Efeu - Die Kulturrundschau

Eine analoge Wärme

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12.05.2021. Zu Joseph Beuys' hundertstem Geburtstag fragt sein Biograf Hans Peter Riegel in der Welt, ob der große Kunst-Schamane heute bei den Querdenkern mitmarschierte. In der SZ huldigt ihm unter anderem Katharina Sieverding als ihrem wichtigsten Lehrer, gleich nach Gustav Gründgens. In der Nachtkritik wünscht sich Berlins Kultursenator Klaus Lederer mehr Sensibilität am Theater und weniger anonyme Anwürfe. Die FAZ geht bei den Kurzfilmtagen Oberhausen auf Entdeckungstour. Und in der Zeit beschwört St. Vincent den Geist der Siebziger: "Das Leben war schlecht, aber die Musik war richtig gut."
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.05.2021 finden Sie hier

Kunst

"Energy Plan for the Western Man": Poster für Beuys-Vortragstournee. Bild: Galerie Ronald Feldman
Die SZ versammelt eine Schar von Stimmen, die Jospeh Beuys zu seinem heutigen hundersten Geburtstag huldigen, von Alicja Kwade über Ruangrupa bis Heiner Bastian. Und Katharina Sieverding bekennt unbekümmert: "Hundert Jahre Joseph Beuys, was für ein Momentum! Für meine Entwicklung zur 'Künstlerin' waren folgende Künstler für mich die bedeutendsten Lehrer: Gustaf Gründgens, Teo Otto, Fritz Kortner und Joseph Beuys." In der taz möchte Brigitte Werneburg nicht noch einmal über Beuys den Ex-Nazi, Weltkriegspiloten, Anthroposophen, Friedensaktivisten und Grünenpolitiker diskutieren, sie rät, einfach ins Museum zu gehen und selbst zu überprüfen, ob Beuys Kunst auch ohne den Schamanen funktioneirt.

In der Welt bleibt Beuys-Biograf Hans Peter Riegel bei seinem Abscheu gegenüber dem esoterischen Mumpitz, den er bei Beuys ausmacht: "Unter den Beuys-Anhängern finden sich viele, die man eher dem linken Spektrum zurechnen würde, weil sie nicht wissen oder wahrhaben wollen, was er wirklich vertrat. Aber Beuys hat dezidiert Thesen verkündet, die sich heute bei den Querdenkern wiederfinden. Beuys war gegen den Parlamentarismus, er machte Parteien und Politiker lächerlich. Sein Ziel war eine andere Gesellschaft, die nach anthroposophischem Schnittmuster funktionieren sollte. Eine seiner zentralen Aussagen war immer, dass die Menschen spirituell und geistig unterdrückt würden von höheren, unbestimmten Kräften. Das ist auch eine Kernthese der Querdenker und Verschwörungstheoretiker."
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Bühne

Im Interview mit Nachkritikerin Sophie Diesselhorst sucht Kultursenator Klaus Lederer angesichts der jüngsten Konflikte an den Berliner Bühnen eine halbwegs sichere Position zwischen den Fronten: "In Folge von #MeToo, #BlackLivesMatter und #ActOut besteht ja heute eine ganz andere Sensibilität. Und das ist ja erstmal etwas Positives, dass Menschen so etwas zunehmend weniger hinnehmen, dass sie es thematisieren und versuchen, es zum Gegenstand der Auseinandersetzung zu machen. Wir müssen nur auch darauf achten, nicht in eine Lage zu kommen, in der wir permanent mit anonymen Anwürfen konfrontiert sind und Forderungen, dass Köpfe rollen. Es muss in jedem Fall untersucht werden, wo strukturelle Probleme liegen, worin das individuelle Fehlverhalten besteht und ob es zu personellen Veränderungen an der Spitze führen muss oder zu strukturellen und Arbeitsprozessänderungen im Haus selbst. Es gibt keine One Size Fits All-Lösung für alle Häuser. Das müssen wir uns sehr genau angucken. Da hilft auch eine etwas differenziertere Debatte."

