Efeu - Die Kulturrundschau

Rabiater Zartsinn

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.03.2021. Große Trauer herrscht um den polnischen Weltpoeten Adam Zagajewski: In der Welt würdigt Michael Krüger den Philosophen und Reisenden, in der FR Artur Becker seine Sorge um Schönheit und Wortfreiheit. Die NZZ verspürt das innere Brennen beim neuen "Rosenkavalier" an der Bayerischen Staatsoper. Die FAZ lässt die britische Künstlerin Phyllida Barlow freudig über sich kommen wie einen gewaltigen Erdrutsch. Und die SZ erfährt von Labelbetreiber Mathias Modica, dass die coolen Kids von Neukölln nicht mehr vor dem Techno-Keller stehen, sondern vor dem Jazzclub.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.03.2021 finden Sie hier

Literatur

Der Schriftsteller Michael Krüger verabschiedet sich in der Welt von seinem engen Freund, dem polnischen Schriftsteller Adam Zagajewski, "ein Dichter und glänzender Essayist, ein skeptischer Philosoph ohne Lehrstuhl, ein enthusiastisch aufbrechender Reisender" und ein "vielsprachiger, in vielen Sprachen sich wohlfühlender Intellektueller, der über die rechtskonservative Entwicklung in seinem Land nur den Kopf schütteln konnte, wie er überhaupt in letzter Zeit manchmal den Eindruck machte, er käme aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus." Hier geht "der letzte Vertreter jener von Krieg und Diktatur geprägten Dichtergeneration, die der polnischen Lyrik einen eminenten Platz in der Weltliteratur gesichert hat", schreibt Ulrich M. Schmid in der NZZ.

"Jede Begegnung, auch die in Venedig, als wir 2011 weltweit das Milosz-Jahr feierten, war für mich ein Fest der Dichtung und des intellektuellen Diskurses", seufzt der Schriftsteller Artur Becker in der FR. Zagajewski "blieb bis zum Schluss den Grundsätzen der Nowa-Fala-Bewegung treu: Recht und Freiheit seien unkorrumpierbar, der hohe Ton der Dichtung bedeute keine Schwäche, sondern Sorge um Schönheit, Ästhetik und Wortfreiheit, und den Ausdruck Herbert Marcuses vom 'Terror der Toleranz' habe er erst dann verstanden, als in Polen 2015 Rechtskonservative an die Macht gekommen seien." Paul Ingendaay bewundert in FAZ Zagajewskis Zurückhaltung: "Wenn er spürte, dass seine Zeilen auf seine Zuhörer stark wirkten, blieb er diskret. So entdeckten nur Bücherleser, nicht Nachrichtengucker seine Originalität, seinen rabiaten Zartsinn. Noch einmal, nach Czeslaw Milosz, Zbigniew Herbert und Wislawa Szymborska, trat ein polnischer Jahrhundertdichter auf, dessen Lyrik von der Epoche der Totalitarismen gezeichnet war, aber keine Grenze durch Ost und West anerkannte. Der leuchtende Epiphanien des Alltags schuf, aber niemanden bekehren wollte. Der den Dreck des zwanzigsten Jahrhunderts sah und die Heiligkeit im Detail."

Michael Braun verabschiedet sich auf ZeitOnline von einem "Dichter der bedächtigen skeptischen Reflexion, mit einer emphatischen Hinwendung zum Kosmos des Alltäglichen." Weitere Nachrufe schreiben Lothar Müller (SZ), Gerrit Bartels (Tagesspiegel) und Ronald Pohl (Standard).

Außerdem: Thomas Hummitzsch spricht für Intellectures mit Frank Heibert über dessen Neuübersetzung von George Orwells "1984". Berit Glanz untersucht für 54books, wie Macht in Kindererzählungen erzählt und kritisiert wird. Alex Rühle erfährt im SZ-Gespräch mit der Schriftstellerin Marion Poschmann unter anderem, was man von Bäumen lernen kann, nämlich "neu zu sehen, weil neue Verhältnisse und enorme Veränderungen auf uns zukommen." Andreas Pflitsch schreibt in der NZZ einen Nachruf auf die ägyptische Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Nawal al-Saadawi (mehr in 9punkt).

