Efeu - Die Kulturrundschau

Kreislauf von unkomfortablen Optionen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.04.2021. Hyperallergic empfindet vor den Bildern von Mark Bollinger plötzlich Sympathien für die weiße Arbeiterklasse. Die FR bestaunt die in verführerischen Gold- und Rosatönen schimmernden schlaffen "Metallbleche" des Künstlers Mike Bouchet. Die FAZ feiert die coole Gefühls-Zeremonienmeisterin Nadine Sierra in Vincent Huguets Inszenierung von Mozarts "Figaro". Die Welt wünschte sich wenigstens mal einen mutigen Tempoansatz von Daniel Barenboim. Der Standard lernt aus der Doku "Framing Britney Spears", wie toxisch die Celebrity-Kultur ist. In der FAZ macht Filmregisseur Thomas Frickel seiner Empörung über die Pseudo-Dokumentation "Lovemobil" von Elke Lehrenkrauss Luft.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.04.2021 finden Sie hier

Bühne

Figaros Hochzeit an der Staatsoper Berlin. Foto: Matthias Baus


Schwung hat Vincent Huguets Inszenierung von Mozarts in die Achtziger verlegter Oper "Le nozze di Figaro" an der Staatsoper in Berlin schon, aber der Zynismus und Wille zur Macht schlägt FAZ-Kritiker Gerald Felber auf den Magen, auch wenn (oder vielleicht: gerade weil) die Sänger ihre Sache sehr gut machen: "Bei Susanna bleibt kaum eine Männerhand vom Leibe, es wird gegrabscht, was das Zeug hält - aber die junge Frau ist auch mit sichtlichem Vergnügen dabei, verheißend und verweigernd, steuernd und manipulierend, kaum außer Fassung zu bringen. Noch ihre Gartenarie ist weniger Ausdruck spontaner Empfindung als schlaue Inszenierung, und die mitreißende Nadine Sierra realisiert diese Rolle einer coolen Gefühls-Zeremonienmeisterin großartig. Ihrem bronzenen Verführungstimbre begegnet Elsa Dreisigs Gräfin in ihrer ersten Arie - auch die ein reines, quasi Selfie-geeignetes Schaustück - mit Anflügen strähnig-gebrochener Resignationsfahlheit, um dann an Cherubinos Zuneigung, postwendend vollzugsbereit, leuchtstimmig aufzublühen und vor allem in den großen Ensembles als unumstrittene Primaria zu agieren."

"Der Chéreau-Schüler Huguet will die Mozart/Da-Ponte-Trilogie als Legende von der sexuellen Befreiung und ihren Folgen verstanden wissen. 'Così fan tutte' als 68er-Aufbruchsstück, 'Le nozze' als Ehekrisen-Actionkomödie, 'Don Giovanni' als in der Gegenwart angesiedelte Altersbetrachtung - Teil 1 und Teil 3 stehen nächste Saison auf dem Spielplan", erklärt Christiane Peitz die geplante Trilogie im Tagesspiegel. In der SZ überzeugt das Julia Spinola nicht die Bohne: "Das alles ist bis über die Schmerzgrenze platt und bieder", ärgert sie sich. "Eighties-Nostalgie mit viel Lila und Fallschirmseide" sind "schon das Ende der Einfälle", knurrt in der Welt auch Manuel Brug, der das ganze lauwarme Unternehmen in erster Linie Daniel Barenboim anlastet: "Schon nach den ersten, nur müde Anlauf nehmenden Ouvertüren-Takten fragt man sich freilich: Macht denn einer wie Barenboim gar keine Hausaufgaben mehr? Muss dieser zahnlos weichgespülte, sämig schnurrige Seventies-Mozart wirklich sein? Kann sich nicht auch ein großer Dirigent Noten einmal neu erarbeiten? Keiner erwartet von ihm Harnoncourt-Erkenntnisse oder Jacobs-Klugheiten. Aber wenigstens mal ein neuer Twist, ein anderer Akzent, ein mutiger Tempoansatz! Ist das zu viel verlangt?"

Weiteres: In der FAZ erinnert der Dramaturg Boris Motzki an die Uraufführung der ersten Stücke von Franz Xaver Kroetz vor fünfzig Jahren. Solche Stücke bräuchten wir heute wieder, meint er, "um den Hoffnungslosen eine Stimme zu geben und um unsere gekränkte und gespaltene Gesellschaft nicht weiter auseinanderdriften zu lassen". Angelica Domröse zum Achtzigsten gratulieren Christine Dössel in der SZ und Maria Wiesner in der FAZ.

