Efeu - Die Kulturrundschau

Mehr Schädelspaltung denn Zeitvertreib

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21.05.2021. Der Guardian feiert den Fish'n'Chips-Surrealismus von Eileen Agar, der ganz ohne obskure Theorien französischer Denker auskommt. FAZ und SZ sausen mit futuristischen Tech-Hummeln über die Architektur-Biennale in Venedig und berauschen sich am Duft ausgerotteter Pflanzen. In der FAZ will Peter Handke von den vielen Auszeichnungen, die er auf seiner Serbien-Reise erhalten hat, im Vorfeld nichts gewusst haben. Die nachtkritik freut sich in Wien über die nackten Körper und Seelen in Majeta Kolezniks "Fräulein Julie", hätte aber auf Strindbergs abstruse Thesen über "degenerierte Mannweiber" gern verzichtet. Die SZ lässt sich von Till Lindemann in Russland mit Viren, Fischen und Torten bewerfen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.05.2021 finden Sie hier

Kunst

Eileen Agar, Erotic Landscape, 1942, collage on paper, 255 x 305 mm, private collection. © The Estate of Eileen Agar. Photograph courtesy Pallant House Gallery, Chichester © Doug Atfield

Dass der britische Surrealismus ein gänzlicher anderer war als der französische, lernt Guardian-Kritiker Jonathan Jones in der Londoner Whitechapel Gallery, die der britischen Künstlerin Eileen Agar eine Schau widmet: "Agars Fish'n'Chips-Surrealismus ist mehr Shakespeare als Breton und feiert die Veränderungen des Meeres, die reich und seltsam scheinen. Sie war offensichtlich nicht sehr auf die obskuren Theorien französischer Denker fixiert, die versuchten, Freud und Marx zu synthetisieren. Ihre gefundenen Bilder des Geheimnisses und der Verwandlung haben mehr mit Powell und Pressburger oder Jean Cocteau gemeinsam - eine Kunst der Träume ohne den Freudschen Ballast. Korallen und Muscheln sind in traumhaften Kästen arrangiert, und kleine Skulpturen aus Muscheln und Kieselsteinen lenken die Aufmerksamkeit auf die surrealen Formen, die die Natur selbst schafft. Ihr Auge für das Bizarre verschmilzt mit einem romantischen Gespür für die Wunder der Landschaft in Schwarz-Weiß-Fotografien von Muscheln, Felsen und Treibholz.(...) Ihre Meereskollektionen nehmen Damien Hirst vorweg."

Im SZ-Interview mit Andrian Kreye spricht Jeff Koons über sein aktuelles BMW-Projekt, digitale Kunst und seine Vorliebe für Stahl: "Ich habe Edelstahl immer gemocht, weil ich es zu einem sehr berauschenden Material machen konnte. Ich konnte es in eine reflektierende Oberfläche verwandeln. Diese Abstraktion, etwas zu betrachten, das reflektiert und glänzt, ist bis zu einem gewissen Grad die Kraft von Apollo, von Licht und der Erfahrung von Licht. Gleichzeitig der Rausch der Oberfläche und die Bejahung des Selbst. Dass es einen spiegelt, dass es einen wissen lässt, dass, wenn man sich bewegt, sich die Situation verändert hat."

Außerdem: In der NZZ erklärt Philipp Meier den Hype um Krypto-Kunst: "Ein Krypto-Kunstwerk ist ganz einfach eine Datei zum Beispiel einer künstlerischen Darstellung in digitaler Form. Diese potenziell beliebig reproduzierbare Datei wird durch die Technik der NFT-Zertifizierung in ein 'Original' verwandelt. Was die Kunstsammlerin von Krypto-Kunst oder eben auch NFT-Kunst für ihr Geld (in Gestalt von Kryptowährung) erhält, ist ein Non-Fungible Token (NFT). Oder zu Deutsch: eine nicht austauschbare Wertmarke, also ein Vermögenswert in digitaler Form, der in einer Blockchain, einer fälschungssicheren Liste von Datensätzen, gespeichert wird." In der FR gratuliert Christian Thomas Albrecht Dürer zum 550. Geburtstag.
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Architektur

