Efeu - Die Kulturrundschau

Kunst kommt zuerst, dann Politik

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19.03.2021. Die FAZ erkennt den Hauptangeklagten in der großen Gilbert & George Retrospektive der Schirn: Die Kirche. In der SZ fragen die beiden Künstler, warum die Kirchen sich niemals entschuldigt haben für ihre Verbrechen insbesondere an Homosexuellen. Das Theater hat ein Strukturproblem, meint die Hannoversche Intendantin Sonja Anders auf Zeit online. Im Tagesspiegel erklärt der Komponist George E. Lewis sein Programm für die Maerzmusik, das viele afrodiasporische Musiker vorstellt. Monopol badet in Zürich in Total Spaces, Licht und Farbe.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.03.2021 finden Sie hier

Kunst

Gilbert & George, Sperm Eaters, 1982. Courtesy of Gilbert & George and White Cube


"Was Loriot den Deutschen, bedeutet das Künstlerduo Gilbert & George den Briten - gepflegte Anarchie und Anzüglichkeit im trügerischen Gewande feinen Tweeds", stimmt uns Stefan Trinks in der FAZ auf die Gilbert & George-Retrospektive in der Frankfurter Schirn ein, die letzte Woche eröffnet wurde. Die Halle durchschreitend, die kathedralenartig von riesigen Hinter-Glas-Fotos geschmückt ist, bewegt sich Trinks auf die Statuen der beiden Künstler zu wie auf einen Altar. Das ist Absicht: "Denn die Kirche gehört zusammen mit - ihrer Meinung nach - anderen repressiven Systemen seit jeher zu den Hauptangeklagten der beiden Eigenständigkeitskämpfer. Die Starre und Härte, mit der die Amtskirche über lange Zeit Homosexuellen wie Gilbert & George begegnete und sie stigmatisierte, wenden die Künstler mit gleicher Aggression gegen sie. Das ein kirchliches Triptychon schon im Format aufnehmende und übertrumpfende 'Scapegoating' von 2013 ist mit Dutzenden wütender Graffitis wie 'Ream a Reverend' oder 'Masturbate a Monk' bedeckt."

Im Interview mit der SZ machen die beiden noch einmal explizit klar, warum sie absolut säkular sind: "Wir würden Religion vollkommen akzeptieren, wenn die Kirchen sich ein einziges Mal entschuldigen würden, für das, was sie den Menschen angetan haben. Sie haben Menschen weggesperrt, sie gefoltert, ihr Herz ausgerissen, ihre Zungen abgeschnitten. In 70 Ländern der Welt würden wir ins Gefängnis gesperrt, weil wir Sex haben. Der Grund ist die Religion. Religionen haben unentschuldbar schreckliche Dinge getan. Und sie entschuldigen sich niemals dafür", sagt George. Oh, und noch etwas: "Kunst kommt zuerst, dann Politik. Sehr wichtig."

Besprochen wird außerdem die Andy-Warhol-Retrospektive im Kölner Museum Ludwig (FR).
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Bühne

#metoo am Theater und kein Ende. "In meinen Augen hat das Theater vielmehr ein Strukturproblem", meint Sonja Anders, Intendantin am Schauspiel Hannover, auf Zeit online anlässlich der Vorwürfe gegen Volksbühnenintendant Klaus Dörr. "Sein Bau und seine Arbeitsweise scheinen zum Zerrbild des Systems geworden zu sein, das es auf der Bühne kritisiert. Ob wir es Patriachat oder Kapitalismus nennen, ist dabei fast schon egal. Die unterschiedlichen Formen von Diskriminierung sind sowieso untrennbar verbunden." Und sie erklärt auch, warum Frauen so oft den Mund nicht aufmachen, wie sie es an sich selbst erlebt hat: "Ich war früh überzeugte Feministin - selbstverständlich! - und habe auch für mich selbst das Bild einer unabhängigen und starken Frau verkörpert. Ich werde bis heute so wahrgenommen. Es ist angenehmer über den Dingen zu stehen, als die Position der gedemütigten und anklagenden Person einzunehmen. Es ist angenehmer zu lachen als sich zu beschweren."

