Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Porträt unseres Selbst

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16.03.2021. Der schnelle Abgang von Volksbühnenintendant Klaus Dörr überumpelt die Feuilletons. Hier geht ein geschlagener Mann vom Bühnenschlachtfeld, glaubt die Welt. Die Strukturen ändern sich, freut sich der Tagesspiegel. Die FR hört derweil zu Christopher Loys Berliner Inszenierung der "Francesca da Rimini" die Engel im Opernhimmel jubilieren. Auf den Felsbildern der Sammlung Frobenius betrachtet die FAZ bewegt die Interaktion von Mensch und Welt. Der Filmdienst enteckt die Schönheit des Unvollkommenen in den Trashfilmen des Streamingdienstes ByNWR.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.03.2021 finden Sie hier

Bühne

Am Wochenende noch hatte sich Volksbühnenintendant Klaus Dörr gegen die in der taz öffentlich gemachten Vorwürfe verwahrt, gestern trat er zurück. In einer Erklärung bedauerte er, dass es ihm nicht gelungen sei, ein offenes und diskriminierungssensibles Klima zu schaffen, wie Christine Dössel und Christiane Lutz in der SZ etwas überrascht von diesem Richungswechsel schreiben. "Das ging jetzt schnell. Sehr schnell", kommentiert Rüdiger Schaper im Tagesspiegel: "Die Strukturen müssten sich ändern, heißt es immer. Und das geschieht. Dörrs Abgang ist am Theater hierzulande ein Novum, eine Warnung. Übergriffige Führungspersonen kommen nicht mehr einfach so durch. Metoo entfaltet starken politischen Druck. Das Thema ist präsent, und es hat Konsequenzen, wenn die Vorwürfe berechtigt und geprüft sind." Die Vorwürfe gegen Dörr sind nicht unbedingt justiziabel, es geht um sexistische Sprüche und anzügliche Witze, um Anmache, Upskirting und Altersdiskrimineriung, betont Manuel Brug in der Welt, meint aber gleichwohl: "Er geht, darf man wohl sagen, als geschlagener Mann vom Bühnenschlachtfeld. Da hat einer die Zeichen der Zeit erkannt."

Sara Jakubiak und Jonathan Tetelman in "Francesca da Rimini". Foto: Monika Rittershaus/Deutsche Oper

Die Engel im Opernhimmel müssen jubilieren, glaubt Judith von Sternburg in der FR nach Christof Loys Inszenierung von Riccardo Zandonais "Francesca da Rimini" im Stream der Deutschen Oper Berlin. Für sie selbst ist das Werk nach Gabriele d'Annunzios gleichnamigem Fin-de-Siècle-Drama eine Offenbarung: "Die Musik changiert zwischen Puccini (die Klangwelt) und Debussy (die geisterhafte Innerlichkeit) mit etwas Strauss und Wagner dabei (die Dekadenz und die Liebes-Ekstase). Aber sie ist auch eigen genug, dazu aus einem Guss und so weit weg von einer Nummernabfolge, wie es in der italienischen Oper überhaupt möglich ist. Carlo Rizzi bringt diese Musik in Berlin und daheim am Lautsprecher zum Blühen und Glühen. Wie er und das Orchester - dazu sichtbare und unsichtbare Bühnenmusik - zugleich Vorsicht walten lassen, die Zartheiten herausarbeiten wie eine Stickarbeit, ist überwältigend."

FAZ-Kritiker Gerald Felber ist Zandonais Oper zwar etwas zu wollüstig schwelgend, aber gesanglich ist er auf seine Kosten gekommen: "Sara Jakubiak spielt das, enorm präsent, zum Zerreißen angespannt, großartig und singt dazu, auch konditionell bewundernswert, unter gleichsam wütender, noch im Liebesrausch aggressiver Hochspannung. Der reine Wohllaut ist zwar eher auf der Seite von Jonathan Tetelmans Paolo." Im Tagesspiegel genießt Ulrich Amling die Abwechslung, mal kein Stück aus dem Repertoire zu sehen: "Sängerinnen und Sänger bringen kaum fertige Interpretationen oder bewährte Rettungsschirme mit auf die Proben. Das kann ungeahnte Kräfte freisetzen und Interpret:innen leuchten lassen, die plötzlich einen ganzen Abend erhellen."