Als eine der "besten und seltsamsten" Biennalen seit langem würdigt Niklas Maak in der FAZ die um ein Jahr verschobene, von Hashim Sarkis kuratierte Architekturbiennale in Venedig, bei der alle Zeichen auf Neustart stehen, etwa im deutschen Pavillon: "Eine Optimismusmaschine, aus der man sich per QR-Code in eine Zukunft beamt, in der alle Anstrengungen, den Planeten zu retten und weniger effizienzgetrieben zu leben und zu wirtschaften, bereits von Erfolg gekrönt wurden und in ein Zeitalter der 'neuen Gelassenheit' geführt haben. Statt schüchterner Einerseits-andererseits-Debatten werden aus der imaginären Zukunft eindeutige Antworten geliefert: Man sieht die Digitalministerin von Taiwan, Audrey Tang, umschwirrt von dezentralen Künstlichen Intelligenzen, die wie futuristische Tech-Hummeln durch die Gegend sausen. (…) Der Schriftsteller Leif Randt schrieb das Drehbuch zu einem zauberhaften Kurzfilm, in dem zwei um 2021 geborene Teenager des Jahres 2038 in das Jahr ihrer Geburt zurückreisen, durch Venedig wandern und sich wundern, dass früher einfach so mit dem Boden spekuliert werden durfte. Man sieht die Architekten Daniel Schönle und Ferdinand Ludwig, die sich wundern, dass man 2021 noch Häuser baute, die die Natur um jeden Preis draußen halten wollten."

Der Titel "How will we live together?" erscheint Laura Weissmüller in der SZ aktueller denn je: "Tatsächlich hat ja unsere international vernetzte, immer weiter in die letzten Naturreservate vordringende Lebensart zu der Pandemie geführt. Es ist eine Stärke der Biennale, dieses dichte Netz an Zusammenhängen mit Karten und Zeitachsen, mit Satellitenaufnahmen und Videoinstallationen offenzulegen." Aber es geht nicht nur um Zukunftsvisionen: "Etwas wieder zum Leben erwecken will (…) der begehbare Glaskasten, in dem drei wuchtige Erd- und Gesteinsbrocken liegen. Wer ihn betritt und etwas nachspürt, wird umfangen von einem lieblichen Duft. Was man da riecht, gibt es nicht mehr, es ist der Duft der Hibiscadelphus wilderianus, einer Pflanze aus Hawaii, die von den Kolonialherren ausgerottet wurde, weil sie Weiden für ihre Rinder brauchten. Der letzte Baum fiel 1912."

Außerdem: Ebenfalls in der FAZ besucht Georg Imdahl die von den Künstlern Julius von Bismarck und Marta Dyachenko errichtete Duisburger Miniaturstadt "Neustadt".
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Literatur

Peter Handke will, so schreibt er jedenfalls in einem Brief an die FAZ in Bezug auf deren Berichterstattung, im Vorfeld nichts gewusst haben von der Fülle an Auszeichnungen, mit denen er vor kurzem auf seiner Reise durch Serbien geradezu beworfen wurde. Auf Tour ging es demnach vor allem wegen "Višegrad, Ivo Andrićs Kindheits- und Jugendstadt in Ostbosnien, wo ich für meine Erzählung 'Das zweite Schwert' (Drugi mač) den nach dem exemplarischen jugoslawischen Schriftsteller benannten Preis entgegennehmen sollte. Banja Luka, die Kapitale der bosnischen Serben, war dafür unumgängliche Zwischenstation, wo man mich dann mit dem Orden, überreicht von der Präsidentin, Professorin für englische Literatur, überraschte, worauf, nach etwa einer Stunde, die Reise weiterging nach Višegrad: Preisverleihung und Symposion zu meinem Werk noch am selben, dem ersten Reisetag. Daß ich zuvor in Banja Luka von mir gegeben haben soll: 'Das ist ein großer Augenblick für mich', ist Unsinn."

Für die FAZ besucht Oliver Jungen die Kölner Poetdozentur der Schriftstellerin Iris Hanika. Es geht um Fragen, was sich literarisch noch überschreiten lasse. Klar ist dabei: "Ein Gespür für Rhythmus und Melodien ist für Hanika noch keine Überschreitung, sondern 'Grundvoraussetzung der Literatur', weil alle Kunst unablässig den Zustand der Musik anstrebe. ... Transgressiv wird es für sie bei der Verschaltung mit dem Leben. Das habe viel mit Faktentreue zu tun und reiche in die Wirkungsästhetik hinein. Mit Kafka und Büchner bekannte sich Hanika zur Überwältigungsforderung: Literatur solle mehr Schädelspaltung denn Zeitvertreib sein."

"Nicht ungefährlich" findet es Felix Lindner von 54books, wenn harmlose Spaßseiten wie "Writer's Doing Normal Shit" etwa Schriftsteller am Schreibtisch zeigen und dann ironisch "Homeoffice" drüber schreiben, und zwar "nicht nur, weil diese Bilder genauso erfolgreich den Mythos konstant produzierender Künstler*innen in die Gegenwart tragen - sondern auch, weil sie das Homeoffice ein weiteres Mal als individuelle Optimierungschance erzählen."