Besprochen werden außerdem Anne Mulleners Inszenierung von Sam Steiners Stück "Zitronen Zitronen Zitronen" am Schauspielhaus Graz (nachtkritik), der dritte Teil der Berliner Musiktheater-Trilogie "Moon Music" (nmz) und Dan Goggins Revue "Non(n)sens" am Gärtnerplatztheater und im Stream (nmz).
Archiv: Bühne

Film

In der FAZ macht der Regisseur und Filmproduzent Thomas Frickel seiner Empörung über die Pseudo-Dokumentation "Lovemobil" von Elke Lehrenkrauss Luft: "Der Skandal um den Film 'Lovemobil' ist ein Anschlag auf den Maschinenraum öffentlich-rechtlicher Informationskompetenz und Verlässlichkeit und hat einen Strudel ausgelöst, der die Branche durcheinanderwirbelt. Darunter auch viele aufrechte Dokumentarfilmschaffende, die mit großem Idealismus für den guten Ruf und die Anerkennung des Genres arbeiten. Die medienpolitische Dimension ihres Vorgehens hat Elke Lehrenkrauss, die Regisseurin des inkriminierten Films, weder bedacht noch verstanden, und der Versuch, den Betrug am Publikum mit Verweisen auf zu knappe Finanzen, Kunstfreiheit und Produktionsdruck schönzureden, macht nichts besser."

Weiteres: Christian Albrecht untersucht auf 54books die Stummfilmästhetik auf TikTok. Lena Schneider unterhält sich für den Tagesspiegel mit dem Filmkomponisten Karim Sebastian Elias ("Ku'damm 63"). Ebenfalls im Tagesspiegel gratuliert Peter von Becker dem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase zum Neunzigsten.
Archiv: Film

Musik

Aus der Doku "Framing Britney Spears"


"Wenn in den Vereinigten Staaten eine Vormundschaft beendet werden soll, liegt die Beweislast beim Mündel", erfährt eine entsetzte Andrea Diener, die für die FAZ die Doku "Framing Britney Spears" sah, die Regisseurin Samantha Stark als Produktion der New York Times gedreht hat, die jetzt offenbar auch im Streaminggeschäft mitmischen will. Spears steht seit dreizehn Jahren unter Vormundschaft ihres Vaters Jamie, zu dem sie seit ihrer Kindheit kaum noch Kontakt hatte. Sie "darf keinen Auftritt und kein Interview ohne seine Zustimmung absolvieren, er kontrolliert ihre Einkünfte und hat Einsicht in medizinische Unterlagen. ... Britney Spears selbst wünscht sich, dass ein unabhängiger Trust ihr Vermögen verwaltet, zusammen mit ihrer Managerin Jodie Montgomery, die vorübergehend als Vormund eingesetzt worden war, als Spears' Vater erkrankte. Wenn sich im Laufe der Dokumentation die Verwicklungen langsam entfalten, bekommt man den Eindruck, dass mit dem ganzen System der Vormundschaft etwas nicht stimmt und eine Gesetzesreform eine gute Idee wäre."

Im Standard fragt sich Karl Gedlicka, ob wir diesen Film wirklich brauchen: "Ohne die Beteiligung von Spears und ihrem inneren Zirkel mag das Bild, das die Interviewpartner in 'Framing Britney Spears' liefern, unvollständig und einseitig bleiben. Von einer eindeutig toxischen Celebrity-Kultur zeugt das kompilierte Archivmaterial. Man könnte es auch mit dem nicht für seine Zurückhaltung bekannten Filmemacher Michael Moore, halten, der über Spears sagt: 'Warum lassen wir sie nicht einfach in Ruhe?'" In der SZ schreibt David Steinitz über den Film.