In der taz setzt Nicole Opitz für die Volksbühne all ihre Hoffnungen auf den neuen Leiter Rene Pollesch: "Er ist der beste aller Kompromisse, er kennt die Strukturen im Haus, und er kann basisdemokratisch führen - eine Seltenheit im Theaterbetrieb. Gleichzeitig ist Pollesch kein Gestriger. Er bezieht Schauspieler:innen und Assistent:innen in die Entstehung eines Bühnenstücks ein und versteht seine Regie als Teamarbeit. Er ist ein feministischer Antiautoritärer, dem man das, was auf der Bühne gespielt wird, auch hinter der Bühne glaubt: Während in seinem Stück 'Black Maria' davon gesprochen wird, dass die 'Sichtbarkeit des alten, weißen Mannes' aufgelöst werden muss, glaubt man ihm, dass er das wirklich möchte. Er hätte das Potenzial für einen echten Neustart an dem Theaterhaus und kann dafür sorgen, dass nach ihm viele Intendant:innen folgen, die keine Männer sind."

Im Tagesspiegel würde sich Bettina Jahnke, Intendantin des Hans Otto Theaters in Potsdam, dagegen ein weibliches Führungsteam für die Volksbühne wünschen: "Ich glaube, dass wir nicht so anfällig sind für Status- und Machtgebaren. Frauen gehen anders mit Macht um, pflegen ein anderes Miteinander, eine andere Führungskultur. Da ist die sexuelle Komponente nicht so ausgeprägt, wie das schnell bei Mann und Frau passiert. Da vermischt sich dann etwas, wo Grenzen nicht klar gesetzt werden. Als Führungskraft ist es das A und O, dass man sich korrekt verhält."
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Literatur

In der ersten Lieferung ihrer neuen Perlentaucher-Literaturkolumne "Wo wir nicht sind" führt Thekla Dannenberg mit neuen Sachbüchern in die Welt der Pariser Kommune. Darunter finden sich auch die vor kurzem auf Deutsch erschienenen Erinnerungen von Louise Michel, Feministin, Anarchistin und "Ikone der Revolution", die den Aufstand, von dem dieser 72 Tage währende Traum direkter Demokratie seinen Ausgang nahm, im Rückblick aus dem Jahr 1898 "mit der ihr eigenen Mischung aus Schwärmerei und Draufgängertum beschreibt." Sie "ist eine grandiose Spötterin. Mit ihren Invektiven überschüttet sie die Regierung, das reaktionäre Frankreich, die Kleriker, die Kapitulierer, die Bourgeois mit den Raubtierherzen und die Versailler mit ihren Mantel-und-Degen-Allüren, während sie die Kommunarden mit den süßesten und zärtlichsten Wendungen belegt. Ihre Erinnerungen an "Die Pariser Commune" sind ein Dokument revolutionärer Leidenschaft. Ungeordnet, einseitig, rastlos, maßlos, voller Feuer und unerschütterlicher Entschlossenheit: 'Im Sturm der Revolution schaut man nach vorn.'"

Weitere Artikel: Die FAS hat Bert Rebhandls Gespräch mit dem Drehbuchautor Charlie Kaufman online nachgereicht, der mit "Ameisig" nun unter die Romanutoren gegangen ist. Gisela Trahms erinnert in den "Actionszenen der Weltliteratur" an John Burnsides Irrfahrt ins Eis.

Besprochen werden unter anderem Dana Grigorceas "Die nicht sterben" (NZZ), Christoph Ransmayrs "Der Fallmeister" (Zeit) und Walter Benjamins "Briefe im Entwurf" (SZ).
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Design

Total Space von Luftwerk


Große fluide Räume, die immer wieder Licht und Farbe wechseln, betritt monopol-Kritiker Benjamin Freund mit dem "Total Space" im Zürcher Museum für Gestaltung, unterlegt von Techno: Exzellent zum Abtauchen und Entdecken, versichert er. Zum Beispiel "im Oktagon vom Schweizer Architekten- und Designerpaar Trix und Robert Haussmann: Eine Rückbesinnung auf eine Handskizze von Leonardo da Vinci soll es sein. Die unendliche Erweiterung des Raums durch den Einsatz von Spiegeln hätte sich der Italiener zu Lebzeiten nicht schöner ausmalen können. In Zürich lässt man nun Besucherinnen und Besucher durch ein Spiegel-Kabinett taumeln. Eine Spielerei für alle, die sich im Selfiemodus des Smartphones noch nicht sattgesehen haben. Ebenfalls von einem italienischen Kunstmeister hat sich das Designduo Luftwerk beflügeln lassen. So tauchen die Farb- und Perspektivstudien des Universalgelehrten Leon Battista Alberti im 'Total Space' als lebendige Landschaft auf. Diese leuchtet in verschiedenen Farben und verformt sich ständig - wie ein bockig gewordenes Werk von Lichtkünstler James Turrell."
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Musik