Außerdem: Die Schriftstellerin Olga Martynova beugt sich für die Dante-Reihe der FAZ über die Sprache im Paradies. Der Bachmannwettbewerb findet auch in diesem Jahr ohne Publikum und mit Lesungen aus dem Zuhause der Teilnehmer statt, meldet Gerrit Bartels im Tagesspiegel mit alles in allem etwas gedämüfter Begeisterung: "Die 14 Teilnehmer:innen sind größtenteils unbekannt". Tazler Jens Uthoff hat an der Shortlist des Internationalen Literaturpreises Berlin viel Freude:"eine starke Vorauswahl", die "gut als Leseliste" taugt.

Besprochen werden unter anderem Mathieu Sapins Comic "Comédie Francaise" über Emanuel Macron (Standard), Kim Ryeo-Ryeongs "Eins - zwei. Eins - zwei - drei" (Tagesspiegel), Michal Hvoreckýs "Tahiti Utopia" (Standard) und Blake Baileys nach Missbrauchsvorwürfen gegen ihn nun bei einem anderen US-Verlag erschienene Philip-Roth-Biografie (SZ).
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Film

Daniel Sponsel, Leiter des Münchner Dok.Festes, das mittlerweile zum zweiten Mal erfolgreich online stattfand, fordert ein Filmförder-Umdenken für die Zeit nach der Pandemie und den Ausbau "digitaler Leinwände" zugunsten der Kinos, um dem Streamern im Kampf um die Augäpfel wenigstens ein bisschen was entgegen zu setzen. Für den Filmdienst hat Rüdiger Suchsland mit ihm gesprochen. Zentrale Frage: Will Sponsel das Kino retten, indem er es abschafft? "Wer nicht ins Kino gehen will, den kriege ich auch mit zehn Pferden dort nicht hin. Wer nicht will oder nicht kann, der kann den Film aber wenigstens online sehen." So konnte sein Filmfestival neue Reichweiten bei Leuten erzielen, die es schlecht ins Kino schaffen. "Ein privates Beispiel: Freunde mit drei Kindern unter 15 Jahren waren noch nie auf dem DOK.fest München. Sie haben im vorigen Jahr aber 12 Filme angesehen - schlicht deshalb, weil sie durch den Online-Zugang konnten. Wenn man will, ist das eine ganz eigene Art der Barrierefreiheit. Warum sollte man solchen Leuten das Filmesehen verwehren? Und den Filmen die Erlöse?"

Besprochen werden Zack Snyders auf Netflix gezeigte Zombierevue "Army of the Dead" ("der Zombie-Tiger, der ist wirklich toll", gluckst Jens Balzer auf ZeitOnline), die Krimiserie "Mare of Easttown" mit Kate Winslet als Ermittlerin (taz, Presse), Benji und Jono Bergmanns auf Sky gezeigter "Wirecard - Die Milliarden-Lüge" (FAZ), Thomas Marschalls österreichisches Roadmovie "Ordinary Creatures" (Standard) sowie Johanna Liethas und Iliana Estañols Teenager- und Sex-Drama "Lovecut" (Presse).
Archiv: Film

Bühne

Bild: Susanne Hassler Smith

Nachtkritikerin
Gabi Hilft kann die nackten Körper und Seelen kaum fassen, die ihr nach so langer Zeit am Wiener Akademietheater in Mateja Kolezniks Inszenierung von August Strindbergs "Fräulein Julie" geboten werden. Zunächst wird sie noch von Kolezniks "innigem psychologischen Naturalismus" in den Bann gezogen. "Aber dann läuft das Stück aus dem Ruder und die Aufführung, die Strindberg bis dahin bedingungslos gefolgt ist, ist mitgefangen/mitgehangen. Denn Strindberg wird nach den fulminanten Dialogen des Anfangs genau wie seine Julie 'völlig verrückt'. Er schreibt ihr einen gigantischen hysterischen Zusammenbruch auf den Leib, der nichts mehr für die Figur oder die Geschichte bedeutet, sondern seine, Strindbergs, abstrusen Thesen über degenerierte Mannweiber beweisen soll. Nackt und völlig hysterisch, beim Abwaschen von Sperma und Blut, vom halbherzigen Pulsadern-Aufschlitzen, muss die bedauernswerte Darstellerin ihre gesamte Lebensgeschichte ausbreiten." Im Standard hat Margarete Affenzeller an der "spannenden, groß gezoomten Machtstudie" indes nichts auszusetzen.