In Paris halten SchauspielerInnen und BühnenarbeiterInnen seit zwei Wochen das Théâtre de l'Odeon besetzt, in der Nachtkritik berichtet Joseph Hanimann eher unentflammt: "Präzise Forderungen hätten sie eigentlich keine, sagt Rébecca Dereims, Schauspielerin und Mitglied der der kommunistischen Partei nahestehenden Gewerkschaft CGT, zwischen den Gitterstäben hindurch. Sie war bei der Besetzung des Odéon von Anfang an dabei. Es gehe vor allem darum, auf die Regierung Druck auszuüben, damit sie nicht nur die großen Häuser irgendwann wieder öffnet und die prominenten Sommerfestivals rettet, sondern auch an die zahlreichen freien Künstler und Bühnentechniker denke, die nach nunmehr einem Jahr Arbeitspause allein nicht mehr auf die Beine kämen. Und darüber hinaus wolle man mit der Theaterbesetzung auch den Kampf gegen Macrons allgemeine Rentenreform fortführen, die durch die Covid-Krise ins Stocken, nicht aber zu Fall gekommen ist."

Besprochen werden Shakespeares "Macbeth" als Telegram-Chat vom Nürnberger Schauspiel, das Christine Dössel in der SZ als "digitale Hardboiled-Comicversion" streckenweise goutieren kann) und die Uraufführung des Stücks "Force Majeure" der Choreografin Ulduz Ahmadzadeh online im Tanzquartier Wien (Standard).
Archiv: Bühne

Film

Michael Kienzl arbeitet sich für den Filmdienst durch den auf Trashfilme spezialisierten Streamingdienst ByNWR des Filmemachers Nicolas Windig Refn. Insbesondere die Glücksritter und One-Shots, die es beim einmaligen Versuch in der Filmindustrie beließen, stehen hier im Fokus, "weil hier keine rundum gelungenen Meisterwerke gesucht werden, sondern die Schönheit im Unvollkommenen. Archivarbeit bedeutet auf byNWR nicht, das Respektable, demonstrativ Kunstfertige und vermeintlich Relevante zu bewahren, sondern sie folgt der Auffassung, dass grundsätzlich alles interessant ist. ... Bei den meisten Titeln informiert der Abspann darüber, dass die Restaurierung auf der Basis der letzten existierenden 35mm-Kopie erfolgte. Vieles, was man hier sehen kann, wäre um ein Haar für immer verschwunden."

Uwe Boll hat einen Film über den rechtsextremen Anschlag von Hanau angekündigt - ohne dabei jedoch die Hinterbliebenen und Opfer miteinzubeziehen. Diese und die Stadt selbst fürchten nun mit Blick auf Bolls eher von derben Filmen durchzogenes Werk - sein Film über Auschwitz war vor allem eine Abfolge von Gewaltszenen -, dass ein ziemlich reißerischer Film dabei herauskommen könnte. Der Filmemacher beteuert hingegen beste Absichten, schreibt Tobias Kniebe in der SZ: "Wahr ist, dass es Werke dieser Art gibt, die am Ende ihr künstlerisches Versprechen überzeugend einlösen, selbst wenn sie im Vorfeld oder bei der Premiere umstritten waren. Wahr ist ebenso, dass schamlose Ausbeuter schon immer das Grauen der Realität für den Versuch benutzt haben, über Schock- und Skandaleffekte schnelle Gewinne einzufahren. ... Sollte der Film also fertiggestellt und gezeigt werden, und tatsächlich der geschmack- und gefühllose Exploitation-Film sein, den Uwe Bolls Vorgeschichte erwarten lässt - dann wäre Schweigen einmal nicht das Schlimmste. Sondern das Beste."

