Efeu - Die Kulturrundschau

Zwischen Mad Max und Andrej Tarkowski

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08.05.2021. "Goworit Moskwa" - Moskau spricht - singt die russische Elektropopgruppe Shortparis, da hört auch die FAZ zu. Die SZ liest sich durch neue digitale Lyrik. Der Standard blickt mit Valentyn Vasyanovychs Film "Atlantis" aus dem Jahr 2025 zurück auf die Ukraine, jetzt ein surreales Trümmerfeld. Die taz vermisst Corona im Film. Hyperallergic staunt über die Wandlungen der Malerin Deborah Remington. Die FR erklärt, was in den Siebzigern Beuys und Habermas mit jungen Köpfen anstellten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.05.2021 finden Sie hier

Musik

Für die FAZ hat sich Artur Weigandt das neue Video "Goworit Moskwa" (Moskau spricht) von Shortparis angesehen. Die russische Elektropopgruppe nimmt darin Russlands Militärfestisch satirisch übersteigert und ziemlich anspielungsreich aufs Korn. Wenn Sänger Komjagin "in gehetzten Reimen von 'Jungs' singt, die die Hälfte kosten und an ihrem Alkoholrausch nur zur Hälfte schuld sind, so erinnert das an die Perspektivlosigkeit der russischen Jugend, vor allem in der Provinz, wo der Dienst in der Armee oder in der Polizei oft die einzigen sicheren Verdienstmöglichkeiten darstellen. ... Immer durchdringender hallen ihre Rufe 'Sprich, Ma', auch das rhythmisch eingeblendete Massenfoto vor dem Moskauer Kreml scheint zu fragen, wozu über Generationen Russen gegen Russen Krieg führten. Statt einer Antwort tritt am Ende der Kommandeur vor die Truppe und liquidiert seine unlenkbaren Schützlinge lieber eigenhändig."



Außerdem: Georg Kessler spricht für die taz mit der schottischen Popband Teenage Fanclub. Berthold Seliger schreibt in der jW ("mehr als nur") einen Nachruf auf Lew Lewis.

Besprochen werden neue Alben von Ja, Panik (Tagesspiegel), Marianne Faithfull (Standard), und Cremant Ding Dong (Jungle World) sowie Igor Levits Buch "Hauskonzert" (Literarische Welt).
Archiv: Musik
Stichwörter: Russland, Levit, Igor

Literatur

In den letzten Jahren ist eine "avantgardistische literarische Schule entstanden, die Quellcode nicht nur als Text begreift, sondern ihn auch als literarisches Handwerkszeug nutzt", schreibt Bernadette Keßler in der SZ. Auf Twitter findet man solche Projekte oft, etwa der von Ranjit Bhatnagar programmierte Bot @pentametron, der Tweets retweetet, die per Zufall im Pentameter verfasst sind. Oder Jia Zhangs @censusAmericans, der nach einem genauen System Daten aus der US-Volkszählung 2013 autobiografische Statements erstellt und den Datensatz in den nächsten 1760 Jahren auf- und abarbeitet. "Auf den ersten Blick wirkt Jia Zhang als Autorin. Im Laufe des Programmierprozesses gibt sie jedoch eine wichtige Autorfunktion auf: Im Rohzustand sind die Einzelbiografien viel zu lang für einen Tweet. Um einen Tweet zu erzeugen, wird nur auf drei oder vier einzelne Sätze zurückgegriffen. Diesen Auswahlprozess gibt die Programmiererin an die Maschine ab." Das "könnte man als konzeptuell-literarische Entscheidung auffassen: Es stellt die Frage nach den Narrativen, die im maschinellen Verarbeitungsprozess der Daten entstehen."

Der Dichter und in China lehrende Sinologe Wolfgang Kubin amüsiert sich in der FAZ darüber, dass die chinesische Zensur zwei alte Gedichte von ihm zensieren will und ihm damit überhaupt erst wieder in Erinnerung gerufen hat: "Ich hielt sie für unbedeutend. Sie sind es anscheinend nicht."

