Efeu - Die Kulturrundschau

Das Assistenzsystem hieß Beifahrer

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24.04.2021. Nach dem Austritt aus der Istanbul-Konvention kann man die Türkei wohl als faschistische Diktatur bezeichnen, sagt die türkische Künstlerin Hale Tenger in der taz. Diversität ist die eigentliche Bestimmung des Hollywoodkinos, erkennt die FAZ mit Blick auf die Oscars. In der Welt diagnostiziert Ben Lerner einen "Hass auf Lyrik". In der nachtkritik entschuldigen sich weitere Regisseure für ihren Rassismus gegenüber Ron Iyamu. ZeitOnline hört Afrofunk aus Ghana. Und die NZZ trauert der rumpeligen Sinnlichkeit des Autos hinterher.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.04.2021 finden Sie hier

Kunst

Spätestens seit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention kann man die Türkei wohl als faschistische Diktatur bezeichnen, sagt die türkische Künstlerin Hale Tenger im taz-Gespräch mit Ingo Arend. Bereits in ihrer Arbeit "Ich habe solche Freunde" von 1992, die eine aus hunderten Bronzefiguren mit erigiertem Penis zusammengesetzte türkische Nationalflagge zeigt, kritisierte sie den Machismo: "Die Türkei taumelte fast immer unter dem Gewicht der Mitte-rechts-Politik und der von Männern dominierten Kultur. Das Installationsstück (...) bezog sich auf die brutalen Ungerechtigkeiten, vor allem gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei in diesen Jahren. Der seit Anfang der 80er Jahre andauernde türkisch-kurdische Konflikt war in den 90er Jahren erneut dramatisch eskaliert, und dieser Teufelskreis wiederholte sich immer wieder. (...) Seitdem die kurdische Vertretung im Parlament gewachsen ist und von der Öffentlichkeit breiter unterstützt wird, wurden die alten antikurdischen Mechanismen wieder aktiviert. Der Machismo war schon immer hier, aber jetzt untergräbt die 'Gesetzlosigkeit' das, was wir haben noch weiter."

Bild: Gibert & George: BEDLOW WAY. 2020

So funktioniert mitfühlende Satire, meint Michael Glover bei Hyperallergic, nachdem er in der Londoner White Cube Gallery in der Ausstellung "New Normal Pictures" durch die digitalen Werke von Gilbert & George taumelt. Das Künstlerduo streift hier mit bizarren Requisiten durch das Londoner East End: "Ihr Look ist das pure Varieté: weit ausgebreitete Arme, rollende Augen, herausgestreckte Hintern, die auf einen Tritt warten. Requisiten haben sie reichlich: ausrangierte Stadtmöbel, Geländer oder Baugerüste zum Anlehnen oder Posieren, Mülltonnen und Müllsäcke, Bob-Marley-Poster, die wie Kleingeldbeutel aussehen, Lachgas-Kanister, Knarren, Metalltore, riesige aufgeblasene Luftballons, die eine oder andere Matratze. Überall gibt es Graffiti und schäbige, vom Regen durchnässte Union Jacks. Die Farben ihrer glänzenden Anzüge reichen von Dijon-Senf bis Lila, von elektrischem Blau bis psychedelischem Smaragdgrün. Die Gesichter des Duos schimmern grellgelb, als wären sie Geister ihrer selbst."

Außerdem: Die KunstkritikerInnen gratulieren dem letzten deutschen "Malerfürsten" Markus Lüpertz zum Achtzigsten. In der FAZ schreibt Raimund Stecker: Lüpertz "scheint aus der Zeit gefallen. Seine Kunst zu sehen heißt immer noch: über Kunst sinnieren." Weitere Glückwünsche in FR und Welt. In der FAZ gratuliert außerdem Rose-Maria Gropp der britischen Malerin Bridget Riley zum Neunzigsten. Besprochen wird die Yayoi-Kusama-Retrospektive im Berliner Gropius Bau (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Film