Weitere Artikel: "So viel Vielfalt war überhaupt noch nie" bei den Oscarnominierungen stellt Kathleen Hildebrand in der SZ fest und bezieht sich dabei darauf, dass allein in den Schauspielkategorien neun nicht-weiße Darsteller sich Hoffnungen auf einen Oscar machen dürfen. Till Kadritzke resümiert für den Filmdienst das Forum Expanded der Berlinale.

Besprochen werden ein Sammelband über Schriftsteller als Filmfiguren (Filmdienst), sowie die Serien "Beforeigners" (Jungle World), "Der Attaché" (FAZ) und "The Durrells" (FAZ).
Archiv: Film

Literatur

Im Streit um die Gorman-Übersetzungen sieht Thomas Hummitzsch von Intellectures insbesondere wegen des emotionalen Tonfalls auf allen Seiten "nur Verlierer". Und insbesondere die Literatur an sich leide: "Können autobiografische Aufstiegsgeschichten von Übersetzenden aus vermögenden Verhältnissen übertragen werden? Kann Kafka ohne Verwaltungserfahrung, Hannah Arendt ohne jüdisch-feministischen Hintergrund und Maya Angelou ohne Gewalterfahrung übersetzt werden? ... Identitätspolitik ist Symbolpolitik und hat durchaus ihre Berechtigung", aber "die Literatur beraubt sie ihres ureigenen Daseinszwecks: das wir uns durch das Lesen und Erzählen von Geschichten Anderen annähern, uns mit ihren Lebenswelten konfrontieren und versuchen zu verstehen, was sie bewegt. Genau das soll Literatur ja leisten. Oder anders herum: 'The Hill We Climb' wird ja nicht nur für Menschen, die einige von Gormans Erfahrungen teilen, übersetzt, sondern vor allem auch für jene, die dies nicht tun."

In den Niederlanden, wo eine Parlamentswahl ansteht, deutet die Mitte der Gesellschaft Marieke Lucas Rijnevelds Rückzug von der Gorman-Übersetzung im übrigen eher als "versöhnliches Zeichen", berichtet Paul Ingendaay in der FAZ. "Der in Paris lebende politische Essayist und Bestsellerautor Bas Heijne fasst beide Seiten der Debatte ins Auge: 'Wenn man sich einem Talent wie Amanda Gorman nähert, das sich so erkennbar auf eine schwarze Tradition beruft, von den Gospels und Dr. Martin Luther King bis zum Rap, dann könnte es doch eine gute Idee sein, dafür eine schwarze Übersetzerin zu suchen', sagt er. 'Andererseits sollte man keine eiserne Regel daraus machen.'"

In der SZ spricht der Schriftsteller Daniel Kehlmann über sein gescheitertes Experiment, mit einer künstlichen Intelligenz auf Algorithmenbasis eine Kurzgeschichte zu erzählen (unser Resümee). Algorithmen, die lediglich Sprachmuster nachvollziehen, werden echten Erzählern auch bis auf weiteres keine Jobs stehlen, sagt er: "Narrative Fiktion lebt immer davon, dass im Hintergrund der Sprache eine dramaturgische Planung läuft. Da gibt es den berühmten Satz von Tschechow, dass wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, das im letzten Akt auch losgehen muss. Und wenn es nicht losgeht, ist das auch bedeutungsvoll. Es gibt eben eine Erwartung der Zuschauer, dass etwas mit dem Gewehr passiert. Was auch immer geschieht oder nicht geschieht, man arbeitet mit dieser Erwartung, man muss wissen oder fühlen, dass es sie gibt. Das ist Erzählen. Aber der Algorithmus weiß nichts von den Erwartungen, die ein Gewehr weckt. Daher kann er auch nicht auf sie reagieren."

Weitere Artikel: Willi Winkler erinnert in der SZ daran, wie Arno Schmidt einmal so widerwillig wie letztendlich auch erfolglos für eine Professor an der Ulmer Hochschule für Gestaltung vorsang. Sigrun Anselm schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf den Publizisten Horst Kurnitzky.

