pendant mit dem Titel 'Buggery Faith' zeigt vier Penisse, die auf ein einziges Poloch zusteuern. Das Beruhigende ist: Viel drastischer wird es nicht ... das Level der Provokation wird aber mühelos gehalten."

Caspar David Friedrich, Das Riesengebirge vor Sonnenaufgang, um 1830-1835. © Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie. Foto: Andres Kilger


Eine ganz andere Geschichte erzählt Hanno Rauterberg, der für die Zeit die Caspar-David-Friedrich-Schau im Düsseldorfer Museum Kunstpalast besucht hat. "Nein, viel zu sehen gibt es nicht. Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter, ansonsten keine Inzidenz, kein Virus der Betriebsamkeit, auch keine Wut-, Zorn- oder Lust-Aerosole, die bedrohlich wirken könnten. Eine Kunst mit Zero-Strategie: Es passiert nichts. Oder besser: noch nichts", erzählt der Kritiker, der vor kleinen, immer leerer wirkenden Bildern steht, die neben den oft riesigen Formaten seiner Zeitgenossen und Nachfolger hängen, die viel Pathos, Burgen und Bedeutungen in ihre Bilder packten. Friedrichs Bilder dagegen "öffnen eine Erwartung: Es sind Schwellenbilder, Landschaften, die schon im nächsten Augenblick nicht mehr die sein werden, die sie gerade noch sind. Die Nebel, leicht zu erahnen, werden sich lichten, der Schnee wird schmelzen, die Sonne, die blutrot aufgeht, wird hoch vom Himmel brennen, und die Farben, die Wolken, die ganze sichtbare Welt werden sich gewandelt haben. Selbst die Ruinen weisen bei Friedrich nicht nostalgisch ins Vorgestern. Aus den Rudimenten der Gotik, das riefen sie den Zeitgenossen ins Bewusstsein, könnte etwas Neues erwachsen, eine endlich freie Nation."

Im Streit um die Frage, welches Fotoinstitut wo gebaut werden soll, hat Andreas Gursky jetzt vorgeschlagen, doch einfach zwei Institute zu gründen. Ausgezeichnete Idee, findet Freddy Langer in der FAZ: "Wenn die beiden parallel und bisher unabhängig voneinander geplanten Fotoinstitute sich voneinander abweichende Aufgaben stellen, hier etwa die Forschung von Restauratoren, dort die von Kunsthistorikern und Historikern anhand riesiger Konvolute, spricht vieles dafür, beide zu gründen - zumal in einer Zeit, in der beim Umgang mit öffentlichen Geldern niemand eine Null mehr oder weniger am Ende endloser Ziffernfolgen noch zu irritieren scheint."

Weiteres: Tilman Spreckelsen gratuliert in der FAZ Janosch zum neunzigsten Geburtstag. Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Unter freiem Himmel. Unterwegs mit Gabriele Münter und Wassily Kandinsky" im Münchner Lenbachhaus (FAZ) und eine Schau der britischen Künstlerin Phyllida Barlow im wiedereröffneten Münchner Haus der Kunst (die SZ-Kritikerin Catrin Lorch auch "deswegen stimmig" findet, "weil jetzt programmatisch weibliche Kunst einziehen soll in den Ostflügel des Ausstellungsbaus".)
Archiv: Kunst

Literatur

Mit ihrem Romandebüt "Identitti" lotet Mithu Sanyal die Höhen und Tiefen, die Chancen und Risiken der Identitätspolitik aus, die sie auch im NZZ-Gespräch mit Jörg Scheller (der das Buch rezensiert) beleuchtet: Identität sei eben auch Mittel zum Zweck. Um "Rechte zu bekommen, mussten diese Gruppen erst einmal eine Identität für sich beanspruchen. So funktioniert Politik bei uns. Und diese Identität musste bewiesen werden. Frauen mussten beispielsweise 'genuin weibliche' Erfahrungen vorbringen - und zwar sowohl in der Arena der Politik als auch in der der Kultur -, um ihre Rechte einfordern zu können. Und das ist die Crux mit Identitätspolitik, dass sie uns dazu bringt, in Mustern zu sprechen, die wir ja eigentlich sprengen wollen. Und gleichzeitig ist es so wunderbar, wenn einmal die eigenen Wahrnehmungen im Zentrum stehen und man sich nicht immer an eine vermeintliche Norm anpassen muss. Kurz gesagt, Identitätspolitik ist wie alles auf der Welt ein Spektrum von unglaublich produktiv bis hin zu einschränkend und tragisch."