Die am Sonntag verliehenen Oscars beschreiten einen neuen Weg, schreibt Daniel Kothenschulte in der FR, und zwar "weg vom Studio-Kino, hin zum Independent Cinema. Weg vom weißen Amerika zu einem Bekenntnis zur Repräsentanz des Kinos in aller Diversität vor und hinter der Kamera." Einige mosern daher schon, dass die Oscars zur woken Diversitätsparade verkommen würden. Ein grober Irrtum, schreibt Claudius Seidl in der FAZ. Wer so spricht, hat die Geschichte Hollywoods nicht verstanden: "Diversität ist die eigentliche Bestimmung und Existenzgrundlage des Hollywoodkinos. Mag schon sein, dass amerikanische Filme in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts auch den Zuschauern in Little Italy, in Koreatown und den Schwarzenvierteln der großen Städte weismachen konnten, dass sich alle wesentlichen Dramen und Komödien nur zwischen weißen Menschen nordeuropäischer Herkunft abspielten. Wichtig daran ist, dass Hollywood dort unbedingt verstanden werden wollte, weil es dann auch in Südeuropa, in Asien, auf der ganzen Welt verstanden wurde. Und als die Menschen dort ihresgleichen sehen wollten, mussten die Filme eben anders werden. Die Diversität der oscarnominierten Filme und Schauspieler in diesem Jahr ist kein Bruch mit der Tradition, sondern die Konsequenz einer Entwicklung."

Die meisten nominierten Filme liefen zunächst auf Streamingportalen. Trotz dieses niedrigschwelligen Zugangs kenne kaum einer die Filme, zitiert David Steinitz in der SZ eine Variety-Studie und bleibt dennoch gewiss, dass diese Ausgabe nicht als "Depressionsjahrgang" in die Geschichte eingehen wird. Die Presse verrät uns derweil, welche Oscarfilme bereits zum Streaming bereit stehen.

Weitere Artikel: In der SZ spricht Andrian Kreye mit der Sängerin Andra Day, die für ihre Rolle als Billie Holiday nominiert ist. Michael Kienzl schreibt im Filmdienst einen Nachruf auf Monte Hellman. In der Langen Nacht des Dlf Kultur widmet sich Martina Müller den Melodramen von Douglas Sirk.

Besprochen werden Emerald Fennells oscarnominierter Film "Promising Young Woman" (ZeitOnline) und die Serie "Shadow and Bone" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Nachtkritikerin Esther Slevogt rekonstruiert sehr ausführlich die Debatte um die Rassismusvorwürfe, die der Schauspieler Ron Iyamu gegen das Düsseldorfer Schauspielhaus erhoben hat (Unsere Resümees). Mit Robert Lehniger und Ron Wilson waren - im Gegensatz zu Armin Petras und Matthias Hartmann - zwei Regisseure, über deren Proben Iyamu in seiner Diplomarbeit berichtet, zu einem Interview bereit, in dem sie sich entschuldigen. Wilson sagt: "Schwarze und POC Schauspieler*innen müssen oft erfahren, wie ihre Körper als exotisch, anders und verschieden beschrieben werden; sie werden fetischisiert. Ihre Hautfarbe dient dann dazu, die Darsteller*innen zu verdinglichen, anstatt sie zu zelebrieren."

Aufmerksam lauscht Sandra Luzina im Tagesspiegel der fünften, diesmal digitalen Ausgabe von "Zuhören - Dritter Raum für Kunst und Politik", für die Sasha Waltz & Guests die belarussischen Musiker Olga Podgaiskaya und Vitali Appow eingeladen hatten. Auch über die Arbeitsbedingungen der KünstlerInnen und ihre Rolle bei den Protesten in Belarus wurde gesprochen: "Unabhängige Kulturzentren wurden geschlossen, und das von Appow geleitete Festival Kinemo, das Stummfilm und zeitgenössische Musik verbindet, konnte im letzten Jahr nicht stattfinden. Viele Künstler:innen hätten das Land verlassen. Für die, die bleiben, ist es gefährlich. 'Wir können jeden Moment verhaftet werden', sagte Appow. Sie habe schon viele Formen der Angst kennengelernt, erzählte Podgaiskaya - und lerne noch immer neue kennen."

Das dem Londoner Victoria & Albert Museum angeschlossene Theatermuseum gehört weltweit mit zu den besten Theatermuseen, nun ist durch die Pandemie ein Finanzloch von 10 Millionen englischen Pfund entstanden, Umstrukturierungsmaßnahmen sind notwendig, meldet Stephan Dörschel im Tagesspiegel und rauft sich die Haare, denn "was ist der Umstrukturierungs-Vorschlag des Direktors Tristram Hunt? Die bestehenden 13 Fachabteilungen aufzulösen, darunter auch die Theaterabteilung, und drei Hauptkomplexe zu bilden: Mittelalter/Neuzeit, 19. Jahrhundert, 20./21. Jahrhundert, dafür Stärkung der Digitalisierung und die Schaffung von Abteilungen für die Diaspora: Afrika-Amerika-Asien."

