Efeu - Die Kulturrundschau

Ganz Esprit, ganz Herz

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19.05.2021. In der SZ feiert Michael Maar Rahel Varnhagen als Genie der Feder, des Zuhörens und der Freundschaft. Im Tagesspiegel verteidigt Kerstin Decker das Prinzip der kulturellen Aneignung: Was heute Wokeness heißt, hieß gestern revolutionäre Wachsamkeit. Der Guardian lässt Yayoi Kusamas Lichtgewitter unberührt an sich abprallen. Die taz trauert mit Gob Squad um Zukunftsvisionen in Berlin. Und ZeitOnline möchte sich gern vom männlichen Filmgeschmack emanzipieren. NZZ und SZ trauern zudem um den Cantautore Franco Battiato.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.05.2021 finden Sie hier

Literatur

Der Germanist Michael Maar erinnert in der SZ an die vor 250 Jahren geborene Rahel Varnhagen - eine Netzwerkerin, Briefeschreiberin und Autorin, die "heute immer noch viel zu wenig bekannt ist, obwohl nach ihr und ihrem Ehemann immerhin ein Asteroid benannt wurde. ... Bekannt geworden war Rahel ab 1800 durch ihren Salon in der Jägerstraße, in dem sich tout Berlin tummelte. ... Später, als der Salon nach Napoleons Berlin-Besetzung im Jahr 1806 zerfallen war, hatte sie engen Kontakt mit Heinrich Heine. 'Und sie kam, sprach und siegte', wie es von ihr hieß - Rahel war offenbar eine superbe Gesprächspartnerin. Sie war ein Genie des Zuhörens, ein Genie der Freundschaft und ein Genie der Feder. ... Ganz Esprit, ganz Herz, Feministin avant la lettre, für die Judenemanzipation kämpfend, Freidenkerin - alles wahr, aber das Entscheidende ist etwas anderes. Es ist ihre Sprache, ihr Stil, in dem sich ihr freies Denken niederschlägt. Rahel Varnhagen hasste das Klischee." Hannah Arendts Varnhagen-Biografie ist übrigens gerade im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe erschienen.

Außerdem: Der Schriftsteller Hans Christoph Buch erzählt in der NZZ eine kurze Gesellschafts- und Literaturgeschichte der Verführung und sexueller Überwältigung Minderjähriger. Kathlen Hildebrand meldet in der SZ, dass mehr als 200 Kinderbuchautoren und -illustratoren gegen die Absage des Katholischen Jugendbuchpreises protestieren (unser Resümee). Angela Schader (NZZ) und Björn Hayer (ZeitOnline) schreiben Nachrufe auf den Lyriker SAID (weitere Nachrufe hier).

Besprochen werden unter anderem Mathieu Sapins Comic "Comédie Française" über Emanuel Macron (SZ) und Bücher über Inseln von Alastair Bonnett und Gavin Francis (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Mit Blick auf die Verwerfungen an deutschen Bühnen um Rassismus, Cancel Culture und kulturelle Aneignung fühlt sich Kerstin Decker im Tagesspiegel an Muster der DDR erinnert, denen zufolge die Arbeiterklasse die Mutter aller Opferrolle innehatte: "Was heute Wokeness heißt, hieß gestern revolutionäre Wachsamkeit. Du bist umgeben von einer Welt von Feinden. Erkenne sie! Menschen, die sich selbst absolut nicht für Rassisten halten, sollen trotzdem welche sein. In der DDR lautete die Unterscheidung subjektiver und objektiver Konterrevolutionär. Aneignen durfte man sich in der DDR im Grunde nur die eigene Kultur, also die der Ausgebeuteten und Unterdrückten. Der Rest fiel unter cancel culture. Vorwitzige kamen auf die Idee, Vorläuferstandpunkte der Arbeiterklasse auch in latent feindlichen, etwa bürgerlichen Strömungen zu erkennen. Auf diese Art wurde der kulturelle Kanon der DDR immer breiter. Ja, wir waren begierig nach kultureller Aneignung. Auf die Idee, dass man sie aus freien Stücken, ohne Zwang einmal zum Tabu erklären würde, wären wir nie gekommen."