Weiteres: In der SZ denkt Wolfgang Schreiber darüber nach, was ein Dirigent braucht, um Musiker und Publikum in den Bann zu schlagen. Charisma, klar. Aber was ist das? Kraft durch Herrschaft? Hingabe? Ausdrucksintensität? Geistige Spannung? Am Ende bleibt es "ein Geheimnis". Die nmz gibt Streamingtipps für die nächsten Tage.
Archiv: Musik

Architektur

Lichtdurchflutet und offen, das kostet Energie: Das geplante Museum des 20. Jahrhunderts. Foto: Herzog & de Meuron


Im Interview mit der NZZ wehrt sich Ascan Mergenthaler vom Büro Herzog & de Meuron gegen den Vorwurf, das geplante Museum des 20. Jahrhunderts für Berlin sei ein Klimakiller. Solarpaneele auf dem Dach hätten sich in diesem Fall einfach nicht rentiert. Und auch sonst ist die Sache komplex: Im Inneren müsse für die Kunst "ein striktes und konstantes Raumklima erzielt werden ... Dazu kommt, dass das Verbindende und die Offenheit des Hauses als städtebaulicher und auch inhaltlicher Vermittler am Kulturforum eine große Qualität unseres Entwurfs ausmachen und auch ein entscheidender Aspekt dafür waren, warum unser Projekt im Wettbewerb erfolgreich war. ... All dies steht in einem komplexen Spannungsverhältnis. Zusammen mit der Bauherrschaft, das ist in diesem Fall die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, dem Nutzer und unseren Planerkollegen haben wir die bestmögliche Lösung erarbeitet. Das Ergebnis erreicht gute bis sehr gute Werte in Bezug auf die Nachhaltigkeit, ist aber trotzdem kein Vorzeigebeispiel für 'grüne' Museumsarchitektur. Das ist in diesem speziellen Gefüge und unter diesen Voraussetzungen schlicht nicht umsetzbar."

In einem zweiten Artikel erinnert Sabine von Fischer die Berliner daran, dass die Hamburger auch lange und lautstark über die Elbphilharmonie gemeckert haben. Bis sie stand, dann waren alle begeistert.
Archiv: Architektur

Literatur

In der Literarischen Welt unterhält sich Richard Kämmerlings mit Felicitas Hoppe über Gott, Kirche und Glauben. In der SZ gratuliert Roswitha Budeus-Budde dem Zeichner und Kinderbuchautor Helme Heine zum Achtzigsten. Wieland Freund erzählt die tragische Geschichte hinter Mary Shelleys Roman "Der letzte Mensch". Und Sibylle Lewitscharoff findet den umstrittenen "saloppen" Dante-Text "des von mir geschätzten Herrn Widmann unangemessen", ohne zu sagen, warum.

Besprochen werden u.a. Klaus Weises Familienroman "Sommerleithe" (nachtkritik), Sören Urbanskys "An den Ufern des Amur" (FAZ), Peter Handkes Dämonengeschichte "Mein Tag im anderen Land" (FR), Rebekka Kricheldorfs Roman "Lustprinzip" (SZ), Teresa Präauers Band "Das Glück ist eine Bohne" (taz), Asja Bakićs Erzählband "Mars" (taz), Joseph Vogls "Kapital und Ressentiment" (taz), Carole Fives Roman "Kleine Fluchten" (Tsp), Benedict Wells' Roman "Hard Land" (Tsp), Turit Fröbes Band "Eigenwillige Eigenheime" (monopol) sowie der von Christian Baron und Maria Barankow herausgegebene Sammelband "Klasse und Kampf" (Zeit online).

In der Frankfurter Anthologie schreibt Julia Trompeter über das Gedicht "Postkarten mit Katzen, die menschliche Berufe haben" von Clemens J. Setz:

"Es ist sicher nicht schwer
Briefträger zu sein
Ein Hut, eine Umhängetasche mit Briefen
und die frische Luft zwischen den Gebäuden..."
Archiv: Literatur

Kunst

Matt Bollinger, "One Gallon" (2021). Foto courtesy Zürcher Gallery


Kaum eine Schicht wird heute in den USA so verachtet wie die weiße Arbeiterklasse. Doch steht man in der Zürcher Gallery vor den 19 Bildern, die Matt Bollinger seit Ausbruch der Pandemie gemalt hat, empfindet man echte Sympathie für diese Menschen, die von Hoffnungslosigkeit und Sprachlosigkeit gezeichnet sind, schreibt John Yau auf Hyperallergic.  "In 'One Gallon' (2021) beugt sich ein großer, dickbäuchiger Mann in schmutzigen Hosen und ärmellosem Hemd vor und pumpt Benzin in einen roten Ein-Gallonen-Kanister. Links von ihm, vom Bildrand abgeschnitten, ist ein Teil der Heckklappe eines Pickups zu sehen. Die Schultern, der Rücken, der Nacken, der Kopf und die Schirmmütze des Mannes verlaufen fast parallel zum oberen Bildrand, getrennt durch ein schmales Band des grünlichen Himmels. Indem Bollinger die riesige Masse des stark gekrümmten Körpers bewusst auf kleinem Raum zusammendrängt, unterstreicht er, dass der Mann niemals aufstehen wird und für immer in dieser extremen, unbeholfenen Pose gefangen ist. ... Bollinger ist ein bedeutender Künstler, dessen Chronik eines wesentlichen Sektors des amerikanischen Lebens mehr ist als ein Kommentar zu den Fehlern des Kapitalismus. Es ist eine aufrichtige und nachdenkliche Reaktion auf eine Bevölkerungsgruppe, die in einem Kreislauf von unkomfortablen Optionen gefangen ist."

