Efeu - Die Kulturrundschau

Wo es für alle tickt

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26.03.2021. Die FR steht mit Timm Rautert im Essener Folkwang Museum am Scheideweg der Fotografie. Wer von einer Regisseurin erwartet, dass sie für eine Doku jahrelang unter Straßenprostituierten recherchiert, muss ein bisschen mehr als 36.000 Euro ausgeben, mahnt Artechock in Richtung NDR. Die Welt kratzt mit Barrie Kosky in München die Patina vom "Rosenkavalier". In Marbach träumt man vom "totalen Archiv", weiß die SZ. Die FAZ blickt bei der Berliner MaerzMusik in die mit ersten Adressen geschmückten Auftragsbücher der Composer of Colour. Und die Feuilletons trauern um Bertrand Tavernier.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.03.2021 finden Sie hier

Kunst

Timm Rautert, aus: Variationsreihe, 1967. © Timm Rautert


Am Werk von Timm Rautert, dem derzeit eine große Retrospektive im Museum Folkwang gewidmet ist, kann man gut die Entwicklung der Fotografie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkennen, meint in der FR Daniel Kothenschulte. "Es ist die Emanzipationsgeschichte eines Künstlers und zugleich eines Mediums, das sich - hierzulande besonders deutlich - plötzlich an einen Scheideweg befand: Hier die traditionelle, kunsthandwerklich aufgestellte Fotografie ... Und da die museale Fotokunst, die sich ihre eigenen Anforderungen stellt - im Dialog mit Malerei, Skulptur oder dem Bewegtbild. Rautert, Jahrgang 1941, hat diese Janusköpfigkeit seines Mediums früher als andere begriffen: Seine ab 1970 entstandenen Arbeiten der Werkgruppe 'Bildanalytische Fotografie' dekonstruieren das mediale Sehen so gründlich wie in derselben Zeit der 'strukturelle Film' das Kino neu erfand. Im ersten Ausstellungsraum erlebt man an Hand früher Studentenarbeiten wie rasant sich diese Erweiterung seines Blicks vollzogen haben muss."

Weiteres: In der NZZ hält Sarah Pines "Everydays", das teuerste digitale Kunstwerk (69 Millionen Dollar) der Welt, für reinen Schwindel. Besprochen werden die Ausstellung "The Class of Kirsi Mikkola. The Young Painters Show in Berlin" in der Berliner Galerie Nagel Draxler (taz), die Ausstellung "Too much Power (too little Power)" im Kunstverein Wolfsburg (taz) und Renzo Martens' Doku "White Cube" (monopol)
Archiv: Kunst

Film

Die Feuilletons trauern um Bertrand Tavernier. Viel zu früh ist dieser französische Autorenfilmer von uns gegangen, seufzt Claudius Seidl in der FAZ und fragt sich, wie es dieser Regisseur nur "schaffte, keiner Schule anzugehören und sich doch durchzusetzen mit seinen Filme, die keine Konzessionen machten an das, was das globale Publikum sich so wünschte als französelnden Stil." Tavernier gelang es "wie kaum einem anderen Meister des französischen Films, Vergangenes so zu inszenieren, dass die Präzision der Regie die Bilder zum Schillern brachte: Ungeheure Entfernungen liegen zwischen uns, dem Publikum, und dem Mittelalter der 'Passion der Beatrice' oder dem Barock von 'D'Artagnans Tochter'. Und nur einen Augenblick später spürt und erkennt man die Konflikte und Emotionen, die ganz gegenwärtig sind."

Gerhard Midding erinnert sich in der Welt gern daran zurück, wie er nach einem langen Interview mit einem Mal in Taverniers Küche stand und von ihm höchstpersönlich bekocht wurde: "Während des köstlichen Mahls begriff ich endgültig, aus welchen Quellen sich seine Energie speiste: Er erfüllte seine Verpflichtungen aus Leidenschaft und Genuss." Hinzu kommt noch: "In seinen Filmen griff er Institutionen an, nicht Individuen. Seine agile Kamera übte taktvolle Solidarität. Er war einer der wenigen Autorenfilmer, die sich einen Sinn für das Heroische bewahrten. Spuren des Westerns finden sich im gesamten Werk, selbst in den Dramen über Generationenkonflikte." Weitere Nachrufe schreiben Andreas Busche (Tagesspiegel) und Patrick Straumann (NZZ).

Themenwechsel: Sicher, Elke Margarete Lehrenkrauss' NDR-Doku "Lovemobil", die mit zahlreichen, aber als solche nicht kenntlich gemachten Spielszenen durchsetzt ist (mehr dazu bereits hier und dort), hätte von vornherein als Doku-Fiction-Hybrid kenntlich gemacht werden sollen, kommentiert Steffen Grimberg in der taz. Das sei aber auch schon alles, was man der Filmemacherin vorwerfen könne: "Muss man mit Abscheu und Empörung auf die Art und Weise blicken, wie sie gearbeitet hat? Nein. Warum ist ein Sender wie der NDR, der den Film mitproduziert, abgenommen und ausgestrahlt hat, nicht eher und vor allem von allein darauf gekommen? Es könnte sein: weil der Film so gut ist. Davon kann sich bloß niemand mehr ein Bild machen. Denn der Film wurde umgehend aus der ARD-Mediathek gekippt und für Wiederholungen im Programm gesperrt."