Berit Stumpf in "Show Me a Good Time" von Gob Squad. Foto: Dorothea Tuch

Etwas anstrengend findet Katrin Bettina Müller in der taz das digitale Theatertreffen, aber große Momente beschert es ihr trotzdem. Zum Beispiel Max Frischs Stück "Graf Öderland", bei dem ein Staatsanwalt freidreht und bis zum Schluss niemand sagen kann, ob ihn Freiheitsdrang oder Blutrausch antreibt. Oder die zwölfstündige Produktion "Show me a good time" des Kollektivs Gob Squad, bei der ein einzelner Performer auf der Bühne Zoom-Videos von seinen Mitsreitern zugespielt bekommt: "Der Moment wird betont, die gemeinsame Gegenwart, 'this is live' ist die ständige Beschwörung. Teils schauen wir in die Wohnungen der Performerinnen, Sarah Thom stellt uns ihren Hund vor und die Asche ihrer verstorbenen Mutter, die sie in einer Urne stets dabei hat. Sharon Smith in Südengland steuert feministische Geschichte bei und kocht für ihr Kind. Sean Patten kreuzt mit dem Auto durch das verregnete Berlin, besucht Denkmäler trauernder Mütter. Simon Will treibt sich am Berliner Stadtschloss und am menschenleeren BER herum, bestaunt, wie Zukunftsvisionen in Berlin aussehen. Berit Stumpf läuft durch die Gegend um das Festspielhaus und sucht die, die jetzt eben nicht im Theater sein können, findet aber erst mal nur Gedenktafeln. Es geht sehr oft und mit viel Mitgefühl um die Toten."

Ganz schön verschlafen findet Margarete Affenzeller im Standard, dass das Wiener Burgtheater während der ganzen Pandemie seine Inszenierungen nicht wenigstens im Stream zeigte. Besprochen werden Robert Borgmanns "Hamlet"-Inszenierung und Anja Hillings Fassung von "Teile (hartes Brot)" nach Paul Claudel am Residenztheater (FAZ), die Ausstellung "Der absolute Tanz" im Georg-Kolbe-Museum in Berlin (Tsp.
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Kunst

Gerhard Richter: 28.2.2020, Bleistift und Ölkreide. Bild: Pinakothek Münschen

Staunend betrachtet SZ-Kritiker Gottfried Knapp die Zeichnungen in der Münchner Gerhard-Richter-Schau in der Pinakothek der Moderne, mit denen Richter seinem imposanten Oeuvre nun noch eine intime Note hinzufügt. Dass Richter auch im kleinen Format mit der Vielfalt der Gerätschaften hantiert, liegt für Knapp dagegen auf der Hand: "Mal wischt er mit bloßem Finger über die improvisierten Schichten, mal streicht er ein Lösungsmittel so über das Geschehen, dass Partien auf dem Blatt sanft verblassen. Er spült also auch mal Feuchtes in die flockig trockene Atmosphäre und lässt so zwei Elemente aufeinanderprallen, die sich in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken. Den prägnantesten Kontrapunkt im zeichnerischen Geschiebe bilden aber die ganz unterschiedlich markanten Linien und Striche. Einige von ihnen wurden mit spitzer Nadel aus dem Papier herausgeritzt; sie zucken wie Lichtblitze durch die Komposition. Andere ziehen mit ihren Knicken den Blick in die Tiefe der Komposition oder suggerieren mit perspektivischen Andeutungen Umrisse von Gebäuden oder Gegenständen. Die meisten aber delirieren frei durch die Farbnebel."

Yayoi Kusama: "Filled with the Brilliance of Life", 2011/2017. Foto: Tate Modern

Auch in der Tate Modern ist eine Schau der gerade sehr gefeierten japanischen Künstlerin Yayoi Kusama zu sehen. Doch im Guardian bekennt Adrian Searle, dass Kusamas Installationen und Spiegelkabinette bei ihm einfach nicht zünden. Sie sind ihm zu instagramable: "Die Inszenierung ihrer Lichter und Spiegel erinnert mich weniger an Sternenfelder oder flackernde Neuronen und feuernde Synapsen als vielmehr an Flughäfen oder Raffinerien bei Nacht, an Disco-Kugeln oder an ein Schlachtfeld aus Computerspiel-Leuchtspurfeuer und Sci-Fi-Kräften."

Besprochen werden die Tapisserien der israelischen Tänzerin Noa Eshkol in der Berliner Galerie Neugerriemschneider (an denen sich Ingeborg Ruthe in der BLZ gar nicht satt sehen kann) eine Ausstellung der Malerin Amelie von Wulffen in den Berliner Kunst-Werken (FAZ) und eine Schau mit Skulpturen von Erwin Wurm in der Wiener Mak-Expositur Geymüllerschlössel (Standard).
Archiv: Kunst

Film

Lauern da schon die Kapuzenskelette? Amy Adams in "The Woman in the Window"

Bei Joe Wrights Netflix-Thriller "The Woman in the Window" fragt sich ZeitOnline-Kritiker David Hugendick nach kurzer Zeit, was diese mit Amy Adams, Julianne Moore und Gary Oldman immerhin ziemlich prominent besetzte "Das Fenster zum Hof"-Variante noch retten könnte: "Vielleicht eine Invasion von Kapuzenskeletten auf Motorrädern, Waschbären, die sich mit Konfekt bewerfen und dabei Liza Minelli singen, oder die Handlung bräche am besten einfach komplett in der Mitte ab und ginge forthin als Gewinnspiel weiter, das allein der Frage folgt: Wie viele zitternde Gesichtsausdrücke hat Amy Adams, um zu beweisen, dass die Lage wirklich sehr dramatisch ist?" SZ-Kritiker David Steinitz kann uns immerhin den zugrunde liegenden Thriller von A.J. Finn sehr empfehlen, von dessen "unheimlicher Stille" im Film allerdings kaum mehr etwas zu spüren sei: "Das ist schade, denn Amy Adams legt als Anna einen richtigen Teufelsritt des Selbstzweifels hin."