Mike Bouchet in der Galerie Parisa Kind. Ausstellungsansicht. Foto: Galerie Parisa Kind


In der Frankfurter Galerie Parisa Kind bestaunt Sandra Danicke eine Ausstellung des amerikanischen Künstlers Mike Bouchet, die "die Schnittstelle zwischen standardisierten Alu-Trittblechen und Gummibärchen" markiert. Was völlig gaga klingt, aber enormen Spaß macht: "Bouchet, der an der HfG Offenbach lehrt, hat eine Symbiose geschaffen, die so unglaubwürdig erscheint, dass man meint, man habe es mit dem Werk eines magischen Alchemisten tun. Was man sieht, sind augenscheinlich Metallbleche, die sich schlaff über Tische und Gerüste legen, die Falten werfen und in verführerischen Gold- und Rosatönen schimmern. ... Seit zehn Jahren arbeitet der Künstler bereits an der Optimierung des Materials, erzählt er. Ein Werkstoff, der im Wesentlichen aus Gelatine besteht, zugleich hart wie Harz ist, nicht schimmelt und aussieht wie etwas anderes - je nachdem, welche Pigmente man hineinmischt. Der Härtungsprozess sei letztlich der Gleiche, der mit einem Gummibärchen passiert, das man lange an der Luft liegen lässt, erzählt Bouchet. Der Effekt ist bemerkenswert: Mal fühlt man sich an Satin-Bettwäsche erinnert, dann wieder an Latexfolie oder flüssiges Kupfer."

Weitere Artikel: Im Standard berichtet Olga Kronsteiner von Vorwürfen gegen die Eremitage in St. Petersburg, sie stelle gefälschte Fabergé-Eier aus: "Das behaupten eine Reihe internationaler Experten - die nationalen schweigen diplomatisch. Der seit bald 30 Jahren amtierende Museumsdirektor wiegelt ab und versucht es als einen offenen Zuschreibungsprozess zu bagatellisieren. Den Leihgeber, einen Oligarchen, der im deutschen Baden-Baden ein Privatmuseum betreibt, interessieren die Belehrungen der Fachwelt nur insofern, als er mit Klagen droht." In Monopol stellt Franziska Peil das Projekt "Neustadt" von Julius von Bismarck in Zusammenarbeit mit Marta Dyachenko vor, eine Miniaturstadt, die gerade per Schiff vom Borsighafen in Berlin nach Duisburg schippert, wo sie am Emscherkunstweg aufgestellt werden soll: "Der Transport über den Wasserweg ist als performativer Teil des Werkes gedacht, denn ein wichtiger Punkt in der Frage nach der Entwicklung von Städten und der Bewertung von Architektur ist die Nachhaltigkeit." Anika Meier unterhält sich für Monopol mit dem Künstlerduo Loopinglovers über NFTs (non-fungible token, ein digitaler Echtheitsnachweis). SZ-Kritiker Gerhard Matzig amüsiert sich mit Wojciech Czajas Fotoserie "Almost", die die ganze Welt in Wien einfängt, auf Instagram bewundert werden kann und jetzt auch im Wien Museum. Und Catrin Lorch annonciert in der SZ einer Gesprächsreihe zum Auftakt der 15. Documenta zu Themen wie "Lokale Verankerung", "Humor", "Großzügigkeit", "Unabhängigkeit", "Transparenz", "Genügsamkeit" und "Regeneration", uff.

Besprochen werden die Gruppenausstellung "Demokratie heute - Probleme der Repräsentation" im Berliner Kindl Zentrum für zeitgenössische Kunst (taz).
Archiv: Kunst