Auf Artechock kommt Rüdiger Suchsland, der ansonsten einräumt, zur Sache an sich noch keine Position gefunden zu haben, auf einen anderen Aspekt zu sprechen: "36.000 Euro - so viel ist dem NDR eine Langzeitdokumentation für das Kino wert, jedenfalls diese. Für 36.000 Euro erwartet also ein öffentlich-rechtlicher Sender, dass eine Regisseurin jahrelang unter Straßenprostituierten recherchiert und einen fertigen Langfilm fürs Kino im Stil des Direct Cinema dreht. Dies ist eine lächerliche Summe." Zwar wuchs Budget mit Fördermitteln und Stipendien noch auf 100.000 Euro an, aber "auch das ist erschreckend wenig für eine mehrjährige Recherche und für einen Film, der de facto eigentlich 400.000 bis 500.000 Euro wert ist."
   
Außerdem: Susan Vahabzadeh (SZ), Carolina Schwarz (taz), Christiane Peitz (Tagesspiegel) und Anke Sterneborg (ZeitOnline) berichten von den Ergebnissen der Studie "Vielfalt im Film". Hanns-Georg Rodek berichtet in der Welt darüber, wie in China die Oscarverleihung zensiert werden soll. Um die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin wird mal wieder gestritten, berichtet Andreas Busche im Tagesspiegel. In den USA wird derweil darüber gestritten, ob man die Oscars per Zoom-Schalte annehmen darf, schreibt Kathleen Hildebrand in der SZ. Im Filmdienst erinnert Patrick Holzapfel an die Schauspielerin Simone Signoret, die vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden die Arte-Serie "Frieden" (Artechock), Juris Kursietis' auf Mubi gezeigtes Fleischfabrikdrama "Oleg" (Standard, mehr dazu bereits hier) und die Serie "The Split" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus dem "Rosenkavalier" in München. Foto © Wilfried Hösl


Die Staatsoper München hat ihre 46 Jahre alte Inszenierung des "Rosenkavaliers" in den Keller verbannt und Barrie Kosky um eine "würdige" Alternative gebeten. "Er hat das auch geschafft", lobt Manuel Brug in der Welt. "Als Reise durch die Zeit, wo es für alle tickt, vor allem für das Werk selbst, das - 'leicht muss man sein' - seit der eher kühl aufgenommenen Uraufführung 1911 selbst so unzeitgemäß mit diversen, teilweise gefälschten oder asynchronen Timelines spielt, dass es schon wieder präpostmodern zu nennen ist ... Barrie Kosky modernisiert konsequent, kratzt die Patina weg, lässt aber auch Ludwig-II.-Kitsch mit Stanniolkarosse zu. So schafft er sich seine 'Fantasiewelt aus französischer Operette, Molière, Shakespeare, Wiener Walzer, Mozart, Sigmund Freud und farcenhaftem Boulevard'. Das aber immer mit doppeltem Boden. Alle scheinbar vertrauten Typen, das italienische Intrigantenpaar, die Amme, der besorgt-aufgeplusterte Vater Faninal (mit Johannes Martin Kränzle luxusbesetzt), die Domestiken, sie bekommen eine heutigen Charakteranstrich."

Weiteres: Heute beginnt auf der nachtkritik "Zoom in", ein Festival zum Netztheater in der Freien Szene. Gestreamt wird außerdem "Draußen vor der Tür", das Regiedebüt des Schauspielers Marcel Kohler am Deutschen Nationaltheater Weimar im Februar des Borchert-Jubiläumsjahrs. Und auch die nmz hat Streamingtipps für die kommenden Tage zusammengestellt.
Archiv: Bühne

Literatur

In Marbach diskutierte eine Schar von Kritikern und Archivaren zur Frage des Literaturarchivs der Zukunft. Durchaus stand da die Sehnsucht nach einem "totalen Archiv" im Raum, berichtet Lothar Müller in der SZ. Die Idee dazu entspringt einer "Fusion von Historismus und Positivismus. Es ist eine ironische Volte der Geschichte, dass sie nun bei der Avantgarde der Digitalisierung wieder auflebt. ... Die Ungeduld des digitalen Positivismus ist groß. Er liebt, wie sein Vorgänger, die lückenlose Materialfülle. Als seine Anwältin forderte Kathrin Passig, das Marbacher Archiv solle schlicht 'alles', was auf diesem Feld tagtäglich entsteht, archivieren. Technisch sei das kein Problem. Konzeptionell wäre das 'Alles' durchaus ein Problem. Es würde ein Grundelement des Normalbetriebs außer Kraft setzen: dass ein Literaturarchiv auswählt, was es aufnimmt." Die FAZ hat zwischenzeitlich auch Jan Wieles Tagungsbericht aus der Ausgabe von gestern online nachgereicht.

