Efeu - Die Kulturrundschau

Old Europe, dieser Sumpf der Laxheit

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26.05.2021. Die SZ feiert eine Abschiedsparty fürs digitale Theater. Die NZZ erlebt in Aribert Reimanns "Lear"-Oper, wie der Machtmissbrauch die Zivilisation in den Abgrund reißt. Die Welt freut sich, dass Kevin Spacey in Italien ent-cancelt wird. Der Freitag wünscht sich dies auch für den DDR-Staatsautor Hermann Kant. Und die FAZ lauscht den Morsezeichen, die Klangkünstler Julien Desprez von einem anderen Planeten nach Moers sandte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.05.2021 finden Sie hier

Bühne

Christian Gerhaher als "Lear". Foto: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Herausragend findet Marco Frei in der NZZ Christoph Marthalers Inszenierung von Aribert Reimanns "Lear" an der Bayerischen Staatsoper, auch wenn ihm musikalisch etwas viel Bombast entgegenschlug. Aber ein fantastischer Christian Gerhaher in der Titelrolle und Marthalers Regie machen das locker wett, befindet Frei: "Diese (pseudo-)epische Distanz mag als Stilmittel Marthalers allmählich redundant erscheinen, hier jedoch passt sie vortrefflich. Reimanns Musik ist nämlich konkret und emotionsgeladen genug - ganz so wie die Vorlage Shakespeares. Schon dessen 'King Lear' von 1604/05 will ja kein psychoanalytisches Schuld-und-Sühne-Drama sein, wie man vor allem in der deutschsprachigen Rezeption lange geglaubt hat; eher ist es ein expressionistischer Ausbruch avant la lettre. Alles in dieser Tragödie tendiert zum Übermaß, die rohe Gewalt auf offener Szene genauso wie die abrupten Gefühlsausbrüche. In der Apokalypse, die Shakespeare hier ausstellt, werden lange vor unserer heutigen Diskussion alle Spielarten von Machtmissbrauch greifbar, der die Zivilisation in den Abgrund reißt." Weniger begeistert zeigt sich Stephan Mösch in der FAZ von Marthalers Regie: "Der subversiv gemeinten Überwirklichkeit mangelt es an Präzision. Mit selbstreferentiellen Endlosschleifen und liebevoll aufgezeigter Brüchigkeit haben Marthaler und sein Team fast drei Jahrzehnte auch in der Oper viele Stücke neu entdeckt."

In der SZ resümieren Christine Dössel und Till Briegleb das Berliner Theatertreffen, das sich zwar tapfer der Pandemie entgegenstemmte, aber dennoch eher als Abschiedsparty für das digitale Theater in Erinnerung bleiben wird: "Von den zehn Inszenierungen kamen die meisten konsumierbar durch das Internet, wenn auch selten mit deutlich mehr als 500 Zuschauern. Aber auch nach vielen Monaten des Ausprobierens, wie aus Bühnenregisseuren Internetakteure werden, hat sich der Eindruck eher verstärkt, dass dieser Spielort weder Borke noch Baum ist."

Besprochen werden PeterLichts "Tartuffe oder Das Schwein der Weisen" vor dem Deutschen Theater in Berlin (SZ), eine konzertante "Tosca" mit Anna Netrebko und Jonas Kaufmann zum Abschluss der Salzburger Pfingstfestspiele (FR), weitere Aufführungen der Salzburger Pfingstfestspiele mit Cecilia Bartoli (SZ, Welt) und die ersten Premieren des Wiener Burgtheaters, darunter Mateja Kolezniks Inszenierung von Strindsbergs "Fräulein Julie" und Felicia Zellers "Der Fiskus" (FAZ).
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Film

Kevin Spacey, seit Vorwürfen sexueller Übergriffe arbeitslos, dreht wieder einen Film. In Italien, unter der Regie von Franco Nero, spielt er einen Ermittler, der einen Pädophilen überführen soll - ein Anlass für Hanns-Georg Rodek in der Welt, über das "Ent-Canceln" nachzudenken. Ihn erinnert die Nachricht an die McCarthy-Zeit, als in Hollywood unerwünschte Leute sich ein neues Standbein in Europa aufbauten. "Darin drückte sich der Hochmut der Filmfabrik gegenüber anderen Kinomatografien aus, und nun scheint sich das beim Canceln zu wiederholen: auf der einen Seite das moralisch erleuchtete, sich radikal säubernde Amerika, auf der anderen Old Europe, dieser Sumpf der Laxheit und Freizügigkeit. Lasst sie doch nach Europa ziehen! Roman Polanski, der Vergewaltiger, ist schon lange da und dreht Film auf Film. Woody Allen hat dort Zuflucht gefunden." Auch Peter Bradshaw vom Guardian sieht die "Uncancel Culture" auf dem Vormarsch.

Weitere Artikel: Tigran Petrosyan spricht in der taz mit Nabila Bushra und Farah Bouamar, die als Filmkollektiv Lost Horrorkurzfilme drehen. Esther Buss befasst sich im Filmdienst mit den experimentellen Arbeiten der US-Filmemacherin Rea Tajiri. Scott Tobias blickt im Guardian auf "Pearl Harbor", Michael Bays vor 20 Jahren veröffentlichtes "dummes Kriegsepos" zurück.