Weitere Artikel: In der NZZ hält Sarah Pines nichts davon, dass Blake Baileys "exzellente" Biografie über Philip Roth vom Verlag prompt vom Markt genommen wurde, nachdem der Autor mit Vergewaltigungsvorwürfen belastet worden war. Thomas David unterhält sich in der NZZ mit der schottischen Autorin Ali Smith über ihr "Seasonal Quartet", einen Romanzyklus, dessen Romane nach den Jahreszeiten benannt sind. Der Standard dokumentiert Esther Kinskys Dankesrede zum Erhalt des Erich-Fried-Preises. Irmtraud Gutschke wirft für die NZZ einen Blick darauf, wie die DDR mit russischer und sowjetischer Literatur umgegangen ist. Judith N. Klein schreibt im Freitag über Baudelaire. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Frank Trende daran, wie Theodor Mommsen mal seine Bibliothek in Flammen setzte.  Marlen Hobrack wirft für die Literarische Welt einen Blick in doppelsinnig diverse Kinderbücher. Andreas Merkel geht für die SZ mit der Schriftstellerin Ruth Herzberg spazieren. In der SZ treffen sich Schriftstellerin Daniel Kehlmann und die Zeichnerin Ambra Durante zum Gespräch. Helmuth Kiesel erinnert in der FAZ an Emil Strauß' Roman "Das Riesenspielzeug" aus dem Jahr 1934, dessen "poetische Qualität" ihn auch heute noch lesenswert mache, auch wenn er der Ideologie der Nazis nahe stehe.

Und nebenbei: Peter Handke lässt sich von der der Republika Srpska ehren, meldet unter anderem der Independent (aber laut google News kein deutsches Medium). Und er ist zur Einweihung des überlebensgroßen Denkmals eigens angereist!

Besprochen werden unter anderem Ahmad Danny Ramadans Debütroman "Die Wäscheleinen-Schaukel" (taz), Monika Marons "Was ist eigentlich los?" mit Essays aus 40 Jahren (Standard), Frank-M. Raddatz' "Das Drama des Anthropozäns" (Freitag), Julia Korbiks Biografie über Françoise Sagan (NZZ), Ulrich Peltzers "Das bist du" (NZZ), Laura Creedles "Liebesbriefe von Abelard und Lily" (Tagesspiegel), Joshua Groß' "Entkommen" (ZeitOnline), Robin Robertson "Wie man langsamer verliert" (Intellectures), Björn Stephans "Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau" (FR), Daniel Dubbes Biografie über Hans Erich Nossack (taz), Michael Hametners "Deutsche Wechseljahre" (online nachgereicht von der FAZ), Sebastian Brants vor 500 Jahren erschienene, jetzt in modernem Deutsch veröffentlichte Satire "Das Narrenschiff" (Literarische Welt) und Hengameh Yaghoobifarahs "Ministerium der Träume" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Mad Max meets Tarkovsky: Valentyn Vasyanovychs "Atlantis" (MubI)

Mit seinem jetzt auf Mubi gezeigten Science-Fiction-Arthausfilm "Atlantis" blickt Valentyn Vasyanovych aus dem Jahr 2025 und aus einer völlig demontierten Ukraine auf die Gegenwart zurück. Freunde hoher Ruinenkunst kommen auf ihre Kosten, schreibt Dominik Kamalzadeh im Standard: "Ohne futuristische Mittel verleiht Vasyanovych dem Geschehen eine postapokalyptische Anmutung, die man irgendwo zwischen Mad Max und Andrej Tarkowski verorten könnte. Von Letzterem scheint auch der Erzählduktus beeinflusst, der mehr auf konzentrierte Versenkung anstatt auf Dramatisierung zielt. In unbewegten Tableaus öffnet Atlantis seine Fenster auf eine surreale Trümmerwelt, in der auch die Protagonisten an seelischen Zerrüttungen laborieren." Das ist "kein leerer Manierismus, was im 'Slow Cinema'-Feld nicht immer gilt. Die zeitliche Dimension steigert die Intensität."