Morgen beginnt das Berliner Theatertreffen, natürlich als reine Streaming-Veranstaltung. Im Tagesspiegel gibt Patrick Wildermann einen Überblick über die zehn ausgewählten Inszenierungen. In der FAZ blickt Simon Strauss auf die Lage der Theater am Ende der zweiten Corona-Saison. Überall werden Freilichtbühnen aufgebaut, die Menschen drängen ins Offene, stellt er fest und versteht gar nicht, warum sich der Betrieb nicht auch mal ein bisschen frei macht, anstatt nach Frauenquote und Klimawandel jetzt auch noch über Machtstrukturen und Diskriminierung zu diskutieren: "Der Verdacht liegt nahe, dass die Glaubwürdigkeit des Theaters als Reflexionsort gerade auch durch so ein kostenloses Moralhopping Schaden nimmt. Für eine Diskussion darüber, wo und vor wem in Zukunft gespielt werden soll, ob nicht neben der überkommenen Machtstruktur etwa auch die veraltete Tradition der Sommerpause überdacht werden könnte und teure Theaterumbauten im Moment eh das falsche Zeichen sind, muss man sich jedenfalls etwas mehr Zeit nehmen."

Besprochen werden zwei Inszenierungen von Anton Tschechows "Onkel Wanja" in Bern und Basel (NZZ).
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Film

Yuri Muraoka: Transparent, I am

In der FAZ resümiert Bert Rebhandl die Kurzfilmtage Oberhausen, die zum zweiten Mal in Folge als Onlinefestival stattfinden mussten. Die Preisträger - Yuri Muraoka für "Transparent, I Am" und Adrian Figueroa für "Proll!" (hier ein Gespräch mit dem Filmemacher) - waren sehr verdiente, erfahren wir. Aber auch abseits davon gab es Spannendes zu entdecken: Matthias Müller und Christoph Girardet etwa haben für ihre Montage "Misty Picture" Filme zusammengetragen, in denen die Twin Towers des World Trade Centers zu sehen sind und daraus "eine grandiose Erzählung gestaltet über ein Ereignis, das längst Geschichte ist, und das sie in ein eigentümliches Wechselverhältnis von rückprojizierter Vorahnung und vorweggenommener Trauerarbeit setzen". Herausragend aber auch Su Zhongs "8'28", bestehend aus einer langen "Point-of-View-Kamerafahrt, die in einer Rückwärtsbewegung ein gigantisches Gemetzel in einem phantastischen Globalistan andeutet. Su Zhong spielt mit Bildwelten von Terrakotta-Kriegern bis zu Straßenüberwachung, evoziert James Camerons Urzeit-Avatare und chinesische Robot-Tänzer und macht aus seiner exzessiven Fantasie große, surreale Animationskunst."

Außerdem: Der Aufwand für die Berlinale, die im Juni nun zwar nicht als Innenveranstaltung, aber immerhin als Open Air mit ein paar wenigen Vorführungen und vor überschaubarem Publikum stattfinden kann, lohne "unbedingt", kommentiert Anke Sterneborg im RBB24: Dieses Open-Air-Festival "ist ein Signal der Hoffnung, ein Kickstart fürs Kino". In der Zeit sprechen Wim Wenders und Luca Lucchesi über ihren gemeinsamen Dokumentarfilm "Black Jesus": Es geht um eine italienische Gemeinde, deren Jesus am Kirchenkreuz zwar schwarz ist, die mit den ankommenden Flüchtlingen aber dennoch fremdelt. Tim Caspar Boehme stellt in der taz die besten DVDs des Frühjahrs vor, darunter "Utopia" von Sohrab Shahid Saless. Arno Widmann (FR), Andreas Kilb (FAZ) und Christine Dössel (SZ) gratulieren Senta Berger zum 80. Geburtstag, den die Schauspielerin morgen feiert. Der Filmdienst hat mit ihr ein Geburtstagsgespräch geführt.