Besprochen werden die Netflix-Doku "High on the Hog" über afroamerikanische Esskultur (Guardian), Barry Jenkins' gleichnamige Serienadaption von Colson Whiteheads "Underground Railroad" (Artechock), Luca Lucchesis Dokumentarfilm "Black Jesus" (Artechock), Chloe Zhaos in Österreich in den Kinos gezeigter Oscargewinner "Nomadland" (Presse) und Zack Snyders Zombiefilm "Army of the Dead" (SZ).
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Literatur

Eine Sammlung letzter Texte von Hermann Kant nimmt Freitag-Kritiker Christian Baron zum Anlass für ein Plädoyer, den im Politbetrieb der DDR seinerzeit fest installierten Schriftsteller wiederzuentdecken: "Sein Tempo, seine Perspektivwechsel, seine Sprachspiele haben nichts zu tun mit dem Klischee des 'sozialistischen Realismus'. In beinahe jeder Zeile dieses Autors offenbaren sich Herkunftsschmerz und Veränderungsdrang. Kants Vater wurde 1933 vom Gärtner zum Straßenfeger degradiert, weil er nicht für die Entlassung eines kommunistischen Kollegen gestimmt hatte. Dass er selbst als Arbeiterkind studieren konnte, hielt Kant für den zentralen Vorzug der DDR, die er bis zuletzt verteidigte. Widersprüche auszuhalten und verstehen zu wollen, was Andersdenkende antreibt, das kommt in den Deutungskämpfen der Gegenwart abhanden. Mit Kant lässt es sich wieder einüben." Als Funktionär der SED hielt er Widersprüche dann schon weniger aus!

Weitere Artikel: Eine Initiative will eine Straße in Srebrenica nach Peter Handke benennen, meldet Thomas Roser in der FR. Oliver Jungen spricht in der FAZ mit Rainer Osnowski, dem Leiter der Lit.Cologne, die in diesem Jahr digital stattfindet. In der Dante-Reihe der FAZ widmet sich Cecilie Hollberg der Verachtung für Filippo Argenti.

Besprochen werden unter anderem Haruki Murakamis  "Die Chroniken des Aufziehvogels" und "Erste Person Singular" (NZZ), ein Gesprächsband von Sibylle Berg und Dietmar Dath (Tagesspiegel), Teresa Präauers Essayband "Das Glück ist eine Bohne und andere Geschichten" (NZZ), neue Westerncomics (SZ), Mia Coutos "Asche und Sand" (SZ) und Rosmarie Waldrops "Pippins Tochters Taschentuch" (FAZ).

Die taz bringt außerdem ihre Literaturbeilage zum Frühling, die wir in den kommenden Tagen an dieser Stelle auswerten.
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Kunst

Auch im amerikanischen Kulturbetrieb sorgt der Nahost-Konflikt für Konvulsionen: Auf Hyperallergic berichtet Valentina Di Liscia von einer Solidaritätserklärung für die Palästinenser der Stadt Lod/Lydda. Bereits vor einer Woche kritisierte ein offener Brief prominenter Künstler und Veteraninnen wie Angela Davis Artnet zufolge die proisraelischen Stifter im Vorstand des Moma-Museums. In Monopol unterhält sich Patricia Grzonla mit der Fotografin Elfie Semotan über Mode, Fotografie und Frauenbilder. Für die FR besichtigt Stefan Brändle die Collection Pinault in der einstigen Pariser Handelsbörse.

Besprochen werden David Hockneys Schau "The Arrival of Spring" in der Royal Academy in London (deren Ipad-generierten Bilder Laura Cummings im Observer entsetzlich banal findet, FAZ), die gefeierte Spätgotik-Ausstellung in der Berliner Gemäldegalerie (SZ), eine Ausstellung des Malers und Mystikers Luigi Pericle im Masi Palazzo Reali in Lugano (NZZ).
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Musik

Das Moers-Festival fand auch in diesem Jahr in erster Linie als Livestream auf Arte statt. Trotz dieser Barriere konnte der Klangkünstler Julien Desprez FAZ-Kritiker Peter Kemper mit seinem Auftritt völlig umhauen: "Ihn als Gitarristen zu bezeichnen, wäre eine hilflose Untertreibung. Denn mit seinen sechs Saiten entlockt dieser Griffbrett-Terrorist seinem Instrument nie gehörte Klänge: Morsezeichen von einem anderen Planeten, elektronische Sirenengesänge, Geräuschlawinen, Melodiefragmente für Momente - Jimi Hendrix, Glenn Branca, Sonny Sharrock lassen grüßen! Wie ein Stepptänzer auf Speed tanzt Desprez regelrecht auf seinen Effektpedalen, von einer penibel austarierten Lichtregie begleitet."

taz-Kritiker York Schaefer fand derweil die ugandisch-englische Formation Nihiloxica ziemlich aufregend (hier der Mitschnitt): "Die uralten Rhythmen des vorkolonialen Königreichs Buganda treffen hier auf die harsch schleifenden, maschinellen Sounds dunklerer Technospielarten. Die vier Perkussionisten inklusive Sänger aus Uganda sowie ein Schlagzeuger und Keyboarder aus London zeigten, wie viel Kraft, Seele und zwingend tanzbare Energien eine Begegnung zwischen vermeintlich so konträren Kultur- und Zeiträumen erzeugen kann."

Weiteres: Im Standard spricht Ljubisa Tosic mit Matthias Naske, dem Chef des Wiener Konzerthauses, über dessen Pläne für die kommende Saison.

Besprochen werden das neue Album von Haftbefehl (FR) und weitere neue Popveröffentlichungen, darunter Alexandra Cumfes neues Album "Don't Try, Be Beautiful", für das die Musikerin internationale Waldgeräusche aufgenommen hat. Zu hören gibt es darauf laut SZ-Popkolumnist Jakob Biazza "Holz-House. Nein, Birken-Breakbeat. Jedenfalls: fein." Wir hören rein:

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