Für die Zeit hat Ronald Düker bei deutschen Verlegern - Verlegerinnen seien kaum erreichbar gewesen - nachgefragt, wie sie den Streit um die Gorman-Übersetzungen einschätzen. Jörg Sundermeier vom kleinen, linken Verbrecher Verlag kann Marieke Lucas Rijnevelds Rückzug gut nachvollziehen: "Warum müsse eine weiße Person dieses Gedicht übersetzen, wenn dadurch nichtweiße Übersetzerinnen unberücksichtigt blieben? Dies sei, sagt Sundermeier, 'eine Grundsatzfrage, an die gesamte Literaturwelt'. Im Verbrecher Verlag achte man stets darauf, dass Text und Übersetzer zusammenpassten. ... Trotzdem wolle man keine identitätspolitischen Essenzialismen pflegen, so wichtig Identitätspolitik auch sei. Und was meint er zur Teamlösung bei Hoffmann und Campe? Dies sei ein Experiment und jedenfalls kein falsches."

Im Interview mit der SZ spricht Kazuo Ishiguro über seinen neuen Roman "Klara und die Sonne", der aus der Perspektive des Roboters Klara erzählt ist, einem alltäglichen Begleiter für Kinder. Klara sei tatsächlich deutlich näher an der Realität als an der Science-Fiction, versichert der Nobelpreisträger. Tatsächlich handele das Buch auch von der Angst vor künstlicher Intelligenz, die die Beziehungen zwischen den Menschen zu verändern drohe: "Lange hat man an die Seele geglaubt, wir hatten eine besondere Beziehung zu Gott, und jeder hatte eine Seele, die als Geist wiederkehren konnte. Ganze Nationen wurden erobert, ganze Völker versklavt, weil man glaubte, ihre Seelen seien weniger wertvoll. Diese Vorstellung war wirklich fundamental, und ich glaube, wir haben sie wie aus Gewohnheit nie ganz abgelegt. Viele der Entwicklungen um Algorithmen und Big Data stellen das heute infrage. Ich bin manchmal beunruhigt, wenn ich sehe, wie gut die Youtube-Empfehlungen sind. Von den Clips, die mir dort vorgeschlagen werden, habe ich oft nie zuvor gehört. Aber sie haben mich tatsächlich immer interessiert."

Weitere Artikel: In der taz stellt Robert Mießner den Berliner Ventil Verlag vor, der "Bücher zur osteuropäischen und DDR-Kulturgeschichte, zu Punkrock und seinen jüdischen Wurzeln" publiziert "und sukzessive die gesammelten Texte des Poptheoretikers Martin Büsser, der den Verlag mitbegründet und mit seiner streitbaren Offenheit geprägt hat". Julia Rothhaas plaudert in der SZ mit Kinderbuchautor Janosch, der heute 90 Jahre alt wird. Die Janosch gewidmete Ausstellung in Tübingen bespricht Tilman Spreckelsen in der FAZ. Im Freitag spricht Ulrich Kypke außerdem mit Janoschs Verleger Hans-Joachim Gelberg. Florian Gasser unterhält sich für die Zeit mit dem Schriftsteller Hans Platzgumer. Der Schriftsteller Alain Claude Sulzer denkt in der NZZ über seine Messie-Nachbarin nach. Für den Tagesspiegel zieht sich Udo Badelt ins Wiener Kaffeehaus zurück.

Besprochen werden unter anderem Kaouther Adimis "Dezemberkids" (taz), Leopold Tyrmands "Filip" (FR), Björn Stephans "Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau" (SZ) und Roberto Camurris "Der Name seiner Mutter" (FAZ).
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Bühne

Im Interview mit der Zeit erzählt Johannes Öhman, warum er im Januar 2020 als Co-Direktor (neben Sasha Waltz) des Staatsballetts Berlin zurückgetreten ist: Zunächst mal bekam er ein Angebot vom Dansens Hus, so dass er näher bei seiner Familie arbeiten konnte. Dann missfielen ihm in Berlin die "hierarchischen Strukturen und Normen einer großen Operninstitution". Und schließlich frustrierten ihn die Spannungen zwischen klassischen und zeitgenössischen Tänzern: "Plötzlich ging es darum, wer oder was mehr wert ist. ... Der Inhalt vieler Klassiker ist bedenklich. Etliche Werke sollten besser nicht mehr aufgeführt werden. Ich habe für die zeitgenössischen Tänzer gekämpft, weil sie eine neue Art des Denkens mitbrachten. Ohne sie wäre das Staatsballett eine sehr gute Kompanie gewesen - die stagniert. Mit ihnen kam der Hype, der uns zur 'Kompanie des Jahres' machte."