Besprochen werden unter anderem Helga Schuberts "Vom Aufstehen" (Tagesspiegel), Ulrich Peltzers "Das bist du" (Zeit), Dana Grigorceas "Die nicht sterben" (Tagesspiegel), Martin und Alissa Walsers Aphorismenband "Sprachlaub" (FR) und Christoph Ransmayrs "Der Fallmeister" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Marlis Petersen als Feldmarschallin im "Rosenkavalier". Foto: Wilfried Hösl / Staatsoper

Großes Aufgebot zu der von arte übertragenen Premiere von Richard Strauss' "Rosenkavalier" an der Bayerischen Staatsoper in der Regie von Barrie Kosky, Vladimir Jurowski am Pult und anstelle einer Hundertschaft nur ein Kammerorchester im Graben. Vielleicht etwas zuviel Abstand zwischen den Geigen, aber sonst war NZZ-Kritiker Marco Frei hin und weg: "Wieder einmal zeigt sich: Die Münchner Truppe zählt zu den stärksten Strauss-Orchestern überhaupt - ein Dirigent kann da durchaus die Zügel lockern und sie einfach gewähren lassen. Das gilt umso mehr bei dieser besonderen Kammerfassung, die aus nahezu jedem Spieler einen Solisten macht. Jurowski trifft genau diese schwierige Balance zwischen Kontrolle und Laissez-faire. Viel Schmelz (und ein bisschen werktypischer Schmäh) werden spürbar, vor allem aber ein inneres Brennen beim Musizieren." Nach fünfzig Jahren konnte die Staatsoper auch eine neue Inszenierung vertragen, meint Judith von Sternburg in der FR: "Kosky zeigt, was er kann, und gibt dem Hin und Her solchen Schwung und lässt den Ochs so munter auf dem Tisch tanzen und so chaplinesk kokettieren, dass die Zeit verrast." Weitere Besprechungen in FAZ und NMZ.

In der Berliner Zeitung zeigt Susanne Lenz sehr schön die Dynamik von Körperlichkeit, Attraktivität und Macht im Theater auf, die zu Missbrauch verleiten können: Regisseur Christoph M. Gosepath etwa sagt zu ihr: "'Ich möchte eigentlich das Recht haben, eine Schauspielerin zu fragen, ob sie Bock hat, mit mir zu schlafen, und wenn sie Nein sagt, dann ist das natürlich okay. Aber wer als Schauspielerin oder Schauspieler in den gegenwärtigen Machtstrukturen heute Avancen abweist, geht ein Risiko ein. Das ist der kritische Punkt: Er oder sie sagt vielleicht Ja, weil die Angst besteht, sonst nicht weiterarbeiten zu können. Es ist in der Machtstruktur angelegt, dass er oder sie so etwas denken kann oder vielleicht sogar muss. Darin liegt die Berechtigung des wichtigen heutigen Fegefeuers.'"

Besprochen werden die Choreografie "Palmos" von Active Child und Andonis Foniadakis für das Opera Ballet Vlaanderen (FAZ), ein Stream mit Jürgen Kuttner und Oliver Maria Schmitt aus dem Mousonturm (FR)
Archiv: Bühne

Kunst

Phyllida Barlow: untitled: 11 awnings, 2013. Foto: Haus der Kunst

"Wie ein gewaltiger Erdrutsch" überkommt FAZ-Kritikerin Brita Sachs das Werk in der großen Phyllida-Barlow-Schau im Haus der Kunst, mit der die 1944 geborene britische Künstlerin nun auch hierzulande bekannt werden soll: Barlows Schaffen imponiert mit eigenständiger und mainstreamferner Ästhetik, die trotz riesenhafter Maße und waghalsiger Balanceakte ohne Imponiergehabe auskommt. Zement, Gips, Bauholz und -schaum, Sand, Styropor, farbige Tuchbahnen, Gummischläuche, Maschendraht, an eine Einkaufsliste für den Baumarkt erinnern die bevorzugten Materialien der Künstlerin, die im zerstörten London der Nachkriegszeit aufwuchs, das sie ebenso beeinflusste wie der anschließende Wiederaufbau. Bis heute inspiriert sie die provisorische und oft chaotische Anmutung von Baustellen."