Besprochen werden Katrin Schlössers Essayfilm "Szenen meiner Ehe" (Tagesspiegel), die Sky-Serie "Code 404" (FAZ) und die auf TNT-Comedy gezeigte Serie "The Mopes" (FAZ).
Archiv: Film

Literatur

Thomas Steinfeld wirft für die SZ einen Blick in die nun freigegebenen Akten, wie die Entscheidung für den Nobelpreis für Alexander Solschenizyn zustande gekommen ist. Die Schwedische Akademie war sich damals weitgehend einig und sich dessen voll bewusst, dass diese Auszeichnung auch politisch zu Komplikationen führen könnte: "Bereits im Vorfeld der Entscheidung hatte die Akademie Kundschafter nach Moskau entsandt, die mit der Nachricht zurückkehrten, Solschenizyn hoffe, ein Nobelpreis könne ihn davor bewahren, vom KGB ermordet zu werden (es kam dann trotzdem zu einem Anschlag, den der Schriftsteller überlebte). Schwieriger noch wurden die Verhältnisse, nachdem die Entscheidung bekannt gegeben worden war: Über Tage hinweg konnte der Preisträger nicht erreicht werden, da er sich in der Datscha eines Freundes, des Cellisten Mstislaw Rostropowitsch, verborgen hatte. Als Solschenizyn die Nachricht dann empfing, soll er ausgesprochen missgelaunt gewesen sein."

Weiteres: Rainer Moritz blättert für die NZZ in Heinrich Manns "Der Untertan" nach, ob sich darin Denkanstöße für die Pandemiegesellschaft finden. Adam Soboczynski besucht für die Zeit den Verleger Gerhard Steidl.

Besprochen werden unter anderem Vitomil Zupans "Menuett für Gitarre (zu 25 Schuss)" (NZZ), Johannes Anyurus "Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken" (SZ) und Anna Nerkagis "Weiße Rentierflechte" (FAZ).
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Musik

Auf ihrem neuen Album "Daddy's Home" erfindet sich St. Vincent - zuletzt als hyper-unterkühle Gitarren-Domina aufgetreten - als Seventies-Perückenlady neu, erklärt uns Jörg Wunder im Tagesspiegel. Auf dem Album, in dem sie das Verhältnis zu ihrem Vater aufarbeitet, klingt sie "so gelöst wie nie zuvor. Statt frostigem Reißbrett-Pop dominieren entspannte Atmosphäre und eine analoge Wärme, die an große Platten der Siebziger denken lässt. Der Auftakt 'Pay Your Way in Pain' ist, neben der funkigen Frau-schlägt-zurück-Rachefantasie 'Down', einer der wenigen Songs, die auf die Tanzfläche zielen. Die diamantharten Synth-Beats, gleißende Gitarrenriffs und eine Melodie, die David Bowies 'Fame' channelt, hätte auch Prince in seiner psychedelischen Phase ersinnen können."

Ihre Entscheidung für die ästhetische Anmutung der Zwischenphase der frühen Siebziger war sehr bewusst, erklärt St. Vincent im Zeit-Interview: Die damaligen und die heutigen "waren beziehungsweise sind turbulente Zeiten. 'Daddy's Home' atmet den Geist der frühen Siebziger, als der utopische Traum der Blumenkinder bereits gestorben war, aber die eskapistische Discomusik und der nihilistische Punk noch nicht da waren. Das Leben war schlecht, aber die Musik war richtig gut. Fühlt sich heute ähnlich an."



Auch die Klassische Musik könnte einige Diskussionen über Repräsentation gebrauchen, findet Hannah Schmidt in der Zeit: "Neben Bach, Beethoven und Co. schaffte nämlich keine einzige Komponistin den Weg in den engeren Kanon - und kein einziger schwarzer Komponist oder Composer of Color. All dies fußt auf dem alten Glauben, dass Frauen intellektuell weniger fähig seien als Männer und weiße Menschen nichtweißen Menschen geistig überlegen."

Außerdem: Michael Stallknecht weist in der NZZ auf Raritäten hin, die beim Bachfest Schaffhausen aufgeführt werden. Andrian Kreye schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Jazzposaunisten Curtis Fuller, den "ewigen Begleiter", der mit so ziemlich allem, was im Jazz Rang und Namen hat, gespielt hat. Unter eigenem Namen hat er allerdings auch Material veröffentlicht:



Besprochen werde neue Popveröffentlichungen, darunter Maurice Summens Album "Paypalpop", dessen "kulturwissenschaftlich ambitionierter Promotext jedoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass Summens Quatschgenie manchmal mehr Quatsch als Genie produziert", wie SZ-Popkolumnistin Juliane Liebert meint.
Archiv: Musik