Weiteres: Sylvia Staude durchpflügt für die FR das Netz auf der Suche nach Tanzstücken und wird dabei vor allem bei Arte fündig. Besprochen wird der von Stephan Mösch herausgegebene Band "Weil jede Note zählt. Mozart interpretieren. Gespräche und Essays" (Tsp).
Archiv: Bühne

Film

Wie kann das Kino der Zukunft aussehen - nicht nur nach der Pandemie, sondern auch unter den harten Bedingungen der Streaming-Wirklichkeit? Eine Antwort hat tazler Daniel Moersener unter anderem bei Regie-Rebell Klaus Lemke gefunden: Filme laufen den ganzen Tag, Tickets gelten den ganzen Tag, man geht einfach raus und rein, wann es gerade passt. "Im rund um die Uhr laufenden Nonstop-Kino kommen und gehen, flirten, trinken und diskutieren zu können, klingt allemal verlockender und einfacher, als sich mit gestreamten Einsamkeitsdiäten vor dem Bildschirm abzuspeisen zu lassen. 'Das wäre eine völlig neue Kultur', fügt Lemke hinzu. Zugleich ist diese Kinopraxis insofern kulturell erprobt, als sie im kinobegeisterten Frankreich und den USA der Sechziger gang und gäbe war. Klaus Lemkes Mentorin, die Filmkritikerin Frieda Grafe, erwarb in dieser Kinokultur ihre Filmbildung. Sie bevorzugte Filme ohne aufwendige Bildungsansprüche. Die Universität galt ihr als 'bedeutendste Brutstätte patriarchalischen Denkens'."

Weniger romantisch sind Nicolas Freunds Überlegungen in der SZ zum Streaming der Zukunft - hier herrscht nämlich längst ein knallharter Verdrängungskampf und der einstige Pionier Netflix könnte bald ziemlich im Regen stehen: Disney hat mit seinem Studioankauf der letzten Jahre das Gewicht von hundert Jahren Filmgeschichte in der Waagschale, Amazon sieht seinen Streamingdienst eh nur als Anreiz, um Kühlschränke zu verkaufen und Apple verkauft mit seinem Streamingdienst vor allem die eigene Hardware. Nur Netflix muss auf Teufel komm raus produzieren: "Der Druck auf die Formate, möglichst günstig und zugleich möglichst spektakulär zu sein, wird noch größer werden. Schon jetzt hört man von Filmemachern, die Zeiten, in denen die neuen Streamingdienste ihnen in kreativer Hinsicht völlig freie Hand ließen, seien längst vorbei. Was jetzt produziert wird, muss unbedingt liefern ... Es ist unklar, ob das Unternehmen mit der Macht der großen Studios mithalten kann."

Weitere Artikel: Österreich diskutiert über die Einführung einer Quote in der Filmförderung, berichtet Dominik Kamalzadeh im Standard. Christoph Dieckmann besucht für die Zeit den Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase, der neunzig wird.

Besprochen werden Tine Rahel Völckers Buch über die Filmemacherin Chantal Akerman (taz), die Animationsfilme "Raya und der letzte Drache" und "Bombay Rose" (FR), Luca Guadagninos Serie "We Are Who We Are"  (Tagesspiegel) und "Der Prinz aus Zamunda 2" mit Eddie Murphy (online nachgereicht von der FAZ).
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Musik

Wow: Über 13.000 Online-Exponate zählt die von Google Arts & Culture aus den Beständen teilnehmender Museen zusammengetragene Online-Ausstellung "Music, Makers & Maschines" zur Geschichte der elektronischen Musik. ZeitOnline-Kritiker Jens Balzer klickt sich so begeistert wie wehmütig durchs Angebot. Zu den Stärken der Ausstellung zählt - neben Entdeckungen wie Dangdot, der auf Jakarta gespielten Variante des Chicago House -, dass "die Technikgeschichte gleichberechtigt neben der Musik- und Sozialgeschichte steht; denn in den meisten popkritischen oder pophistorischen Formaten findet man entweder das eine oder das andere, aber nicht beides zusammen. Entweder wird die Geschichte der elektronischen Musik von Techniknerds geschrieben, deren größtes Glück darin besteht, sich in die Konstruktion möglichst unbekannter Synthesizer hineinzuversenken, in Schaltkreise, Steckverbindungen, Klanggeneratoren - oder von politisch bewegten Menschen, die Klubkultur als Feld der Emanzipation von marginalisierten Gruppen begreifen. Beide Seiten haben Recht, aber kommunizieren viel zu selten miteinander."

Jan Brachmann und Jan Wiele erinnern in der FAZ an Astor Piazzolla, der vor 100 Jahren geboren wurde und den Tango entscheidend erneuerte: Er verschaffte ihm "rhapsodische Freiheit; er verkomplizierte dessen Harmonik so stark, dass sie Zuhören erzwang; vor allem aber strukturierte er die Metrik um. Während der klassische Tango auf dem Schlag durchpulsiert und den Zwei- oder Viervierteltakt symmetrisch unterteilt, zerstörte Piazzolla diese Symmetrie, indem er die klassische Habanera-Punktierung in der Taktmitte zur zweiten Hälfte überband. Damit waren die acht Teilschläge des Taktes nicht mehr in vier plus vier, sondern in drei plus drei plus zwei gegliedert - vermutlich die gravierendste Änderung im Tango Nuevo, die ihm in Argentinien heftige Anfeindungen einbrachte." Im Dlf Kultur erinnert Bettina Brand mit einem ausführlichen Musikfeuilleton an Piazzolla.

Und hier Piazzollas "Adios Nonino":

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