Gemeinsam mit der Heinrich Böll Stiftung hat die nachtkritik den Band "Theater und Macht" herausgegeben. Für den Sammelband wurden unter anderem Fragebögen an zehn Intendant*innen an deutschsprachigen Bühnen geschickt, gestellt wurden Fragen zur Führung, zu Machtmissbrauch und Kodizes der jeweiligen Häuser. Nicht alle Häuser sprechen sich für einen Kodex aus, Iris Laufenberg vom Schauspielhaus Graz hingegen schon: "Die #MeToo-Bewegung hat uns veranlasst, sichtbar mit diesem Thema umzugehen und wir haben, damit verbunden, auch eine Vertrauensstelle mit zwei Personen installiert. Das Statement 'NEIN zu Diskriminierungen, Belästigungen sowie sexuellen Belästigungen und Mobbing und JA zu einem wertschätzenden Umgang im Schauspielhaus Graz', wird allen neuen Verträgen beigelegt."

Außerdem: "Wer nicht fließend Englisch spricht, der kann sich den diesjährigen Stückemarkt (…) sparen", schreibt Barbara Behrendt, die sich für die taz beim Stückemarkt-Wettbewerb des Theatertreffens umgesehen hat und kaum ein deutschsprachiges Stück entdeckt hat. Für ZeitOnline trifft sich Tobi Müller am Rande des Theatertreffens mit der Schauspielerin Maja Beckmann, die mit einer Nebenrolle in "Einfach das Ende der Welt," einem Stück nach dem französischen Dramatiker Jean-Luc Lagarce, und mit der Hauptrolle in "Medea*" gleich zweimal spielen darf.

Besprochen wird Gisèle Viennes Inszenierung "Der Teich / L'Étang" nach Robert Walser an der Kaserne Basel (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

Ziemlich säuisch muss es auf Till Lindemanns Konzert in Russland zugegangen sein, aus dem nun ein Konzertfilm montiert wurde. SZ-Kritiker David Steinitz bezeugt zwischen Entgeisterung, Faszination und Ekel eine Szenerie, in der wohl auch Coronaviren sehr nach Partylaune zumute gewesen sein dürfte. Zudem "werden Torten geworfen und allerlei glitschige Kunststücke mit (Körper-)Flüssigkeiten aufgeführt. ... Da man solchem Wahnsinn nur mit noch mehr Wahnsinn begegnen kann, ist es denn auch konsequent, dass Richtung Finale Fische ins Publikum geschleudert werden. Manchem Russen scheint das sogar noch besser zu gefallen als die Torten."

Außerdem: Jens Uthoff und Julian Weber verneigen sich in der taz tief vor Bob Dylan, der am kommenden Montag 80 Jahre alt wird. Giuseppe Pitronaci schreibt in der taz zum Tod des italienischen Sängers Franco Battiato (weitere Nachrufe bereits hier).

Besprochen werden der düster-sakrale, im Lockdown-Berlin gedrehter Ritualperformance-Kurzfilm "Ara" des Mayhem-Krächzers und -Gurglers Attila Cishar, der heute hier zu sehen ist (taz), St. Vincents neues Album "Daddy's Home" (taz), Gruff Rhys' "Seeking New Gods" (taz), der Band "Forever Young" mit Stefan Austs und Martin Scholz' Erinnerungen an Bob Dylan (FAZ) und Mdou Moctars "Afrique Victime" (Pitchfork). Wir hören rein:

Archiv: Musik

Design

Vor fünfzig Jahren eroberten die Hotpants, einst als "leicht verrucht und ordinär" geltend - und sowohl für Frauen als auch für Männer gedacht, die Modewelt und die Straßen, freut sich Michael Ossenkamp in der Berliner Zeitung: "Bereits in den 1950er-Jahren hatten sich mutige Ladys nach dem Vorbild von Hollywood-Diven wie Marilyn Monroe mit den als 'Short Shorts' bezeichneten Höschen auf die Straßen gewagt und in einigen Städten der USA für helle Aufregung gesorgt. 1958 konnte die Band The Royal Teens noch mit dem Song 'Short Shorts' einen Hit feiern, danach gelang es Sittenwächtern aber, die im High-Waist-Style geschnittenen Teile zu verbannen. Wer im Alltag Hotpants trug, musste wegen Missachtung des vorherrschenden Dresscodes mit heftiger Kritik rechnen."
Archiv: Design
Stichwörter: Hot Pants, Monroe, Marilyn