Besprochen werden unter anderem Kazuo Ishiguros "Klara und die Sonne" (NZZ), Ute-Christine Krupps "Punktlandung" (taz), Stephen Kings "Später" (Welt), Hilary Leichters "Hauptsache" (online nachgereicht von der FAZ), Paul Bowles' "Fast nichts. Gesammelte Gedichte" (NZZ), Asal Dardans Essayband "Betrachtungen einer Barbarin" (ZeitOnline), Harry Martinsons "Schwärmer und Schnaken" (FR), Joseph Andras' "Kanaky" (SZ) und Elvira Dones' "Verbrannte Sonne" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Prozession, Simbabwe, Chinamora, Massimbura, 1929, Elisabeth Mannsfeld, Aquarell auf Papier © Frobenius-Institut 

Absolut hingerissen ist Stefan Trinks in der FAZ von den Kopien, die der Berliner Ethnologen Leo Frobenius mit etlichen Kolleginnen von steinzeitlichen Felsbildern anfertigten und die nun im Zürcher Museum Rietberg zu sehen sind. Besonders bewegend findet Trinks den erzählerischen Zugang der Malereien: "Das 1929 abgezeichnete Panorama 'Große Elefanten, weitere Tiere sowie Menschen' aus Simbabwe etwa schildert auf fast sieben mal drei Metern Begegnungen von Dutzenden von Menschen und Tieren; es wurde in mehreren Schichten wohl über Jahrhunderte erweitert und kann so pars pro toto und parakontinental für alle Bilder der Schau stehen. Wie in der berühmten Lebens-Kunst-Metapher von Jorge Luis Borges, in der alle lebenslang gesammelten Bilder am Ende leviathanisch ein Porträt unseres Selbst ergeben, arbeiteten schon die Steinzeitmaler an dem einen, großen Pasticcio-Bild des Menschen in Interaktion mit der Welt."

Weiteres: Höchst erfreut meldet Nicola Kuhn im Tagesspiegel, dass Gerhard Richter der Berliner Nationalgalerie hundert Werke überlässt, darunter auch den Birkenau-Zyklus. Besprochen werden die digitale klimakritische Schau "Bis zur Eisschmelze" auf apexart.org (taz), die Ausstellung "Win-Win. Synergien in der Kunst" im Art Foyer der DZ Bank in Frankfurt (FR) und die Schau "Hidden - Tiere im Anthropozän" im Berliner f3 - freiraum für fotografie (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Die Feuilletons halten Rückschau auf die Grammy-Verleihung: Im Tagesspiegel gratuliert Andreas Busche Beyoncé zum Erhalt der Grammys Nr. 25 bis 28. Damit ist sie "die weibliche Künstlerin mit den meisten Grammys aller Zeiten", schreibt Juliane Liebert in der SZ, die den Veranstaltern immerhin den Versuch, sich diverser aufzustellen, bescheinigt. "So viel entschiedenes, stolzes, Traditionen umschließendes Black Empowerment gab es bei den Grammys nicht mehr seit Kendrick Lamars epochalem Auftritt im Jahr 2016", lautet auch Jens Balzers Fazit auf ZeitOnline, der die besten Auftritte des Abends kürt. Die "zweifellos nachhaltigste Wirkung" dürfte dabei wohl Lil Babys Einspieler haben, meint er:



Amira Ben Saoud freut sich im Standard über den Grammy für H.E.R.s "I Can't Breathe", der als bester Song des Jahres ausgezeichnet wurde. Andrea Diener in der FAZ freut sich hingegen darüber, dass die Musikerin Poppy für die "beste Metal-Darbietung" immerhin nominiert war.

Außerdem: Stefan Hentz wirft für die NZZ einen Blick in die österreichische Jazzszene. Besprochen werden  die drei von Simon Rattle dirigierten "musica viva"-Konzerte mit dem BR-Symphonieorchester (NZZ, mehr dazu hier), Lael Neales Album "Acquainted With Night" (FR) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter Meret Lüthis und Sabine Stoffers Aufnahmen von Barockkompositionen Heinrich Ignaz Franz Bibers, den SZ-Klassikkolumnist Helmut Mauró sonst für eher langweilig hält, der hier aber "mitreißend lebendig und irisierend bunt und rauschhaft aufregend" auf ihn wirkt.
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