Außerdem: Der Tagesspiegel dokumentiert Frank-Walter Steinmeiers in der Berliner Akademie der Künste gehaltene Rede über Heinrich Mann. Daneben würdigt Willi Jasper den vor 150 Jahren geborenen Schriftsteller. Für Intellectures spricht Thomas Hummitzsch mit Holger Hanowell, einem weiteren der vielen Übersetzer, die gerade Orwells Klassiker "Farm der Tiere" und "1984" neu ins Deutsche übertragen haben.

Besprochen werden unter anderem Kazuo Ishiguros "Klara und die Sonne" (taz), Thea Dorns "Trost" (Tell), Ivo Andrics "Insomnia" (NZZ), Hilary Leichters "Die Hauptsache" (ZeitOnline), Jeff Lemires Batman-Comic "Joker: Killer Smile" (Tagesspiegel), Ulla Hahns Gedichtband "stille trommeln" (FR) sowie Rüdiger Görners und Kaltërina Latifis Bildband "Thomas Mann. Ein Schriftsteller setzt sich in Szene" (SZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Bildungslandschaft Altstadt-Nord BAN. Bild: Gernot Schulz Architektur


"Spektakulär geglückt" findet FAZ-Kritiker Matthias Alexander die Bildungslandschaft Altstadt Nord in Köln mit Kita, Schule und Studienhaus, die der Architekt Gernot Schulz gebaut hat. "Es sind nicht die tristen Kisten, die derzeit landauf, landab errichtet werden, aus Gründen der Kosten- und Zeitersparnis oft in Modulbauweise. In Köln sind die vier Gebäude mit ihren fünfeckigen Grundrissen und schrägen Dachlinien vielmehr so zueinander angeordnet, dass sie eine Art Dorf mitten in der Stadt bilden. In seinen Gassen bieten sich reizvolle Blickbeziehungen, die Kreuzungen sind zu kleinen, wohlproportionierten Plätzen ausgeformt. ... Es gibt auch keinen Zaun, der Nichtmitgliedern der Schulgemeinde signalisieren würde, dass sie hier nichts zu suchen hätten. Passanten sollen sich stattdessen eingeladen fühlen, die Gassen als Abkürzung auf ihren täglichen Wegen zu nutzen. Der Hof der Realschule geht ohne Schwelle in den östlich angrenzenden Klingelpützpark über."
Archiv: Architektur

Musik

Max Nyffeler resümiert die Berliner MaerzMusik, die sich in diesem Jahr schwerpunktmäßig mit Themen wie "Dekolonisierung" und Afromodernism befasste (unser erstes Resümee). Sehr dankbar ist der FAZ-Kritiker zwar für den Hinweis auf die Musik des Ägypters Halim El-Dabh, aber daneben überzeugte die Veranstaltung nur überschaubar: Diskussionen krankten daran, dass die es gut meinenden Diskutanten angesichts afrikanischer Perspektiven überfordert waren, auch die Aufführungen von Musik aus der schwarzen Diaspora enttäuschten ihn. Der beschworene "Black Sound" in der zeitgenössischen Musik "erschien bloß als weitere Facette in der von Individualismus geprägten postmodernen Musikproduktion, der Unterschied zum Normalsound der Neue-Musik-Festivals war gering. Die Composers of Color sind im weißen Musikbetrieb zwischen London und New York bestens vernetzt, haben so prominente Lehrer wie Tristan Murail und George Lewis, den Kurator des Konzerts des Ensemble Modern, ihre Auftragsbücher sind mit ersten Adressen geschmückt. Davon kann der weiße Komponistinnennachwuchs in Europa nur träumen. Handwerklich sind sie ohne Tadel."

Außerdem: Für den Freitag porträtiert Jürge Ziemer den Jazzlabelbetreiber Mathias Modica, mit dem vor kurzem auch schon die SZ plauderte (unser Resümee). Der Clubbetreiber Dimitri Hegemann will die Clubbetreiber der Zukunft ausbilden, um das Clubleben nach der Pandemie zu beleben, schreibt Peter Richter in der SZ.

Besprochen werden das neue Album von Lana Del Rey (taz, mehr dazu bereits hier), die DVD "900 Jahre Kloster Engelberg" mit Aufnahmen mittelalterlicher Notenhandschriften (NZZ), neue Doom-Metal-Veröffentlichungen - also "Musik, die radikal sperrig sein will, immer wieder droht in weißes Rauschen zu kippen und gerade immer noch die Kurve kriegt", schwärmt Benjamin Moldenhauer im ND - und ein Konzert des hr-Sinfonieorchesters unter Andrés Orozco-Estrada (FR). Auf Youtube steht es in voller Länge:

Archiv: Musik