Efeu - Die Kulturrundschau

Exodus aus der Transparenz

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31.03.2021. Die Architekten Herzog und de Meuron stellen ihren revidierten Entwurf für das Museum des 20. Jahrhunderts vor: Die Fassade ist jetzt attraktiver findet der Tagesspiegel, aber ein Klimakiller, bemerkt die Zeit. Das neue Museum wird nicht mal genug Geld haben, stellt die taz fest, um sich die Werke von Gerhard Richter schenken zu lassen. Außerdem lauscht die taz den achtsamen Sonoklasmen des Walter Smetak. Der Filmdienst entdeckt das experimentelle Filmwerk von Maria Lassnig. Und die SZ wüsste, womit sich die Theater im Lockdown sinnvoll beschäftigen könnten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.03.2021 finden Sie hier

Architektur

Die neue Fensterfront  für das M20. Bild: Herzog de Meuron / SPK

Gestern stellten Herzog und de Meuron zusammen mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ihre revidierten Pläne für das Museum des 20. Jahrhunderts vor. Im Tagesspiegel kommt Nicola Kuhn jetzt vor allem mit der Fassade besser klar: "Inzwischen erweist sie sich als reizvoller, nicht mehr nur als vorgehängte Backstein-Lochgardine wie in den ersten Entwürfen. So versprach Herzog eine 'textile Weichheit' des Materials, für den Brand des Backsteins wurde ein eigenes Verfahren entwickelt. Ein schräges Fenster an der Potsdamer Straße erlaubt Einblicke in den Beuys-Raum. Insbesondere die durchfensterte Front am Scharoun-Platz verspricht attraktiv zu werden." In der Zeit entdeckt Tobias Timm allerdings den Haken im Entwurf mit seinen "krassen Räumen" (Jacques Herzog), nämlich eine enorm aufwändige Klimatisierung:  "Deutliche Kritik kommt dazu jetzt auch aus der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. 'Das Museum des 20. Jahrhunderts ist ein Klimakiller', sagt der Konservierungswissenschaftler Stefan Simon."

In der FAZ kann sich Andreas Kilb noch immer nicht für den Bau erwärmen, auch weil von dem speziellen Dach, das den Entwurf im Wettbewerb nach oben katapultierte, plötzlich nicht mehr die Rede ist.
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Kunst

Gerhard Richter: Piz Surlej, Piz Corvatsch, 1992. Bild: Kunsthaus Zürich

Die SPK erklärte gestern auch, dass das geplante Museum des 20. Jahrhunderts die hundert Werke von Gerhard Richter als Dauerleihgabe der Gerhard Richter Kunststiftung bekommt. Für Hans-Jürgen Hafner und Kito Nedo in der taz ist das nicht unproblematisch: "Weil im Spitzensegment seit Langem utopisch hohe Preise aufgerufen werden, ist es für die öffentliche Hand unmöglich geworden, wichtige Werke aus diesem Bereich anzukaufen. Aufgrund der anfallenden Schenkungsteuer sei sogar Kunst zu schenken schlicht zu teuer geworden, erklärte Joachim Jäger am Montag. Künstler*innen und Nachlassverwalter*innen gründen daher Stiftungen, die als Leihgeber fungierten. Keine gute Nachricht für Museen. Sie müssen unabhängige Orte des Sammelns, Forschens und der Vermittlung sein und dürfen nicht Verschiebebahnhöfe für Kunst-Leihgaben werden."

NZZ-Kritiker Philipp Meier erkennt im Kunsthaus Zürich derweil, dass Gerhard Richter zu einem solch bedeutenden Künstler wurde, weil er einst in seinen Landschaftsbildern der Malerei gegenüber misstrauisch blieb: "Gerhard Richter erweist sich als gnadenloser Meister darin, den Kitsch zu vermeiden. Kitsch wäre ihm unerträglich. Daher konfrontiert er sich bewusst mit diesem Gefühl drohender Unerträglichkeit, indem er in seiner Malerei hart an die Grenze ihrer Auflösung geht. In beinahe abstrakte Strukturen zerfallen seine Bergmassive."