Anders als in Literatur und Musik will die Coronapandemie im Film nicht recht ankommen, schreibt Julia Hubernagel in der taz. Für klassische Pandemiereißer, wie sie das Kino prä-corona immer mal wieder hervorbrachte, eigne sich die Lage ohnehin nicht - mit Masken und Ellbogengrüßen sei im Kino auch in Zukunft nicht zu rechnen. Auch "verständlich: Was ereignet sich schon zwischen Home Office und Home Schooling? Wer will solche Geschichten überhaupt sehen?" Und auch die ständige Medientechnik im Alltag dürfte wohl eine Hürde darstellen: "Es ist kurios: Unsere Welt ist vernetzt wie nie, trotzdem spielt Alltagstechnologie in Filmen meist keine große Rolle. Spannungsmäßig hat das durchaus Sinn: Geschichten lassen sich schlecht erzählen, wenn dauernd ein Handy dazwischen funkt."

Weitere Artikel: In der Zeit erinnert Georg Seeßlen an Michael Verhoevens Skandalfilm "ok", der 1970 für Tumult auf der Berlinale sorgte und jetzt auf DVD vorliegt. Kathleen Hildebrand gratuliert in der SZ der Schauspielerin Mala Emde zur wohlüberlegten Rollenwahl - aktuell ist sie auf Netflix im (in der FAZ besprochenen) Antifa-Drama "Und morgen die ganze Welt" zu sehen. Besprochen werden neue Superheldenserien auf Netflix (ZeitOnline).
Archiv: Film

Bühne

In der FAZ zieht Paul Ingendaay den Hut vor Machern und Schauspielern von Madrids "Microteatro": Dabei werden an einem Abend mehrere Stücke von je höchstens fünfzehn Minuten auf wenigen Quadratmetern gespielt. Pro Stück zahlte man früher drei Euro (seit Corona fünf), ein Preis, der das Microteatro zum Treffpunkt für die Boheme machte. "Schnell, anzüglich und voller Slapstick sind die meisten Stücke dieses Abends, aber es gibt auch eine historische Phantasie über Calderón de la Barca, einen der Säulenheiligen des Goldenen Zeitalters, mit Epochenkostümen und allem Drum und Dran. Trotz Plexiglas zwischen uns und den Schauspielerinnen fährt den Besuchern die kaum noch gewohnte Intimität des gegenwärtigen Spiels in die Seele: Hier wird agiert, umarmt, gerungen und geweint, alles zum Greifen nah, und die Leidenschaft des Theaterspiels fegt die Ödnis des Distanzhaltens in der sogenannten wirklichen Welt für ein paar Minuten hinweg. Es sind solche Minuten, die Bühnenkunst über Film und Fernsehen hinausheben."

Weitere Artikel: Im Standard freut sich Ronald Pohl schon auf die "hochsommerliche Einheit aus Theater, politischem Wohlwollen und guter Verdauung" des österreichischen Sommertheaters auf dem Land. Die nachtkritik streamt noch heute und morgen ab 18 Uhr "Bubbletown", eine Produktion des Jugendclub des Berliner Theaters Strahl. In der SZ stellt Kathleen Hildebrand die Schauspielerin Mala Emde als neuen Star des deutschen Films vor, die kürzlich auch Britta Bürger im dlf kultur unterhalten hat.
Archiv: Bühne