Für die taz wirft Thomas Mauch einen Blick ins Programm des morgen online beginnenden Maerzmusik-Festivals. Im Tagesspiegel spricht dazu passend der Komponist George E. Lewis über sein für das Festival kuratiertes Programm mit zeitgenössischer afrodiasporischer Musik, ausgehend vom Befund, dass in Europa, anders als in den USA, kaum schwarze Komponisten aufgeführt werden. Ihm gehe es "um eine ganze ethnische Gruppe, die im Musikbetrieb der zeitgenössischen Klassik fehlt. Und um die fehlende Präsenz von afrodiasporischer Geschichte. ... Klassische Musik wird längst in der ganzen Welt gespielt, auch in Afrika, auch in Asien. Und doch gibt es immer noch die allgemein verbreitete Vorstellung, alles drehe sich in der zeitgenössischen Musik um Europa. Aber in Wahrheit ist diese Musik längst multinational und multikulturell. Diese Kreolisierung, diese Vermischung unterschiedlicher Musiktraditionen, ist längst ein Fakt, aber der muss einfach noch stärker anerkannt werden."

Weitere Artikel: Marius Magaard berichtet in der taz von Kritik an den Grammys. In der FAZ gratuliert Jan Brachmann dem Pianisten Bruno Leonardo Gelber zum 80. Geburtstag. Außerdem spricht Brachmann mit dem isländischen Tenor Benedikt Kristjánsson über ein Jahr voller Absagen.

Besprochen werden Lana del Reys Album "Chemtrails Over The Country Club" (Tagesspiegel, Standard), das gemeinsame Album von DJ Hell, Brigitte Meese und ihrem Sohn Jonathan (Tagesspiegel, ND), ein Album von Sting mit Duetten (Freitag) das Debütalbum der Wiener Band Downers and Milk (Standard) und Alice Phoebe Lous neues Album "Glow", das "entspannt, träge, warm und organisch klingt", schreibt Niklas Münch in der taz. Wir hören rein:

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Film

Carl Theodor Dreyers "Die Frau des Priesters" - einer von vielen schwedischen Klassikern auf Netflix

Sehr verrätselt, aber vor allem hocherfreut berichet Ekkehard Knörer im Perlentaucher von einem "erstaunlichen, eigentlich unerklärlichen" Fund auf Netflix: Dort ist ein ganzer Schwung hervorragend restaurierter schwedischer Klassiker und Nicht-Klassiker, die bis zur Stummfilmzeit reichen, aufgelaufen, darunter etwa "Die Frau des Priesters", eine von von Carl Theodor Dreyers "hinreißenden Komödien" aus den Zwanzigern, "die ihre Klugheit und emotionale Tiefe auf grandiose Weise hinter Blödsinn verbergen". Wie auch Netflix diese Filme, vor allem aber seine Absichten damit, hinter viel Blödsinn verbirgt: "Auf den Seiten des Schwedischen Filminstituts: nichts. Auf den Seiten von Netflix: sowieso nichts. Netzweite Google-'Recherche': mehrfache Hinweise auf die Netflix-Aktion, aber keine Erklärung. ... Es kann durchaus sein, dass das alles eine bizarre Zufallsaktion ist, ein günstig erhältliches Rechtepaket, das ohne große Hintergedanken zur Verfügung gestellt wird. Wahrscheinlicher wäre aber, dass es sich um einen Versuchsballon handelt. Die Wahl der Gegenstände für dieses Experiment wäre angesichts ihrer relativen Abseitigkeit wahrlich idiosynkratisch und ganz sicher auch zufallsbestimmt. Womöglich sind die Filme nach recht kurzer Zeit, wie viel anderer Content bei Netflix, auch wieder weg."

Weitere Artikel: In einem Filmdienst-Essay denkt Patrick Holzapfel über das Abbrechen von Filmen nach, das durch die weitgehend abgeschlossene Diffusion des Kinos in medienkonvergenten Content den Film endgültig zur Verfügungsmasse des Publikums macht. Urs Bühler gratuliert in der NZZ dem Schauspieler Timothy Dalthon zum 75. Geburtstag.

Besprochen werden Dimitri Logothetis' "Jiu Jitsu" (Perlentaucher), Amy Poehlers "Moxie" (critic.de), Kim Longinottos in der 3sat-Mediathek gezeigter Film "Shooting the Mafia" (Dlf Kultur), Anthony und Joe Russos "Cherry" (SZ), die Serie "Sky Rojo" (Presse), Zack Snyders für HBO neu geschnittene Version seines Blockbusters "Justice League" (Tagesspiegel) und die ZDF-Serie "Ku'damm 63" (FR).
Archiv: Film