 Andreas Gursky: Kreuzfahrt, 2020. Bild: Museum der bildenden Künste

Als Großereignis annonciert Ingeborg Ruthe in der FR die große Andreas-Gursky-Schau im Leipziger Museums der bildenden Künste, die der Homogenität zu misstrauen lehrt: "In diesem fast schon unheimlichen Wiederholen des scheinbar immer Gleichen, aber eben doch nicht Gleichen bildet der Fotograf nicht einfach nur ab. Gursky scheut nicht das Metaphorische, das ja auch so typisch ist für die Leipziger Malerei. Er spielt durch das vorgeblich Dokumentarische seiner Bilder mit der vermeintlichen Objektivität des Mediums Fotografie. Das besagt, dass es kein 'endgültiges' Bild gibt, weil die Art und Weise, ein Ereignis festzuhalten, sehr variabel ist."
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Bühne

Anstatt Stücke zu produzieren, die im Moment eh niemand sehen will, sollten die Theater jetzt lieber an ihrer Modernisierung arbeiten, meint Christiane Lutz in der SZ und holt sich bei Lisa Jopt und Thomas Schmidt vom Ensemble-Netzwerk Vorschläge: Wie wäre es mit der Wahl eines Intendanten oder zumindest Qualitätskriterien? Flacheren Hierarchien? Mit besseren Verträgen für SchauspielerInnen? "Und was ist mit dem Argument, dass Kunst von jeher von Grenzüberschreitungen lebt? Vom Dazwischen, vom Flirren, vom sich gemeinsam Fallenlassen? Geht da nicht etwas verloren, wenn alles von allen in alle Richtungen abgesegnet wird, wenn Kunst gepolstert werden muss? Jopt sagt: 'Kunst darf flirren und sexy sein. Aber bitte - das kann sie auch, ohne dass dabei Menschenrechte missachtet werden.'"

Weiteres: Georg Kasch erkundet in der Nachtkritik, warum sich das eigentlich deutlich innovativere zeitgenössische Musiktheater so viel schwerer tut mit Streaming-Formaten als die Oper. In der NMZ zieht Roland Dippel nach einem Jahr Opernstreaming eine Zwischenbilanz.
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Stichwörter: Ensemble Netzwerk, Streaming

Film

Unerhört: Radiosignale suchen eine Kleinstadt heim. Andres Pattersons "The Vast of Night" (Amazon)

Andrew Pattersons Debütfilm "The Vast of Night" ist eigentlich schon eine ganze Weile auf Amazon Prime zu sehen. Doch dieser kleine, aber feine Science-Fiction-Horror-Film lief zumindest hierzulande noch derart unter dem Radar, dass SZ-Kritikerin Juliane Liebert ihn uns allerwärmstens ans Herz legt. Es geht um ein geheimnisvolles Radiosignal, das in den fünfziger Jahren eine Kleinstadt in New Mexico heimsucht. Aber: "Nach etwa einem Drittel Laufzeit wird die Kamera reiner Geist. Fay zündet sich in der Tür eine Zigarette an und startet damit eine Plansequenz. Dicht am Boden fährt die Kamera das menschenleere Cayuga ab, es geht über bleiche Straßen, dunkle Wiesen, dazu orchestrale Filmmusik: Blechbläser grunzen fremdartig, es klappert, zirpt; Innehalten in der Sporthalle, wo die Kleinstadt zum Basketballmatch versammelt ist, Flucht durchs Fenster, Ankunft Radiostation, Zoom auf klingelndes Telefon. Schnitt. Bild, Ton, Mensch, Ding und das ganz Andere, Unfassbare - alles steht unter Hochspannung in Verbindung miteinander. Eine spukhafte Filmwirkung. Selten war das Kino so bei sich."

Maria Lassnigs Film "Alice" (Maria Lassnig Stiftung)

Eine unbedingte Entdeckung ist laut Patrick Holzapfel im Filmdienst auch das Experimentalfilm-Werk von Maria Lassnig, das sich nun in Teilen mittels eines Buchs über die 2014 verstorbene, österreichische Malerin erschließen lässt, zumal dem eine DVD mit ausgewählten Filmen beiliegt. Diese "Filme sind eine Offenbarung." Lassnig entwickelte "ein körperlich-verspieltes, wütendes, freies Kino des dezidiert weiblichen und filmischen Ausdrucks." Unter anderem filmte Lassnig "ihre enge Freundin, die Weberin und Künstlerin Hildegard Absalon, auf ihren Streifzügen zwischen Natur und Kunst. Aus den Bildern spricht ein großer Glaube an die Kraft des Sehens, die hier auch eine Kraft des Seins ist. Offene Blicke in die Gesichter ihrer Protagonistinnen, ein Interesse für alltägliche Handgriffe und die unter den Oberflächen schlummernden Gefühle der verschiedenen Frauen sind jederzeit greifbar."