Besprochen wird Thom Luz' Inszenierung "Lieder ohne Worte" am Theatre Vidy-Lausanne (nachtkritik), Anne Lenks Inszenierung von Jean Racines "Phädra" am Staatstheater Nürnberg (nachtkritik) und  Ini Dills Tanzstück "Inspektor Heyler oder Die Suche nach der Haltbarkeit der Dinge" im Berliner Haus der Statistik (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Gibt es einen Hass auf Lyrik? Dieser Frage ging der amerikanische Schriftsteller Ben Lerner in den letzten Jahren nach, nachdem ihm aufgefallen war, dass kaum eine andere literarische Gattung immer wieder Attacken ausgesetzt ist und aktuelle Kommentatoren sich nach der einen, großen Stimme, die für die ganze Gesellschaft spricht, sehnen. "Mich hat diese Art von Nostalgie für Dichter wie Whitman interessiert sowie das, was sie entlarvt", erklärt er im Gespräch mit der Literarischen Welt. "Oft zeigt sich in ihr die Sehnsucht nach einem Moment, in dem weißen Männern das Privileg zugestanden wird, für alle zu sprechen. Auf diese Weise wird unter dem Zeichen einer poetischen Universalität eine weiße männliche Partikularität ins Gedicht hineingeschmuggelt. Hinter dem Hass auf Lyrik, wie wir ihn auch heute noch manchmal antreffen, verbirgt sich also oft die nostalgische Fantasie weißer Rassisten."

Außerdem: Michael Krüger erinnert in der NZZ ausführlich an David Rokeah und Tuvia Rübner. NZZ und Standard sprechen mit dem Schriftsteller Emmanuel Carrère, der in Nyon für sein Lebenswerk geehrt wird. Roman Bucheli (NZZ) und Hubert Spiegel (FAZ) erinnern an den einst vom helvetischen Antisemitismus arg angegriffenen Germanisten Jonas Fränkel, dessen Nachlass nun ins Schweizer Literaturarchiv eingeht. In der Literarischen Welt spricht Mara Delius mit dem Historiker Simon Sebag-Montefiore über die Kunst des Briefeschreibens, über die er gerade ein Buch veröffentlicht hat. Rudolf von Bitter fragt sich in der SZ, ob der junge Goethe ein UFO gesehen haben könnte. Fürs "Literarische Leben" der FAZ beugt sicht Tilman Spreckelsen über Dieter Kühns unveröffentlicht gebliebenen Fragments seines Dante-Romans. Andi Hörmann wirft für das Literaturfeature im Dlf Kultur einen Blick in die Literatur von Belarus.

Besprochen werden unter anderem Juli Zehs "Über Menschen" (taz), Noa Yedlins "Leute wie wir" (Dlf Kultur), Laurent Binets "Eroberung" (Tagesspiegel), zwei neue Dracula-Comicadaptionen (Tagesspiegel), Mary Adkins' "Das Privileg" (Literarische Welt), Şeyda Kurts "Radikale Zärtlichkeit" (SZ) und Sylvie Kandés "Die unendliche Suche nach dem anderen Ufer" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Fünf Jahre nach ihrer Sanierung soll die Neue Nationalgalerie im August wiedereröffnet werden, kommende Woche findet die Schlüsselübergabe statt. Im Welt-Gespräch erklärt David Chipperfield, der mit der Sanierungsarbeiten betraut war, wie es ihm gelang, hinter Mies van der Rohe zurückzutreten und inwiefern die Pandemie die Architektur und die Gestaltung öffentlicher Räume beeinflussen wird: "Ich glaube nicht, dass es nachhaltig wäre, den sozialen Abstand als dauerhafte Position mit irgendeiner positiven Einstellung zu akzeptieren. Soziale Nähe ist zu essenziell für unsere gesamte Lebensweise, sodass ich nicht glaube, dass sich die Architektur dahingehend verändern wird, dass man sich nicht mehr gruppieren kann und wir anfangen, Räume zu entwerfen, in die nur fünf Leute gleichzeitig gehen können. Das wäre dramatisch! Aber natürlich haben wir aus der Pandemie gelernt: Wir brauchen eine bessere Belüftung, hygienischere öffentliche Räume, gut zu reinigende Oberflächen in Bereichen, in denen wir kochen und essen. Vielleicht ist die Pandemie ein Weckruf. Sie verändert vielleicht, wie wir arbeiten, wie viele Büros wir brauchen und wie oft wir in die Stadt gehen."
Archiv: Architektur