Filmdiskurse und Qualitätsvorstellungen richten sich immer noch vorrangig nach einem männlichen Publikum, kritisiert Julia Pühringer auf ZeitOnline: Entsprechend vorsortiert sind die meisten Programme in Kino und Fernsehen. Einen Streamingalgorithmus dagegen kann man immerhin auf die eigenen Vorlieben so trainieren, dass das Unsichtbare etwas mehr in die buchstäbliche Sichtbarkeit tritt: "Es wird derzeit so gerne beklagt, was man nicht mehr sagen darf (gern in Mikros, vor Kameras), was man nicht mehr lesen darf (gern auch in Essay-Länge) oder gemutmaßt, welche Filme man sich denn - angeblich - nicht mehr anschauen darf. ... Die spannende Frage ist nicht: 'Darf man sich etwa Filme von Woody Allen nicht mehr anschauen?' Sondern: Warum haben wir uns auch noch den schlechtesten Film von Woody Allen zweimal angeschaut, einmal im Kino und einmal im Fernsehen oder auf DVD? Wo sind unsere Claire-Denis-DVD-Boxen, die Jane-Campion-Retros, die von Alice Guy-Blaché? Lois Weber? Luise Kolm-Fleck? Die von der Varda? Wann schauen wir ihn uns erwartungsvoll an, 'den Neuen von' der DuVernay, der Zhao, der Schrader, der Rohrwacher, der Bruni Tedeschi, von der Reichardt? Der Unger oder der Derflinger? Der Žbanić, der Krebitz oder von der Kusama?"

Außerdem: In der SZ befasst sich Joachim Käppner mit dem Profiler-Hype im Fernsehen. Besprochen werden Shirel Pelgs deutsch-israelische Komödie "Kiss Me Kosher" (Presse) und die Serie "Run the World" (FAZ).
Archiv: Film

Musik

Dass Christian Thielemanns Vertrag in Dresden nicht verlängert wird, nimmt die Klassikszene offenbar gleichmütig hin, lautet Reinhard J. Brembecks Befund: "Sollte das lieb gewonnene Klischee des 'Dirigenten als Genie' etwa ein Auslaufmodell sein", fragt er sich in der SZ mit Blick darauf, dass unter Dirigenten vermehrt nicht nur Künstler, sondern Netzwerker und Vermittler gesucht werden und sich der Betrieb zumindest allmählich den drängenden gesellschaftspolitischen Spannungslinien der Gegenwart öffnet: "Aussitzen wird nicht die Lösung sein, denn das sind keine Modephänomene. ... Das alles wird, wie alle sozialen Phänomene, Auswirkungen nicht nur auf die Strukturen, sondern auch auf die Ästhetik haben, auf die Konzepte, Bühnenbilder, Inszenierungen und sogar auf die Art, wie musiziert wird. Selbst die Klassik ist keine der Welt enthobene Kunst, sondern ihr Reflex."

Seine "leise, aber eindringliche Stimme wurde gehört", schreibt Ruedi Ankli in der NZZ zum Tod des Cantautore Franco Battiato. Thomas Steinfeld beschreibt in seinem SZ-Nachruf einen musikalischen Tausendsassa, der "seine weit gespannten literarischen, philosophischen und nicht zuletzt esoterischen Interessen in populäre Lieder verwandelte" und ursprünglich im Progrock beheimatet war. "Terry Riley war ihm nah, Tangerine Dream und Kraftwerk kannte er gut, die 'musique concrète' und auch Karlheinz Stockhausen. ... Als er dann in den frühen Achtzigern zum musikalischen Mainstream und zum ganz großen Erfolg fand, zu schwebenden Synthesizer-Klängen und stampfenden Bässen, nahm er den Eklektizismus mit und hielt die Grenzen offen, zum spätromantischen Orchesterlied und zur klassischen Avantgarde vor allem, gelegentlich auch zum Jazz. Zuletzt sollte dann beinahe alles möglich sein, mit manchmal gemischtem Echo, die symphonische Musik und die Oper, der Film und der Hardrock, die Malerei und die Regionalpolitik." Hier "L'Animale", ein hinreißendes Beispiel seiner Kunst:



Besprochen werden die Orgel-Ausstellung im Berliner Musikinstrumentenmuseum (FAZ), neue Alben von Marianne Faithfull (taz), Magic Island (Tagesspiegel), und The Tremolo Beer Gut (FR) sowie weitere neue Popveröffentlichungen, darunter das bei der Deutschen Grammophon erschienene Coveralbum "Reprise" von Moby, das den SZ-Popkolumnisten Max Fellmann zum Äußersten treibt: "Könnte villeicht irgendeine supranationale Institution, gern auch die UNO, dafür sorgen, dass David Bowies 'Heroes' nicht mehr kaputtgecovert wird?"
Archiv: Musik