Weiteres: Auf Monopol sagt Tilman Baumgärtel den gerade sehr gehypeten, Blockchain-basierten NFT-Kunstwerken ein ähnliches Schicksal voraus wie den hässlichen CryptoKitties, nach denen auch kein Hahn mehr kräht. Außerdem meldet Monopol, dass Marina Abramovic jetzt zum Meditieren während des Datentransport auf WeTransfer animiert.
Archiv: Kunst

Architektur

Besprochen werden die Schau "Einfach grün" im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt (taz), eine Ausstellung zum Großwesir der Postmoderne Josef Paul Kleihues in der Städtischen Galerie in Kornwestheim (FAZ) und eine Dokumentation über den finnischen Stararchitekten Alvar Aalto (Guardian).
Archiv: Architektur

Design

Julia Werner schreibt in der SZ einen Nachruf auf Elsa Peretti, die erst als Modell und dann als Schmuckdesignerin bekannt wurde: Ihre Entwürfe orientierten sich an der organischen Natur und "waren eine Befreiung, in vielerlei Hinsicht. Es gab sie nicht nur in Gold, sondern - in den Siebzigerjahren eine Sensation - auch in Silber. Der Schmuck mit seiner ecken- und kantenlosen Haptik war endlich etwas, das in echte Frauenleben passte. Revolutionär war das, weil Juwelen jahrhundertelang starre Gebilde gewesen waren, deren Edelsteine von rigiden Gerüsten aus Gold gehalten wurden. Und weil sich plötzlich lange Schlangen vor den Filialen bildeten. Frauen kauften - zum ersten Mal - selbst Schmuck."

Susanne Koeberle hat für die NZZ bei Designerinnen und Designern nachgefragt, wie sich die Pandemie auf deren Arbeit auswirkt.
Archiv: Design

Film

Hans Korfmann porträtiert für die taz den Kameramann Hans Rombach.

Besprochen werden Katharina Wyss' "Sarah Plays a Werewolf" (online nachgereicht von der FAZ), Luca Guadagninos Miniserie "We Are Who We Are" (Intellectures) und die Netflix-Serie "The One" (FAZ).
Archiv: Film
Stichwörter: Netflix, Guadagnino, Luca

Musik

Andrian Kreye spricht in der SZ mit dem Berliner Jazzlabelbetreiber Mathias Modica über Berlin, seine "Krautjazz Futurism"-Compilations und warum Jazz der Sound der Jugend ist, während Techno heute eigentlich ein Fall für die Sparte "Oldies" ist: In der zweiten Hälfte der Zehnerjahre "'hat Jazz plötzlich die unter 25-Jährigen begeistert', sagt er. 'Für die ist Techno schon wieder langweilig.' Und ja auch nichts Neues mehr. Im Gegenteil. 'Berlin hat mit Techno inzwischen ein ganz ähnliches Problem wie Buenos Aires mit dem Tango.' Zu viel. Zu viel dasselbe. In Neukölln aber, wo er wohnt, seit er aus Marseille nach Deutschland gezogen ist, 'da gibt es um mich herum lauter Jazzclubs, vor denen die Kids mit den Nike Caps und den Balenciaga-Schuhen stehen'. Auch weil beim Techno eher die 45-jährigen herumhängen." Modica wurde im übrigen vor wenigen Tagen 44.



Außerdem: Joachim Hentschel vergnügt sich für die SZ bei einer Online-Pressekonferenz von Ringo Starr. Stefan Stiletto führt im Filmdienst durch die Filme und Musikvideos von Daft Punk.

Besprochen werden Nik Nowaks Klanginstallation "Sound(ing) Systems" (taz), das Corona-Konzert vor Publikum der Berliner Philharmoniker (Welt, mehr dazu bereits hier), Justin Biebers neues Album "Justice" (ZeitOnline), das neue Album von Lana Del Rey (FAZ, mehr dazu bereits hier) und Jon Batistes Jazzalbum "We Are" (Tagesspiegel). Wir hören rein:

Archiv: Musik