Design

Das Automobil im Wandel der Zeit beschäftigt heute die Feuilletons: Die Kupplung etwa ist im Schwinden begriffen, wie der Blick in Verkaufsstatistiken belegt. Sehr zum Gram von Paul Jandl in der NZZ, dem nun auch das letzte bisschen rumpelige Sinnlichkeit beim Fahren von Autos verloren zu gehen droht: "Der Motor überhitzte im Sommer, und innen wurde es im Winter nicht warm. In den Kurven hupte das Auto vor sich hin. Man musste es fahren, wie der Organist die Orgel spielt. ... In unseren Autos sitzen wir jetzt in wattierten Sicherheitszonen. Wir sind die entmachteten Könige der Anfahrhilfen und der Spurhaltesoftware. In der Duzfreundschaft, die zwischen uns und der Technik herrscht, liegt eine Unterwerfung, die man früher nicht für möglich gehalten hätte. Das Auto war kein Ort der Widerspruchsfreiheit, sondern einer der Diskussionskultur. Denn das Assistenzsystem hieß Beifahrer."

Und Niklas Maak in der FAZ erklärt angesichts immer selbstbewusster gegenüber dem Fahrer auftretender Automobile: "Das Hochgefühl, das das Auto auslöst, liegt auch daran, dass es, anders als Familienmitglieder und Kollegen, über die Entscheidungen seines Fahrers nicht diskutiert. Kein Auto beklagt, dass sich in seinen Kofferraum kohlenhydratreiche Einkäufe stapeln, kein Auto jammert, dass sein Fahrer es durch energische Tritte aufs Gaspedal zwingt, viel Benzin zu schlucken. Doch jetzt soll sich alles ändern."
Archiv: Design
Stichwörter: Auto

Musik

Jonathan Fischer hat für ZeitOnline Max Weissenfeld in dessen in einer Villa eingerichteten Studio in Südghana besucht, wo sich für den vor der Berliner Gentrifizierung geflohenen Produzenten und Labelbetreiber geradezu paradiesisch günstige Bedingungen finden, um dort seiner Leidenschaft nachzugehen: Afrofunk produzieren. "Für Alogte Oho & His Sounds of Joy etwa. Oder Y-Bayani and Baby Naa. In Ghana gelten diese Gospelsänger als Stars, im globalen Norden hatte man zuvor noch nie von ihnen gehört. Ihren pentatonischen Chants hat Max Weissenfeldt seinen ureigenen Stempel aufgedrückt: dicke Reggaebässe, Korg-Synthesizer-Sounds, kreiselnde Rhythmen, Dub-Effekte. Alles wie aus einem Guss. Und doch eine unerhörte Fusion, gebaut aus Versatzstücken, die der deutsche Schlagzeuger irgendwo zwischen New Orleans, Kingston und Addis Abeba aufgegabelt hat." In diese Richtung gestupst hat ihn übrigens das euphorische 74er-Album "Sikyi-Highlife" von Dr. K. Gyasi & His Noble Kings:



Weitere Artikel: Louisa Zimmer berichtet in der taz von den Techno-Kontroverse um "Plague Raves", für die sich teure DJs eigens in Regionen einfliegen lassen, wo man es mit Coronamaßnahmen nicht so genau nimmt. Die Jungle World spricht mit Danger Dan über seinen "Kunstfreiheit"-Song und seinen Auftritt mit Igor Levitt bei Jan Böhmermann. In der taz plaudert Gunnar Leue mit dem Sänger Torsten Kelling, der auf seinem neuen Album kräftig berlinert. Die Berliner Symphoniker geben sich zukunftsgewiss und präsentieren ein Programm für die kommende Saison, berichtet Frederik Hanssen im Tagesspiegel.

Besprochen werden das Corona-Comeback-Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich (NZZ), ein Dvorák-Konzert des hr-Sinfonieorchesters mit Hilary Hahn (FR) und das neue Album von Dinosaur jr, für das SZ-Kritikerin Juliane Liebert gerne eine Ausnahme von ihrem Gelübde macht, nur noch über Gitaristinnen schreiben zu wollen. Wir hören rein:

Archiv: Musik