Kunst

In der FR denkt Arno Widmann über die Bedeutung von Joseph Beuys nach, der am 12. Mai hundertsten Geburtstag hat. Ragt da noch was rüber zu uns? "Wer 1970 zwanzig war, der hatte nicht nur die Wahl zwischen Beatles und Rolling Stones, zwischen Bhagwan und Betriebsgruppe, zwischen Linksradikalismus und Love & Peace, sondern auch zwischen Joseph Beuys und Jürgen Habermas. Letzterer gehörte zur Flakhelfergeneration. Beuys dagegen war Flieger gewesen und abgeschossen worden über der Krim. Nach dem Krieg begab Beuys sich nicht auf den langen Weg nach Westen. Er bewirtschaftete seine Geschichte, die auch die des nationalsozialistischen Deutschlands war. Dazu kam Rudolf Steiner, dessen Schriften ihn tief beeindruckten. Das führte zu sehr irritierenden Auslassungen. Seine Kapitalismuskritik zum Beispiel, so erwünscht sie den 68ern kam, rührte doch aus sehr trüben Quellen. Habermas' ganze Anstrengung dagegen war, sich frei zu kämpfen von den Strömungen irrationalistischer deutscher Tradition, mit denen der Schelling-Exeget doch bestens vertraut war. Beuys oder Habermas." Die jungen Leute "lernten so, dass sie offenbar darauf angewiesen waren, beiden - Vernunft und Unvernunft - ein Aufenthaltsrecht im eigenen Kopf einzuräumen. In der Hoffnung, dass die einander korrigieren mögen. Diese Auseinandersetzung ist bis heute nicht beendet."

Deborah Remington, links "Big Red" (1962), rechts "March" (1964). Beide Fotos courtesy The Deborah Remington Trust and Bortolami Gallery, New York

John Yau beschreibt voller Erstaunen, welche Wendungen und Veränderungen die jetzt erst langsam gewürdigte Künstlerin Deborah Remington (1939-2010) in ihrer Kunst nahm. Zwei Ausstellung in New York (in der Bortolami Galerie und in der Galerie Craig F. Starr) dokumentieren das jetzt über ihre gesamte Karriere: "'Big Red' (1962), das sie nach ihrem Studium der Kalligrafie und Sumi-e-Malerei in Japan (1956-58) anfertigte, ist ein turbulentes Durcheinander von dicken schwarzen Strichen mit gelben, orangen und blauen Durchblicken vor einem glühend roten Grund. Zu diesem Zeitpunkt mag es so aussehen, als ob Remington sich immer noch an den Gesten des Abstrakten Expressionismus und ihren Lektionen bei Clyfford Still abarbeitet ... 'March' (1964), in der Bortolami-Ausstellung, markiert Remingtons Verwandlung in eine ganz andere und einzigartige abstrakte Malerin. Sie ist von dicker Farbe zu dünnen Schichten und einer streng kontrollierten Abstufung von Weiß zu Dunkelgrau übergegangen. Eine sich leicht verkleinernde flächige Form, die in kaltem Weiß gemalt ist, lehnt sich im Raum zurück, auf einer Diagonale von rechts nach links. An ihren Rändern stoßen breite, verlaufende, anthrazitfarbene Flächen an, deren kleinere Flächen von präzisen, flachen roten Linien umrandet sind. Das Bild spielt stark auf einen Kimono an, vor allem weil ein schwarzes, abgeschwächtes, rot umrandetes Dreieck auf eine Schärpe zu verweisen scheint."

Weitere Artikel: Auf der Shortlist des britischen Turner-Preises stehen ausschließlich aktivistische Kunstkollektive, meldet Dlf Kultur. Arno Widmann betrachtet für die FR James McNeill Whistlers "Arrangement in Grey and Black No.1", das "berühmteste nicht-religiöse Mutter-Porträt der westlichen Malerei".

Besprochen werden eine Ausstellung von Christian Boltanski in der Galerie Kewenig in Berlin (FR), die Ausstellung "The Body Electric" mit Werken von Egon Schiele und Erwin Osen im Leopold-Museum (Standard) und eine Ausstellung der Quilts von Bisa Butler im Art Institute of Chicago (Hyperallergic).
Archiv: Kunst