Besprochen werden James Bluemels auf Arte gezeigter Dokumentarfilm "Es war einmal im Irak" (FAZ), die Apple-Serie "Calls" (FAZ), und die im Ersten gezeigte Doku "Yes We Can" über junge Politikerinnen (taz).
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Literatur

In der Zeit analysiert der Übersetzer Frank Heibert sehr nachvollziehbar Amanda Gormans Gedicht "The Hill We Climb", in dem er Sprachmagie auf "Pep-Talk-Optimismus" treffen sieht, und erkennt in der Übersetzung vor allem eine Entscheidung für die inhaltliche Wirkung anstelle der ästhetischen. Lothar Müller schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Lektor Walter Pehle. Tilman Spreckelsen gratuliert in der FAZ dem Schriftsteller Jean-Claude Mourlevat zur Auszeichnung mit dem Astrid-Lindgren-Preis. Albrecht Mayer, Oboist der Berliner Philharmoniker, verrät der Welt, welche Bücher ihm am meisten bedeuten.

Besprochen werden unter anderem Lina Ehrentrauts Comic "Melek + ich" (Tagesspiegel), Amanda Gormans "The Hill We Climb - Den Hügel hinauf" (FR), Franzobels "Die Eroberung Amerikas" (FR), Peter Handkes "Mein Tag in einem anderen Land" (SZ), Elif Shafaks Essay "Hört einander zu" (NZZ) und Jochen Hörischs "Hände. Eine Kulturgeschichte" (FAZ).
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Musik

Diedrich Diederichsen führt in der taz wahre Jubeltänze auf, dass Walter Smetaks Alben neuaufgelegt wurden, für die man bisher empfindlich hohe Beträge hinlegen musste: "Es ist die seltsamste Musik des Planeten! Gar nicht so sehr, weil ihre Zutaten (selbst gebaute Instrumente, die einen Bezug zwischen rituell-magischen und musikalisch-mathematischen Handeln auslösen sollen, Musiker:Innen aus Jazz, Pop und Neue Musik, die sich den Regeln eines inspirierten Sonderlings fügen) so ungewöhnlich sind, sondern die Haltung, die attitude. Was haben wir nicht im Leben an Grenzen niederreißenden Sonoklasmen, befreiten Soundkommunen und Experimentalexzessen zu Ohren bekommen! Doch waren dies immer Ereignisse der Entschlossenheit, der Euphorie, des Willens zur Macht. Bei den überzarten Zupf- und Streichereignissen auf 'Smetak' müsste man dagegen fast die aktuelle Trendvokabel 'Achtsamkeit' (mit spitzen Fingern) auspacken ... Hier wird der musikgrammatische Exodus aus der Transparenz geprobt." Und das klingt so:



Außerdem: Andreas Hartmann spricht im Tagesspiegel mit dem Jazzlabelbetreiber Mathias Modica unter anderem über die Berliner Szene. Elena Witzeck erkundigt sich in einem online nachgereichten FAS-Artikel bei Dimitri Hegemann über die Zukunft der Clubkultur. Jakob Biazza plaudert für die SZ mit dem Texter Tobias Reitz über das Handwerk der Schlagertexterei. Für den Standard holt Karl Fluch "Losing My Religion" von R.E.M. wieder aus dem Schrank. Frederik Hanssen schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf den Cellisten Ottomar Borwitzky.

Besprochen werden die Compilation "Two Synths A Guitar (And) A Drum Machine" über die Geschichte von Postpunk (taz), Aki Takases, Michael Grieners und Christian Webers Album "Auge" (FR), eine Aufnahme von Bachs Matthäus-Passion der Zürcher Sing-Akademie mit dem Orchester La Scintilla (NZZ), und neue Popveröffentlichungen, darunter Demi Lovatos neue Single "Dancing With The Devil", die sich SZ-Popkolumnist Max Fellmann bereits als neuen Bond-Song imaginiert - eine sehr plausible Vorstellung:

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